Gentrifizierung an der Ostseeküste
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Cool, hip und teuer: Heiligenhafen an Schleswig-Holsteins Ostseeküste erfindet sich gerade neu. Die Übernachtungszahlen steigen, Preise auch. Die Einheimischen werden an den Rand gedrängt. Kritiker mahnen, denn das Städtchen soll weiter wachsen.
Der Anblick ist erst einmal ein Schock: Zu einem mächtigen Halbkreis angeordnete mehrgeschossige Betonblöcke mit insgesamt fast 1700 Ferienwohnungen: Das ist der Ostsee-Ferienpark von anno 1970.
Von einem Park kann keine Rede sein, doch mit dem Klotz stieg das beschauliche Örtchen Heiligenhafen in den Massentourismus ein. Oder wollte zumindest einsteigen. Die Massen ließen alsbald auf sich warten und der Betonklotz wurde mit den Jahren nicht schöner.
Heute, 50 Jahre später und für 35 Millionen Euro saniert, weil ein Abriss noch teurer gewesen wäre, ist der Ferienpark eine Stadt für sich: Die Pizzeria heißt "O Sole Mio", der Dönergrill nennt sich "Witwe Bolte" und beim Griechen "Mykonos" sitzt man auf weißen Plastikstühlen. Es gibt eine Bowling- und eine Gokart-Bahn. Gleich neben dem "Adventure-Golfplatz" können die Kids Elektroscooter fahren, während ihre Mütter die Wahl haben zwischen "Fit mit Jasmin" oder "Zumba mit Patrizia".
Kilometerlanger Strand lockt zum Spaziergang
Doch 300 Meter weiter erschließt sich die Wahl dieses Ferienortes: Schneeweiß und feinsandig ist der kilometerlange Strand von Heilgenhafen, das Wasser der Ostsee glasklar und blaugrün. Die Sonne versinkt allabendlich als dramatisch lodernder Feuerball im Meer.
Die neu gepflasterte, breite Strandpromenade lockt zum Spaziergang zwei Kilometer nach Osten: zur neuen "Erlebnis-Seebrücke". In Zickzackform erstreckt sie sich in die Ostsee, nach Sonnenuntergang werden die Geländer indirekt beleuchtet. Breite Lümmelliegen aus Holz locken Pärchen, es gibt verglaste Abschnitte und ein Badedeck. Aus der Strandbar "Deck 7" gleich nebenan tönt der aktuelle Sound zum Chillen: Hier, rund um die Seebrücke, hat der Wandel 2011 angefangen.
"Es gibt jetzt zwei Welten", erklärt Manfred Wohnrade. "Der Heiligenhafener nennt den Platz oben an der Seebrücke das Neue Heiligenhafen oder Heiligenhafen Zwei. Da ist so ein bisschen Ironie dabei, bisschen Sarkasmus. Weil es ist jetzt nicht so, dass uns alle in die Arme gefallen sind, als wir mit großen Plänen um die Ecke kamen und gesagt haben, wir würden unseren Ort gern touristisch neu aufstellen."
Wohnrade ist der Touristikchef von Heiligenhafen und Geschäftsführer der Verkehrsbetriebe. Unter seiner Ägide leitete die Stadtverwaltung den Kurswechsel ein, nahm Kredite auf, investierte mehr als 100 Millionen Euro, rund ein Zehntel davon Eigenanteil.
Zur aufgehübschten Strandpromenade und der futuristischen, millionenteuren Seebrücke kamen in deren unmittelbarer Nachbarschaft zwei neue moderne Hotels: das Beach Motel und die sogenannte Bretterbude. Beide aus der Gruppe der "Heimathafenhotels" von Jens Sroka aus St. Peter-Ording.
Beide Hotels sprechen ganz gezielt ein junges, hippes, urbanes, gut verdienendes Publikum an. Hamburger zwischen 30 und 40, die sich Zimmerpreise von mehr als 100 Euro die Nacht locker leisten können.
Die Gäste werden wie bei IKEA konsequent geduzt, Waschbecken sitzen in auf alt getrimmten bunten Ölfässern. Auf dem Parkplatz stehen Surfer-Bullis, die Zimmer heißen putzig "Butzen" und die klimafreundliche Anreise mit der Bahn wird belohnt.
Die Zahl der Übernachtungen steigt
"Das ist interessant, das ist bunt und vor allen Dingen ist es ungezwungen. Ungezwungen ist heute jeder gern, gerade im Urlaub. Wir kannten das bisher gar nicht so richtig an der schleswig-holsteinischen Küste. Wir sind da ein bisschen Vorreiter, weil auf einmal die Gäste geduzt wurden. Wer das nicht mag, der wird hier nicht herkommen, aber es gibt immer mehr, die das mögen, dieses Zwanglose."
Die neuen Hotels funktionieren: Die Zahl der Übernachtungen in Heiligenhafen ist gestiegen, das Durchschnittsalter der Gäste gesunken. Immer mehr kommen jetzt auch im Herbst und Winter für Kurztrips, denn das Beach Motel hat einen schicken Spa mit Sauna und Pool.
"Das Hauptproblem war die starke saisonale Abhängigkeit und damit verbunden auch wenige Ganzjahresarbeitsplätze", erklärt Wohnrade . "Das heißt also: Wenn man hier eine Ausbildung macht, das geht dann noch, aber dann schnell weg hier aus Heiligenhafen, weil nur Saison. Und im Winter möglicherweise beim Arbeitsamt melden, das will keiner."
Bürgermeisterwahl wird zur Lagerwahl
Mehr Gäste, mehr Gewerbesteuer, mehr Ganzjahresjobs: Trotz all dieser schönen Erfolge hat Wohnrade die Bürgermeisterwahl im Frühjahr verloren. Denn vielen Heiligenhafenern geht der Aufbruch in die Zukunft zu schnell, sagt Olaf Gülzow. Nach Jahren als Aufnahmeleiter beim NDR-Fernsehen ist er unlängst aus Hamburg in seinen Heimatort an der Ostsee zurückgekehrt.
"Da gab es ein sehr deutliches Ergebnis: Das waren zwei Lager, einmal das konservative Lager von Herrn Brandt, der erst einmal die Hausaufgaben machen möchte. Der andere Kandidat war Wohnrade, der den Tourismus nach vorne treibt. Das Ergebnis war 30 Prozent Wohnrade, 60 Prozent Herr Brandt. Dann gab es noch einen anderen Kandidaten, der hatte knapp zehn Prozent gehabt. Also das war eine Lagerwahl. Deutlicher ist in den letzten 50 Jahren, solange ich denken kann, keine Wahl ausgefallen."
Wir haben uns an einem sonnigen, windigen Tag zu einer Fahrradtour um den Binnensee getroffen, mit dem Heiligenhafen neben dem Strand auch noch aufwarten kann. Auf der Höhe der neuen Hotels, gleich neben der Einkaufsmeile mit Boutiquen, nahe dem Gosch-Restaurant nach Sylter Vorbild, herrscht für einen Ort mit knapp 10.000 Einwohnern viel Verkehr. Den in Zukunft zu organisieren, zählt zu den Hausaufgaben, von denen Olaf Gülzow spricht:
"Fahrradkonzept, Müllentsorgung, Kanalisation, Regenrückhaltebecken, Turnhallen, Sportplatz. Das sind alles Dinge, die im Tourismus nicht gern gesehen werden. Das haben wir gesehen, als die Hotels hier gebaut worden sind, da wurde auch nach Mitarbeiterparkplätzen gefragt. Es sind etwa 150 Arbeitsplätze entstanden durch Bretterbude und Beach Motel, mindestens die Hälfte muss mit dem Auto anreisen und die haben gar keine Parkplätze."
Gentrifizierung in Heiligenhafen
Anreisen müssen die Angestellten, weil es kaum noch bezahlbaren Wohnraum in Heiligenhafen gibt. Der Ort setzte zu sehr auf den Tourismus, rügt Gülzow.
"Das ist Gentrifizierung: Die Leute, die hier bei Gosch oder in der Bretterbude arbeiten, die wohnen dann am Rande von Heiligenhafen, sind also gezwungen, mit dem Auto hierher zu fahren. Die, die eigentlich gar nicht hier sind, kaufen die teuren Wohnungen und kommen eigentlich nur im Sommer hierher."
Die Geister scheiden sich nicht nur bei der Bürgermeisterwahl vor allem an einem dritten, noch geplanten Familienhotel nebst Schwimmbad und hunderten Parkplätzen. Es soll auf einem Grundstück am Strand entstehen, auf dem derzeit ein Wäldchen wächst.
Das wäre zu viel, sagen Kritiker wie Gülzow. Der Ort habe mittlerweile genug Gäste. Zumal das Hotel zu nahe an die künftige Küstenschutzlinie gesetzt werden solle. Auch Bürgermeister Kuno Brandt ist kein Befürworter dieses Bauvorhabens:
"Ich bin da ganz ehrlich. Ich bin erst seit dem 1. April hier im Amt und habe mich vorher im Wahlkampf getummelt. Ich finde die Entwicklung, die wir hier genommen haben, super - auch unbedingt notwendig für Heiligenhafen. Ich sage aber auch: Immer mehr ist nicht immer besser. Irgendwo ist dann auch für mich der qualitative Ausbau wichtig. Aber, ob es nun unbedingt noch eins sein muss? Beschlüsse die gefasst werden, werden wir natürlich verwaltungsseitig so umsetzen. Ich selbst bin nicht ganz davon überzeugt, dass es nun unbedingt noch eins sein muss."
Das gesunde Maß ist überschritten
Die Stadtverordneten haben den Bau beschlossen, doch die Kritiker wie die Initiative "Meerkieker" wollen ihn mittels Bürgerbefragung verhindern. Auf ihrer Seite: Klaus Dürkop vom Naturschutzbund (Nabu).
Die Stadtverordneten vernachlässigten den Naturschutz, rügt Dürkop. Dabei sei doch die Schönheit der Natur hier die Basis für alles andere, betont er. Darum sei der Ausgang der Bürgermeisterwahl sehr erfreulich: Brandts Sieg sei ein Zeichen dafür, dass die Bevölkerung endlich eingesehen habe, dass das gesunde Maß überschritten sei und Grenzen gezogen werden müssten.
"Es läuft zu doll, die müssen wieder zurückfahren! Es reicht, so wie es ist", sagt auch Kirsten Gackenholz. Nach dem Tod ihres Mannes hat sie ihren Reiterhof in Celle verkauft und sich in Heiligenhafen angesiedelt. Sie hat im Ferienpark, dem Betonklotz aus den 70ern, eine kleine Wohnung gekauft, die sie an Urlauber vermietet. Die neuen Eigentumswohnungen waren eher nichts für sie.
"Weil man die nicht bezahlen kann. Da muss ich hier eine halbe Million auf den Tisch legen."
Für Familien erschwinglich
In den alten Hochhäusern zahlt man für eine sanierte Ferienwohnung mit Blick auf die Ostsee 80 bis 90 Euro am Tag, erzählt Gackenholz. Das ist für Familien noch erschwinglich. Ihre Gäste würden aber auch über die Strandpromenade ins neue Heiligenhafen laufen.
"Bis zur Seebrücke. Die essen auch etwas in der Bretterbude, das wird schon alles miteinbezogen. Meine Mieter habe ich gestern getroffen und die sagten auch: ‚Wir sind am Strand an der Seebrücke.‘ Obwohl sie bei mir noch einen Strandkorb haben. Aber sie wollten auch diese andere Atmosphäre miterleben."
Im Hafen von Heiligenhafen hat der weißbärtige Weltumsegler Burghard Pieske seinen Katamaran "Barrakuda" liegen. Der Abenteurer ist jahrelang um den Globus geschippert und hat nun hier seinen Ankerplatz gefunden. Liebe auf den ersten Blick war es zwischen ihm und Heiligenhafen nicht.
"Als ich vor nahezu 20 Jahren hier ankam, mein Gott, das war ein vermieftes altes Kaff. Tote Hose, nichts los, da liefen ein paar Omis um die Häuser rum. Wäre ich nicht Segler und hätte mein Schiff hier, wäre ich ums Verrecken nicht hiergeblieben. Abends, in der Saison sogar, da haben die die Bürgersteige hochgeklappt, da war finstere Nacht. Und plötzlich fängt der Ort an zu wachsen, zu leben, hier ist Stimmung. Heiligenhafen wird eine eigene Identität entwickeln und ist schon dabei. Einige alte Heiligenhafener schmollen natürlich: ‚Dat is nich mein Heiligenhafen mehr!‘ Klar, ist es auch nicht mehr, soll es auch nicht sein. Man kann dem Trend und der Zeit nicht ausweichen und man darf auch gewisse Dinge nicht verschlafen."
Der Charme des alten Fischerortes
Heute sei Heiligenhafen ein lebendiger Ort mitten im Aufbruch, freut sich Pieske, der hier auch einige Ferienwohnungen vermietet. Heiligenhafen habe einem tollen Jachthafen und eine schnuckelige Altstadt. Die müsse aber noch aus dem Dornröschenschlaf erweckt und von Bausünden befreit werden.
"Ein Ort, der ein bisschen versteckt ist von den Hauptverkehrswegen, der einen unglaublichen Charme hat, viele, viele Möglichkeiten", sagt Pieske. "Der Charme besteht in der gewachsenen Fischerstadt. Eigentlich fehlen nur die Netze, die noch vor den Häusern hängen. Alles sehr kompakt, die Kirche ist der Mittelpunkt des Ortes mit dem schönen Rathaus. Der Charme besteht auch in den Menschen, die hier leben, die noch ein bisschen easygoing sind, nicht so abgedreht, wie in einigen sehr hoch frequentierten Touristenorten. Heiligenhafen ist dabei, sich neu zu erfinden, und ich bin ein aufmerksamer Beobachter der Entwicklung."