Saison ist immer – auch am Meer
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Die Ferienorte in Schleswig-Holstein werden auch im Winter immer beliebter. Unterkünfte sind neu entstanden und modernisiert worden. Es wird mehr Programm angeboten. Was aber bedeutet das für die Einwohner?
Es ist Freitagmittag und in Heiligenhafen bläst ordentlich der Wind. Aber immerhin scheint endlich auch mal wieder die Sonne. Beste Bedingungen also für einen Spaziergang findet Familie Dolle und macht sich auf mit Hund Dotti in Richtung Strand.
"Wir sind extra gekommen, weil nicht viel los ist. Der Strand ist schön leer, wir können mit dem Hund spazieren gehen, ist noch Saison für Hunde. Man darf ja leider nur bis zum 31.3. an den Strand mit dem Hund und dann ist es wieder vorbei. Das heißt, wir sind so ein bisschen gezwungen auf die Zeit."
Seit 30 Jahren reist das Ehepaar aus Duisburg regelmäßig für den Urlaub an die Schleswig-Holsteinische Ostseeküste. Viele frühere Aufenthalte im Winter haben sie als eher verschlafen in Erinnerung. Was die Stimmung in den Orten anging, aber auch die Ausstattung mancher Unterkunft.
"Die Ferienwohnungen waren nicht so schön eingerichtet. Und ich würde sagen, außerhalb der Saison war man nicht unbedingt so gern gesehen oder es wurde kein Programm geliefert zu dieser Jahreszeit."
Viel renoviert und neu gebaut
In Sichtweite erhebt sich wie ein gigantisches Mahnmal aus vergangenen Zeiten der "Ferienpark". Die vor mehr als 50 Jahren hochgezogene Anlage sieht von weitem aus wie eine Plattenbau-Hochhaussiedlung am Rande einer deutschen Großstadt. Der Gebäudekomplex mit seinen fast 1.700 Wohnungen katapultierte den Fischerort Heiligenhafen nahe der Ostseeinsel Fehmarn mitten hinein in den Massentourismus.
In den Wintermonaten blieb es allerdings lange Zeit nicht nur im ostholsteinischen Heiligenhafen sehr still. Auch an anderen Küstenorten war nichts los. Das hat sich geändert. Was damit zusammenhängt, dass seit Jahren vielerorts kräftig renoviert oder neu gebaut wird.
In Heiligenhafen wurde vor einigen Jahren eine neue Seebrücke eingeweiht. Direkt davor eröffnete wenig später am Strand das "Beach Motel". Die Anlage besteht vor allem aus vielen dreistöckigen Holzgebäuden.
Gut besucht zu jeder Jahreszeit
Die hellgrauen Hotelgebäude mit den weißen Balkonen wirken sehr amerikanisch. Womöglich ließe sich hier eine Neuauflage der "Truman Show" ganz gut drehen. Doch das Beach-Motel scheint einen Nerv zu treffen. Auch jetzt Ende Februar brummt der Laden, wie sich im Frühstücksbereich zeigt.
"Weil wir eben jetzt auch viele Gäste haben, die mal kurz raus wollen und mal schnell die Nähe zum Wasser suchen und uns dann auch mal besuchen für einen Spontantrip. Sei es für eine Nacht oder zwei. Vielleicht mit Familie, mit junger Familie. Deswegen ist es bei uns auch relativ gut besucht, egal zu welcher Jahreszeit."
Die Direktorin des Beach-Motels heißt Alexandra Rojas. Doch sie stellt sich einfach nur mit Alex vor. Das Duzen gehört in der Anlage zum Konzept.
"Das ist einfach etwas, was von Anfang an zu uns gehört. Es ist ein einfacher Weg, um dem Gast auch relativ früh zu zeigen: Hier kann ich locker sein. Das ist hier nicht – ich sag mal – steif, sondern ich kann so sein, wie ich bin. Kann mich hier so ein bisschen wie unter Freunden bewegen. Wir duzen den Gast und man hat relativ schnell auch eine Brücke aufgebaut."
Urlaub häufiger und kürzer
Gleich nebenan steht die sogenannte "Bretterbude", die ebenfalls zum selben Unternehmen gehört. Die Zimmer sind dort kleiner und günstiger, im Keller gibt es eine kleine Skaterrampe. Mit den nackten Betonwänden und den vielen Aufklebern auf den Eisentüren erinnert die Bretterbude eher an einen Jugendclub oder an eine Disco. Alles gewollt, sagt Rojas, hier sollen sich vor allem Surfer und Skater wohlfühlen.
Das Beach-Motel in Heiligenhafen mit seinen 115 Zimmern und Suiten "läuft". In den Sommermonaten seien sie nahezu ausgebucht. Doch selbst im Winter würde die Auslastung nicht unter 60 Prozent sinken, sagt Direktorin Rojas. Gerade in dieser Zeit sei der Wellness-Bereich sehr gefragt. Veranstaltungen gibt es das ganze Jahr über.
"Das heißt, wir haben Livemusik bei uns im Haus. Oder auch drüben in der Bretterbude. Wir haben in allen Häusern so einen bunten Event-Plan, dass es immer wieder Aktionen gibt, die wir für den Gast oder für den Ort durchführen. Das kann mal draußen stattfinden im Sinne von Beach-Cleanup, wo wir dann einfach mit Freiwilligen draußen am Strand langlaufen und schauen, dass wir den Müll einsammeln."
Die wachsende Zahl von Wintergästen in Schleswig-Holstein zeige, wie sich das Reiseverhalten der Deutschen verändert habe, sagt Anne Köchling, Referentin für Forschungsvorhaben am Institut für Management und Tourismus der Fachhochschule Westküste in Heide. Viele Urlauber würden gerne häufiger und dafür kürzer wegfahren. Die Reisen seien mehr über das Jahr verteilt, sagt Köchling.
"Und dazu kommen dann sicherlich Trends wie Entschleunigung oder dass man eben auch authentische Urlaubserlebnisse erleben möchte. Und da kann natürlich die Nordsee und Ostsee mit dem rauen Küstenklima im Winter vielleicht auch bei Einigen punkten."
Investitionen in Infrastruktur und Qualität
In den 90er-Jahren seien nur acht Prozent aller jährlichen Übernachtungsgäste in den Wintermonaten gekommen. Inzwischen seien es immerhin elf Prozent. Mit 44 Prozent aller Übernachtungen bleiben jedoch die Sommermonate das klare Zugpferd der Branche.
"Natürlich hat der Schleswig-Holstein-Tourismus da in den letzten zehn Jahren aufgeholt, da ist sehr viel investiert worden in Infrastruktur, in Qualität mit verschiedenen Qualitätsinitiativen und so weiter. Und das zahlt sich sicherlich auch aus. Es ist sicherlich beides. Und natürlich kam in den 90er-Jahren auch die Konkurrenz durch Mecklenburg-Vorpommern dazu. Und da musste man auch einfach mehr Gas geben und ist da aufgewacht. Und da ist entsprechend einfach in den letzten Jahren auch sehr viel passiert."
Für das industriearme Schleswig-Holstein ist der Tourismus schon lange ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Das Sparkassen-Tourimusbarometer Schleswig-Holstein von 2018 nennt Zahlen: 9,5 Milliarden Euro Bruttoumsatz, rund 170.000 Jobs und ein Beitrag von 5,9 Prozent zum Bruttosozialprodukt des Bundeslandes.
Zu glatt, zu aufgeräumt
Auch in St. Peter Ording ist der Wandel zu spüren. Selbst das feinste norddeutsche "Schietwetter" hält Dutzende Touristen an diesem Sonntagmittag nicht von einem Spaziergang auf dem regen- und sturmumtosten Deich ab. In der Ferne brodelt die Nordsee, davor erheben sich auf dem Strand die berühmten Pfahlbauten.
Rüdiger Fischer wohnt in Bayern und reist alle zwei Jahre in die Region. Im Sommer würde er hier keinen Fuß hinsetzen, doch im November oder Februar ist er gerne in St. Peter Ording.
"Weil das Wetter mir gefällt", sagt er. "Die Luft ist dann fantastisch, ist gut, es sind nicht so viele Menschen hier, und das hat einen unheimlichen Erholungswert." Doch der zunehmende Modernisierungskurs bedroht aus Fischers Sicht den schrulligen Charme, der St. Peter-Ording ausmache: "Es ist mir zu glatt manchmal irgendwie. Zu aufgeräumt."
Seit Jahren sorgen in dem 4.000-Einwohner-Ort die Pläne für Streit, ein neues Hotel in den Dünen hochzuziehen: Die einen sehen es als weitere wirtschaftliche Chance, die anderen finden, es passe nicht hierher.
Rüdiger Fischer und seine kleine bayrische Besuchsdelegation kennen solche Diskussionen aus der Heimat am Tegernsee. Fast drei Viertel der Menschen lebten dort vom Tourismus, meint Christoph Bichler:
"Ich glaube, dass die Leute immer maßloser und egoistischer werden."
Hohe Auslastung auch im Winter
"Die Hotels, die müssen natürlich auch, weil immer mehr Luxus verlangt wird, Wellness, Spa und was nicht alles. Und das ist natürlich dann natürlich auch ein Fluch."
Ein paar hundert Meter hinter dem Deich sitzt im Ortsteil Bad Ronny Stepken am Wohnzimmertisch.
"Im Winter war es früher so, man konnte davon ausgehen, Ende September, vielleicht noch ein paar Tage in den Oktober rein – und dann war hier Schicht. Dann gab es den Spruch, da konnte man sich in Bad auf die Straße legen, man wurde nicht vom Auto überfahren!"
Doch diese Zeiten sind längst vorbei. Nicht nur Hotelbetreiber haben in den dunklen Wintermonaten deutlich mehr zu tun. Auch ein Bed & Breakfast-Betreiber wie Stepken. Zwei Zimmer bietet er an. In der Hauptsaison ist die Unterkunft über Monate ausgebucht. Auch jetzt im Winter kommt Stepken auf eine Auslastung von etwa 70 Prozent. Ein sensationeller Wert, wenn man an die früheren Zeiten ohne Buchungsportale im Internet denkt, die Ronny Stepken heute fleißig nutzt.
"Früher gab’s halt die Tourismuszentrale, da stand man im Gastgeberverzeichnis drin. Eventuell hat man noch selbst Inserate geschaltet."
Verlorene Schönheit
Doch das Geschäft ist das eine. Die Stimmung in St. Peter-Ording das andere, weiß auch Stepkens Mutter Waltraut Grauer, die mit dem Sohn zusammen das B&B anbietet.
"Urig. Es war urig. Einfach urig! Wenn man über die Straße ging, man kannte alle Leute und grüßte sich. Und heute kennt man gar keinen! Ist wirklich wahr!"
Sind Sie da nostalgisch, also trauern Sie dieser Zeit hinterher?
"Ich finde ja. Die Schönheit ist verloren gegangen. Die natürliche Schönheit, das ist doch alles nur noch Tourismus in höchstem Maße. Und so ganz gefällt mir das nicht. St. Peter-Ording; das schöne St. Peter-Ording werden wir nie wieder kriegen."
Ihr Sohn Ronny Stepken sieht es pragmatischer. Der Markt sei gewachsen und er und seine Mutter hätten mit dem B&B eine Nische gefunden, die zunächst nur als Hobby begonnen hätte. Der 52-Jährige meint, dass auch die Anwohner von den gestiegenen Ansprüchen in manchen Restaurants profitierten. Und es gebe Gastgeber, die ihre Rolle überdacht hätten.
"Es gibt Vermieter, die haben gesagt: Es ist doch 20 Jahre so gelaufen. Man hatte früher auch so ein bisschen das Gefühl dass den Gastgebern hier – oder zumindest einigen – die Gäste eigentlich lästig sind. Dass die am besten nur das Geld überweisen und dann schon gar nicht mehr kommen sollen. Und das hat sich geändert, das können sie halt nicht machen, und das merken die Gäste auch."
An der Kapazitätsgrenze
Doch Sorgen machen ihm nicht nur größere Projekte wie das geplante Dünen-Hotel. Sondern auch der Wildwuchs von Ferienwohnungen in der Umgebung, deren Eigentümer weit entfernt wohnen. Auch Sven Harder verfolgt diese Entwicklungen.
"Wenn man in so einem Ort lebt, lebt man vom Tourismus. Da darf man das nicht Remmidemmi nennen."
Harder betreibt in St. Peter Ording eine Strandsegelschule. Die Bedingungen auf dem weitläufigen harten Sandstreifen sind dafür ideal. Bis zu 120 Kilometer schnell können die mit Segel ausgestatteten Dreiräder beschleunigen, sagt Harder. Heute ist es dafür aber zu stürmisch und zu regnerisch. Doch ansonsten seien auch die Wintermonate schon lange Betriebszeit und die Nachfrage steige stetig.
"Wenn wir könnten, könnten wir sieben Tage die Woche 24 Stunden am Tag Strandsegeln machen."
Auch Sven Harder sieht manche Entwicklung im Tourismus kritisch und glaubt, dass der Ort allmählich an seine Kapazitätsgrenzen stößt. Andererseits hält er als Unternehmer auch fest:
"Ich habe 20 Jahre knapp im Ausland gelebt, auch vom Tourismus gelebt. Da hatten wir eine ganz strenge Saison, sechs Monate. Und da musste man wirklich in sechs Monaten sehr hart arbeiten, um den Umsatz zu machen, damit man halt die anderen sechs Monate, wo kein Einkommen gemacht wird, überleben kann. Und je länger eine Saison ist, umso entspannter kann man natürlich durch das Jahr gehen, auf alle Fälle."
Einmalige Lage für Tourismus
Insgesamt sei die Akzeptanz der Bevölkerung für den Tourismus in Schleswig-Holstein relativ hoch, sagt Anne Köchling von der Fachhochschule Westküste in Heide. Die Gefahr, dass das sommerliche Halligalli bald auch in die Wintersaison einzieht, sieht sie aktuell nicht.
"Weil ich denke, dass es zurzeit einfach wirklich weit davon entfernt ist, in den Wintermonaten wie in der Hauptsaison."
Zurück nach Heiligenhafen in Ostholstein. Auf dem Marktplatz steht Architekt Niko Rickert. Er ist in der Nähe von Heiligenhafen aufgewachsen. Hat er damals die Ruhe im Winter genossen?
"Als junger Mensch? Beantwortet sich, glaube ich, von selbst."
Die Lage der 10.000-Einwohner-Stadt direkt an der Ostsee sei einmalig und prädestiniere Heiligenhafen nicht nur für die Fischerei, sondern auch für den Tourismus. Anders als in vielen Urlaubshochburgen lebten hier noch viele Menschen ganzjährig, der Stadtorganismus funktioniere, sagt Rickert.
Doch die Bedürfnisse der Urlaubsgäste und der Heiligenhafener würden zu schlecht ausbalanciert, sagt Rickert, der als FDP-Mitglied auch in der Ratsversammlung sitzt. Wie ein UFO stehe das Beach Motel am Rande der Stadt, auch die neue Seebrücke und andere touristische Infrastrukturen seien außerhalb des Zentrums errichtet worden.
Mehr Kultur für Heiligenhafen
"Hier auf dem Marktplatz müsste eigentlich ganz viel Gastronomie sein. Hier hat man eins, zwei … Und sonst ist hier eine Bank, noch eine Bank und ein Reisebüro und eine Apotheke, die leer steht oder hier, irgend so ein Immobilienmakler, der leersteht. Das gehört eigentlich nicht auf den Marktplatz sowas, das gehört eigentlich eher in die zweite Reihe.
Und hier gehören frequenztreibende Gewerbeeinheiten her, die auch gerne mit dem Tourismus was zu tun haben sollen. Und Heiligenhafen müsste eigentlich dafür, dass es so viel investiert hat in den Überjahrestourismus, müsste hier eigentlich auch mehr passieren, auch kulturell mehr passieren."
Rickert führt durch die Altstadt, wo es keine Hotels im US-Stil gibt. Vorbei geht es am Hafen, in dem die Zahl der Fischer immer kleiner wird. Ein paar hundert Meter entfernt wird gerade gebaut, dort will eine berühmte Sylter Kette in Kürze ein neues Fisch-Restaurant eröffnen. Wieder nur Mainstream, seufzt Rickert. Etwas ratlos schaut er über den riesigen Yachthafen, der jetzt im Winter freilich leer ist. Der gesamten Stadt würde eine Pause gut tun, glaubt er.
"Wo man sagen würde: Jetzt lassen wir es mal ein bisschen sacken und schauen, wo wir hinkommen überhaupt. Und lass uns mal das, was wir gebaut haben, im Hinterhof und das Ganze irgendwie bespielen. Es muss ja irgendwie bespielt werden. Es gibt so eine Art Skelett, was wir geschaffen haben und der ganze Organismus muss funktionieren, zum Leben kommen, da muss Qualität rein, das ist ja noch mal so der nächste Schritt von dem, was man baulich geschaffen hat. Und dann das mit Leben, mit nachhaltigem Leben zu füllen."
Auf der Rückfahrt nach Kiel noch ein kurzer Zwischenstopp für einen Kaffee in Hohwacht. Der 1000-Einwohner-Ort liegt direkt an der Ostsee. Doch die Suche nach einem Café gestaltet sich als schwer, Hohwacht wirkt beim Besuch Ende Februar wie eine Geisterstadt. Unweit des Hafens werden gerade ein paar Neubauten hochgezogen, ansonsten überwiegt der Charme des etwas verstaubten Ostseebads.
Der Strand ist menschenleer und gehört nun dem müden aber zufriedenen Radioreporter ganz alleine. Im Restaurant Bella Vista hängt ein paar Schritte weiter ein Zettel. Bis Mitte März sei der Laden geschlossen. Doch man wünsche allen Gästen ein gutes und gesundes neues Jahr.