Totalitarismus

Sicherheit und Freiheit als unerreichtes Ideal

Der Soziologe Zygmunt Baumann im Gespräch mit Nana Brink im Studio des Deutschlandradio Kultur.
Der Soziologe Zygmunt Baumann im Gespräch mit Nana Brink im Studio des Deutschlandradio Kultur. © Deutschlandradio / Melanie Croyé
Der Soziologe Zygmunt Bauman im Gespräch mit Nana Brink |
Zygmunt Bauman, Soziologe und Überlebender des Holocaust, hat sich sein Leben lang mit Totalitarismus und Kontrolle beschäftigt. Die sogenannte Cyber Revolution und der unbegrenzte Zugang zum Netz, sagt er, habe leider nicht zu einer offeneren und toleranteren Gesellschaft geführt.
"Eine wirklich gute Gesellschaft ist eine, die sich selbst für nicht gut genug hält" - und stetig daran arbeite, eine bessere, mit einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit zu werden. Dieser Meinung ist der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman, ein scharfer Beobachter gesellschaftlicher Entwicklungen. Den großen Zulauf, den rechtsradikale und populistische Vereinigungen heute wieder haben, sieht Bauman in einem großen Bedürfnis nach Sicherheit und Gemeinschaft begründet.
Die Hoffnung auf mehr Offenheit und Toleranz, die sich für viele mit der sogenannten Cyber Revolution und der unbegrenzten Zugänglichkeit des Internets verband, betrachtet Bauman als gescheitert.
"Die Technik löst nicht das Problem, das wir mit der Toleranz haben. Und das ist ein Problem, da geht es manchmal um Leben und Tod in multikulturellen Gesellschaften. Weil, Toleranz bedeutet ja, ein Verständnis aufzubringen, ein gegenseitiges Verständnis aufzubringen für den anderen. Wenn man in den Dialog eintreten will, dann muss man die Meinung der Menschen und die Vielfalt der Menschen akzeptieren."
Die Erfahrungen von Totalitarismus und Kontrolle
Doch diese echte Dialog-Bereitschaft und Offenheit treffe man bei den auf das Netz, auf Tablet-PC und Smartphone fixierte Digital Natives nicht an.
Bauman, dessen jüdische Familie den Holocaust nur durch rechtzeitige Emigration in die Sowjetunion überlebte, hat sich sein Leben lang mit Totalitarismus, Kontrolle und dem fragilen Gleichgewicht zwischen Freiheit und Sicherheit beschäftigt. Und eben nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch weil er alles mehrfach am eigenen Leib erfahren hat: Bauman wurde 1925 als Sohn einer jüdischen Familien in Posen geboren. Nach seiner Rückkehr nach Polen begeisterte er sich für den Kommunismus, machte Karriere im militärischen Korps der polnischen Staatssicherheit, wurde Professor für Soziologie an der Universität Warschau. Er verlor diese Stelle 1968 aus politischen Gründen, sagte sich von der "Partei" los und ging nach Israel, das er aber bald wieder verließ, weil er die der Palästinenser-Politik der Regierung ablehnte.
1971 erhielt Bauman einen Ruf auf den Lehrstuhl für Soziologie an der University of Leeds, den er bis 1990 inne hatte. Er ist Verfasser vieler einschlägiger Werke, unter anderen der "Dialektik der Ordnung: Die Moderne und der Holocaust".


Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Zygmunt Bauman bei uns in "Studio 9", wir freuen uns, guten Morgen!
Zygmunt Bauman: Guten Morgen!
Brink: Sie waren 19, als der Zweite Weltkrieg endete, hatten gegen die Deutschen gekämpft, erst Jahrzehnte später haben Sie sich mit dem Holocaust wissenschaftlich beschäftigt, ihn nicht als Sonderfall bezeichnet, sondern als Gefahr jeder modernen Gesellschaft. Was haben Sie im Mai 1945 gedacht: Gott sei Dank, es ist vorbei und kommt nie wieder?
Baumann: Ich war 19 Jahre alt, wie Sie gesagt haben, und ich war wirklich noch sehr jung. Und ich war ins Exil gegangen, nach Sowjetrussland, ich hatte dort mein Leben gerettet, als die Nazis einmarschiert sind in Polen. Und dann kam ich plötzlich zurück nach Hause, nach Polen. Aber dieses Zuhause war zerstört, Polen lag in Ruinen. Und während es diesem Land nicht besonders gut ging, schon vor dem Krieg, lag es dann nach dem Zweiten Weltkrieg völlig am Boden. Und das war eine sehr große Herausforderung für mich. Man wollte die Gesellschaft neu aufbauen, man wollte eine bessere Gesellschaft erringen. Polen vor dem Zweiten Weltkrieg war – wie viele Länder im Übrigen – ein Land, das geplagt worden war von Arbeitslosigkeit, in der es ein sehr niedriges Lebensniveau gab. Und in meiner Zeit in Sowjetrussland wollte ich ursprünglich eigentlich Astronom werden, dachte mir dann aber:
Die schwarzen Löcher können ja noch ruhig ein wenig warten, jetzt bin ich hier in Polen und ich möchte etwas anpacken! Ich war damals Kommunist. Ich fand, die Kommunisten hatten das beste Programm, sie wollten den Bauern Land geben, sie wollten die Fabriken an die Arbeiter geben. Und nun wissen wir natürlich heute, dass das Nazis-System und das kommunistische System, dass das zwei totalitäre Systeme sind. Allerdings muss man sagen, die Nazis waren nicht scheinheilig, die haben nicht gelogen, wer Nazi war, wusste eigentlich, was er dort tat; bei den Kommunisten war das etwas anderes. Sie hatten sehr schöne Worte, sie hatten sehr schöne Slogans wie "Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit". Aber in der Praxis sah das dann ganz anders aus. Und das führte natürlich bei mir dann zu einer großen Enttäuschung, ich habe die Partei verlassen. Und Sie wissen ja, was danach geschah.
Vielfalt der Erlebnisse
Brink: Im Laufe Ihres Lebens waren Sie ja noch zweimal gezwungen, ein Land zu verlassen: Polen wegen der antisemitischen Strömungen – Sie haben es erzählt – und Israel wegen der Behandlung der Palästinenser. Wie sehr hat das Ihre wissenschaftliche Arbeit geprägt?
Baumann: Ehrlich gesagt, ich bin nicht so gut darin, mich selbst zu analysieren und selber zu beschreiben, warum ich gewisse Entscheidungen getroffen habe. Wie es Lévi-Strauss einmal gesagt hat, der französische Philosoph: Ich dachte nicht darüber nach, aber meine Gedanken dachten für mich. Also, es ist ein Prozess. Es ist die Vielfalt der Erlebnisse, die mich beeinflusst hat. Und mir war es immer wichtig, konsequent zu bleiben.
Brink: Sie haben es ja am eigenen Leib erfahren: Haben moderne Gesellschaften dieses Potenzial in sich, alles Ungeliebte zu eliminieren?
Baumann: Das ist natürlich eine sehr interessante Frage, weil die Konsequenzen aus der Cyber Revolution, also aus der ganzen Revolution, seitdem es Computer gibt ... Wir hatten ja andere Erwartungen. Man dachte ja eigentlich, dass sich die Horizonte öffnen, dass die Menschen toleranter werden, interessierter werden auch an den anderen. Und ehrlich gesagt, muss man sagen, eigentlich die Mehrheit der Computerbenutzer, also der sogenannten User macht genau das Gegenteil! Wenn sie offline sind, wenn sie nicht an ihrem geliebten Computer sitzen können, dann müssen sie ja zur Arbeit gehen, sie müssen die Kinder zur Schule bringen, sie müssen mit Arbeitskollegen klarkommen und sie müssen sich mit Menschen auseinandersetzen, die anders denken, die anders ticken, die andere Ideen haben, auch Ideen, die vielleicht hasserfüllt sind. Und wer online ist, der leistet sich einfach den Luxus, sich abzuschotten.
Und das ist auch ein Grund, warum niemand das Haus ohne sein iPhone verlässt, um immer wieder die Möglichkeit zu haben, sich vom realen Leben, von realen Orten abzuschotten. Aber die Technik löst nicht das Problem, was wir mit der Toleranz haben. Und das ist ein Problem, da geht es manchmal um Leben und Tod in multikulturellen Gesellschaften. Weil, Toleranz bedeutet ja, ein Verständnis aufzubringen, ein gegenseitiges Verständnis aufzubringen für den anderen. Wenn man in den Dialog eintreten will, dann muss man die Meinung der Menschen und die Vielfalt der Menschen akzeptieren.
Konflikt zwischen Sicherheit und Freiheit
Brink: Toleranz ist ein großes Thema, das andere große Thema von Ihnen ist ja Kontrolle. Wir leben in einer digitalen Welt, in der uns immer wieder die Frage nach der Kontrolle beschäftigt. Momentan ganz aktuell in Deutschland mit dem BND-Skandal. Nehmen wir zu schnell in Kauf, dass mehr Sicherheit vielleicht auch mehr Kontrolle heißt?
Baumann: Es handelt sich ja letztlich um eine noch viel umfangreichere Frage: den Konflikt zwischen der Sicherheit und der Freiheit. Sigmund Freud hat ja bereits geschrieben, dass es zwei ganz wichtige Faktoren gibt, die lebensnotwendig sind für eine Zivilisation: das eine ist Sicherheit und das andere ist Freiheit. Und eine Freiheit ohne Sicherheit endet im Chaos. Es ist nur so, dass viele Leute, die ein Bedürfnis nach Freiheit haben, unglücklich sind, wenn sie zu viel Freiheit abgegeben haben, um dadurch mehr Sicherheit zu erlangen. Die neoliberale Revolution hat das letztendlich sehr sichtbar gemacht. Letztendlich ist dieses Pendel zwischen individueller Freiheit und Sicherheit ein Pendel, was nie perfekt ausschlagen kann, es wird niemals ein perfektes Gleichgewicht zwischen beiden geben. Manchmal hat man zu wenig Freiheit, manchmal hat man zu wenig Sicherheit. Mittlerweile kamen dann einige zu der Ansicht, dass der Wohlfahrtsstaat etwas Überholtes ist, weil sich der Staat viel zu sehr in die Belange des Menschen einmischt, man also sozusagen individuelle Freiheiten aufgibt.
Es bestand eben ein Bedürfnis nach mehr individuellen Freiheiten. Damit wiederum sind aber auch wieder ganz viele Menschen überhaupt nicht klargekommen, die ein größeres Bedürfnis nach Sicherheit haben. Das erklärt diese populistischen Bewegungen, die es zurzeit gibt. Populistische rechtsradikale Bewegungen, das Wort Gemeinschaft, das Wort Volk wird plötzlich wieder sehr strapaziert und die bösen Fremden sind diejenigen, die sozusagen unsere Sicherheit unterminieren. In der Praxis ist es wirklich so, dass individuelle Freiheit auch immer problematisch ist. Wenn wir mit unserem iPhone unterwegs sind, wenn wir Kreditkarten benutzen, wenn wir etwas twittern, wird alles, was wir tun, registriert, das wird alles aufgenommen, aufgezeichnet. Wir selber vergessen ja einiges, aber ein Server vergisst überhaupt nichts. Und wir haben selber jetzt etwas kreiert, was ganz anders ist als in früheren Sicherheitssystemen, mit dieser sogenannten Do-it-yourself-Mentalität, und das ist eine Tendenz, die sehr, sehr ambivalent ist. Und das Pendel kann sozusagen in beide Richtungen ausschlagen, man weiß noch nicht, in welche.
Es gibt keine perfekte Lösung
Brink: Wenn Sie jetzt noch mal 70 Jahre zurückblicken mit all Ihrer Erfahrung, wohin wird dieses Pendel ausschlagen, das Sie benannt haben? Mehr Sicherheit oder mehr Freiheit oder mehr Kontrolle?
Baumann: Für mich ist es wirklich ein Pendel, das ausschlägt. Und als Soziologe, und ich bin damit bestraft worden, ein unverschämt langes Leben zu haben, also, ich hatte 70 Jahre Zeit, Gesellschaften zu studieren. Nicht nur die, die ich kannte, in denen ich gelebt hatte, sondern ich habe mich auch mit Historikern, Anthropologen auseinandergesetzt. Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es die perfekte Gesellschaft eben nicht gibt. Menschen versuchen es immer, sie versuchen natürlich, die Gesellschaft perfekter zu machen, dieses Gleichgewicht zwischen Sicherheit und Freiheit zu finden. Aber es gibt eben keine perfekte Lösung.
Mit 19 Jahren, da glaubte ich an die gute Gesellschaft, da glaubte ich, dass es eine richtige Gesellschaftsordnung gibt, und ich dachte, das einzige Problem ist, man müsse sie nur noch durchsetzen. Mittlerweile glaube ich das natürlich nicht mehr, dass es die richtige Gesellschaftsordnung oder die gute Gesellschaft gibt. Und deswegen sage ich: Die wirklich gute Gesellschaftsordnung ist die, die sich für nicht gut genug hält.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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