Tote lügen nicht
Er gilt als Deutschlands berühmtester Rechtmediziner: Michael Tsokos, Leiter der Rechtmedizin an der Berliner Charite. Über 10.000 Leichen hat er schon begutachtet und identifiziert. Dass seine Arbeit anders als im Fernsehkrimi aussieht, hat er jetzt in dem Buch "Dem Tod auf der Spur. Zwölf spektakuläre Fälle aus der Rechtsmedizin" beschrieben.
Jeden Tag steht er dem Tod gegenüber. Im Sektionssaal der Gerichtsmedizin untersucht der Mediziner Michael Tsokos Leichen, um herauszufinden woran die Menschen vor ihm gestorben sind. War es Mord, Suizid oder ein Unfall? Mehr als 10.000 Fälle hat der Rechtmediziner gesehen, zwölf davon hat er nun ausführlich beschrieben. Ein spannendes Sachbuch, das den realen Alltag in der Wissenschaft beschreibt und mit vielen Klischees über die Rechtsmedizin aufräumt. "Nichts ist spannender als die Wirklichkeit", kommentiert der Bestseller-Autor Frank Schätzing das Buch. Recht hat er, spannend ist das Buch, und wer nicht sehr empfindlich und neugierig darauf ist, was alles in den Fernsehkrimis nicht stimmt, für den wird die Lektüre zum Erlebnis.
Rechtsmediziner arbeiten nicht allein bei gedämmter Beleuchtung, sie essen keine Käsebrötchen neben der Leiche oder rauchen Zigarillos. An jeder Obduktion sind fünf bis sechs Personen beteiligt, der Sektionssaal ist hell erleuchtet und meist werden mehrere Obduktionen nebeneinander durchgeführt. Laut ist es in der Rechtsmedizin, erzählt Michael Tsokos, denn an mehreren Tischen wird oft gleichzeitig mit Säge und Bohrer gearbeitet. Das ist der Fall, wenn Schädeldecke und Brustkorb geöffnet werden, was bei jeder rechtsmedizinischen Leichenuntersuchung Standard ist. Denn im Gehirn und den inneren Organen der Verstorbenen finden sich die Antworten auf die Todesursache.
Welche Partikel der Verstorbene kurz vor seinem Ableben eingeamtet hat interessiert den Rechtsmediziner, weil er daraus ableiten kann, ob die Person tatsächlich am Fundort oder woanders zu Tode kommen ist. Wer kein Wasser in der Lunge hat, aber im See aufgefunden wird, ist sicher nicht ertrunken. Ähnliches gilt für Brandopfer, finden sich in ihren Atemwegen keine Rauchspuren, muss sie jemand tot ins Feuer gelegt haben. Vielleicht um Spuren zu verwischen? Oder war es eine unglückliche Verkettung von Unfällen? Der Rechtsmediziner ist ein bisschen ein Medizinkommissar, auch wenn die Ermittlungen natürlich die Kriminalbeamten durchführen. Echte Rechtsmediziner werden – wie man das auch aus Fernsehkrimis kennt – gelegentlich an den Tatort gerufen, doch eigenständige Ermittlungen unternehmen sie nicht.
Übrigens: Mord begegnet den Rechtsmedizinern nur in drei von zehn Fällen. Viel häufiger sind Suizide und Unfälle. Die zwölf beschriebenen Fälle im Buch sind dementsprechend ausgewählt. Das Spektakuläre an ihnen ist nicht die Todesart, sondern der Blick, den sie auf das menschliche Leben gewähren. Verzweiflung, Angst und Depression sind häufige Faktoren, die dem Rechtsmediziner Arbeit verschaffen. Menschen, die sich das Leben nehmen wollen und dazu gleich mehrere Tötungsmethoden wählen, um absolut sicher zu gehen, geben der Rechtsmedizin oft komplizierte Fragen auf.
Ein Beispiel: Zuerst versucht ein Mann sich selber auszubluten, als ihm dies nicht gelingt, bindet er sich ein Drahtseil um den Hals, befestigt es an einem Baum und setzt sich in sein Auto. Die Polizei findet eine geköpfte Leiche, der Kopf liegt auf dem Rücksitz, und vermutet als Erstes eine grausame Hinrichtung.
Michael Tsokos baut die Fälle unterschiedlich auf, mal erzählt er das Resultat schon zu Beginn des Kapitels, um die Aufmerksamkeit auf interessante Details der Untersuchung zu legen. Ein anderes Mal fiebert der Leser bis zum Ende des Kapitels mit, bis endlich klar wird, wie der Mensch gestorben ist.
Wie sich mancher Fall – trotz aller Professionalität – persönlich auswirkt, auch darüber schreibt Michael Tsokos. Zwar sind ihm Objektivität und Wissenschaftlichkeit oberstes Gesetz, doch es gibt eben auch Momente, die den Rechtsmediziner in Grenzbereiche bringen. Ein solcher Fall ist die tragische Geschichte der kleinen Jessica. Ihre Eltern sperrten sie jahrelang in einen dunklen Raum und ließen sie verhungern. Die Leiche des siebenjährigen Kindes landet auf dem Obduktionstisch des Mediziners. Er soll die Ursache des Todes für die Gerichtsverhandlung genau rekonstruieren. Das Kind ist so abgemagert, schreibt der Rechtsmediziner Tsokos, dass es nur vergleichbare Berichte aus dem Warschauer Ghetto gibt, die er als Referenz heranziehen kann.
Michael Tsokos hat in seiner beruflichen Laufbahn mit Sicherheit mehr Leid und Grausamkeit gesehen als 99 Prozent der Bevölkerung. Er hat gelernt damit umzugehen, um den Verstorbenen und den Hinterbliebenen zu helfen. Mortui vivos docent – die Toten lehren die Lebenden.
Rezensiert von Susanne Nessler
Michael Tsokos: Dem Tod auf der Spur. Zwölf spektakuläre Fälle aus der Rechtsmedizin
Ullstein Verlag 2009
240 Seiten, 8,95 Euro
Rechtsmediziner arbeiten nicht allein bei gedämmter Beleuchtung, sie essen keine Käsebrötchen neben der Leiche oder rauchen Zigarillos. An jeder Obduktion sind fünf bis sechs Personen beteiligt, der Sektionssaal ist hell erleuchtet und meist werden mehrere Obduktionen nebeneinander durchgeführt. Laut ist es in der Rechtsmedizin, erzählt Michael Tsokos, denn an mehreren Tischen wird oft gleichzeitig mit Säge und Bohrer gearbeitet. Das ist der Fall, wenn Schädeldecke und Brustkorb geöffnet werden, was bei jeder rechtsmedizinischen Leichenuntersuchung Standard ist. Denn im Gehirn und den inneren Organen der Verstorbenen finden sich die Antworten auf die Todesursache.
Welche Partikel der Verstorbene kurz vor seinem Ableben eingeamtet hat interessiert den Rechtsmediziner, weil er daraus ableiten kann, ob die Person tatsächlich am Fundort oder woanders zu Tode kommen ist. Wer kein Wasser in der Lunge hat, aber im See aufgefunden wird, ist sicher nicht ertrunken. Ähnliches gilt für Brandopfer, finden sich in ihren Atemwegen keine Rauchspuren, muss sie jemand tot ins Feuer gelegt haben. Vielleicht um Spuren zu verwischen? Oder war es eine unglückliche Verkettung von Unfällen? Der Rechtsmediziner ist ein bisschen ein Medizinkommissar, auch wenn die Ermittlungen natürlich die Kriminalbeamten durchführen. Echte Rechtsmediziner werden – wie man das auch aus Fernsehkrimis kennt – gelegentlich an den Tatort gerufen, doch eigenständige Ermittlungen unternehmen sie nicht.
Übrigens: Mord begegnet den Rechtsmedizinern nur in drei von zehn Fällen. Viel häufiger sind Suizide und Unfälle. Die zwölf beschriebenen Fälle im Buch sind dementsprechend ausgewählt. Das Spektakuläre an ihnen ist nicht die Todesart, sondern der Blick, den sie auf das menschliche Leben gewähren. Verzweiflung, Angst und Depression sind häufige Faktoren, die dem Rechtsmediziner Arbeit verschaffen. Menschen, die sich das Leben nehmen wollen und dazu gleich mehrere Tötungsmethoden wählen, um absolut sicher zu gehen, geben der Rechtsmedizin oft komplizierte Fragen auf.
Ein Beispiel: Zuerst versucht ein Mann sich selber auszubluten, als ihm dies nicht gelingt, bindet er sich ein Drahtseil um den Hals, befestigt es an einem Baum und setzt sich in sein Auto. Die Polizei findet eine geköpfte Leiche, der Kopf liegt auf dem Rücksitz, und vermutet als Erstes eine grausame Hinrichtung.
Michael Tsokos baut die Fälle unterschiedlich auf, mal erzählt er das Resultat schon zu Beginn des Kapitels, um die Aufmerksamkeit auf interessante Details der Untersuchung zu legen. Ein anderes Mal fiebert der Leser bis zum Ende des Kapitels mit, bis endlich klar wird, wie der Mensch gestorben ist.
Wie sich mancher Fall – trotz aller Professionalität – persönlich auswirkt, auch darüber schreibt Michael Tsokos. Zwar sind ihm Objektivität und Wissenschaftlichkeit oberstes Gesetz, doch es gibt eben auch Momente, die den Rechtsmediziner in Grenzbereiche bringen. Ein solcher Fall ist die tragische Geschichte der kleinen Jessica. Ihre Eltern sperrten sie jahrelang in einen dunklen Raum und ließen sie verhungern. Die Leiche des siebenjährigen Kindes landet auf dem Obduktionstisch des Mediziners. Er soll die Ursache des Todes für die Gerichtsverhandlung genau rekonstruieren. Das Kind ist so abgemagert, schreibt der Rechtsmediziner Tsokos, dass es nur vergleichbare Berichte aus dem Warschauer Ghetto gibt, die er als Referenz heranziehen kann.
Michael Tsokos hat in seiner beruflichen Laufbahn mit Sicherheit mehr Leid und Grausamkeit gesehen als 99 Prozent der Bevölkerung. Er hat gelernt damit umzugehen, um den Verstorbenen und den Hinterbliebenen zu helfen. Mortui vivos docent – die Toten lehren die Lebenden.
Rezensiert von Susanne Nessler
Michael Tsokos: Dem Tod auf der Spur. Zwölf spektakuläre Fälle aus der Rechtsmedizin
Ullstein Verlag 2009
240 Seiten, 8,95 Euro