In dieser Folge des Weltzeit-Podcasts hören Sie auch, wie Robert Kirchner den wirtschaftlichen Wandel der Ukraine seit 2014 beschreibt. Die Basis ist das Assoziierungsabkommen mit der EU, so der Ökonom vom "German Economic Team", eine Firma die finanziert wird von der Bundesregierung, um die ukrainische Regierung in wirtschaftspolitischen Fragen zu beraten.
"Es ist schon etwas creepy"
22:16 Minuten
35 Jahre nach der Explosion im AKW Tschernobyl soll das verstrahlte Gebiet nicht nur Kosten verursachen, sondern auch Einnahmen bringen: Mit einer Million Touristen, Solar- und Windkraftanlagen sowie dem Titel Weltkulturerbe, hofft die Regierung.
Mit jedem Meter, den wir auf der Landstraße fahren, steigt die radioaktive Strahlung. Tourguide Irina Smirnova kostet die Dramatik des Moments aus, liest die wachsenden Werte vom Display ihres Messgeräts ab.
"Ein Mikrosievert pro Stunde. Schaut auf die Displays eurer Messgeräte. Sechs Mikrosievert, sieben Mikrosievert, acht Mikrosievert. Neun. Zehn. Elf. Elf Mikrosievert pro Stunde!"
Stumm halten die Besucher ihre eigenen Dosimeter an die Fensterscheiben des Buses. Und dann, zum ersten Mal an diesem Tag, sehen sie durch den hier lichten Wald die Reste des Atomkraftwerks Tschernobyl.
Die Gruppe ist in Pripyat angekommen. Die sowjetische Arbeiterstadt und Mustersiedlung ist ein Höhepunkt der Führung. Neben dem Kraftwerk gelegen, musste sie nach der Reaktorkatastrophe vom 26. April 1986 evakuiert werden. Zehntausende verloren Gesundheit und Heimat. 35 Jahre später stehen nur noch Ruinen.
Geht es nach der Regierung der Ukraine, dann sollen Teile Pripyats von der Unesco als Weltkulturerbe anerkannt werden –und von bis zu einer Million Touristen im Jahr besucht werden. Matheis aus den Niederlanden wollte schon jetzt herkommen: "Schon als Kind habe ich mich gefragt, wie das hier alles aussieht. Es ist ja schon etwas creepy… und das mag ich einfach. Ganz allgemein finde ich den Osten interessant, weil das hier die Sowjetunion war. Dazu kommt noch diese Katastrophe, das ist also schon alles interessant hier."
Sieben Prozent des Staatshaushalts für Folgekosten
Die Devisen der Touristen werden dringend gebraucht. Laut einer Studie der Vereinten Nationen verwendet die ukrainische Regierung jedes Jahr bis zu sieben Prozent ihres Budgets, um die Folgekosten der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl zu bezahlen. Entsprechend dankbar ist sie für jegliche Einnahmen durch den Tourismus. 2019 kamen rund 128.000 Besucher in die Sperrzone.
Was die Verantwortlichen unmittelbar nach der Katastrophe besonders umtrieb, ist heute ein Standortvorteil: Die Nähe zur Hauptstadt Kiew mit ihren beiden Flughäfen, was bis 2020 für einige Besucher sorgte, erklärt Tourguide Irina Smirnova: "Vor der Pandemie kamen samstags vielleicht 1000 Besucher. Jetzt sind es nur 200 bis 300. Einmal hatten wir an einem Tag 2000 Touristen. Kannst Du dir das vorstellen? Eine Stunde mussten wir allein am Eingang warten."
Irina Smirnova ist mit dem Gelände vertraut, arbeitet hier seit zwei Jahrzehnten. Erst als Übersetzerin und Dolmetscherin für internationale Delegationen, seit einigen Jahren führt die 53-Jährige nun Besuchergruppen durch die Häuserschluchten der Geisterstadt Pripyat.
"Die Straßen hier sollten wirklich gesäubert und ausgebessert werden, die umgestürzten Bäume müssen weg und der Wildwuchs zurückgeschnitten werden. Wenn sich niemand um das Gelände kümmert, kann es auch niemand betreten. Die müssen sich das hier alles ansehen und uns sagen, ob es sicher ist. Die müssen was unternehmen!"
Smirnova glaubt, Tschernobyl sei noch nicht bereit für einen Massentourismus, wie ihn sich die Regierung erhofft. Doch auch ihr Arbeitsplatz hängt mittelfristig davon ab, dass die Faszination des Ortes stärker wiegt als Sicherheitsbedenken.
Neue Restaurants und Hotels in der Nähe von Tschernobyl
An einer vielspurigen Ausfallstraße im Süden von Kiew sitzt jene Behörde, die im Auftrag der ukrainischen Regierung für die Sperrzone verantwortlich ist. Zwei Autostunden ist das Atomkraftwerk von hier entfernt. Es war das große Glück der Menschen in Kiew, dass der Wind den nuklearen Fallout Tschernobyls nicht ins Metropolgebiet getragen hat.
Direktor Serhiy Kostuk verspätet sich. Das Sekretariat beruhigt, er komme sicher gleich. Im Flur vor seinem Büro hängen gerahmte Fotos. Historische Aufnahmen des Kraftwerks, vor und nach der Explosion in Reaktorblock 4. Daneben das Foto eines Fuchses. Eines von vielen Tiere, das die verlassenen Orte in der Sperrzone erobert hat. Dann öffnet sich die Tür und Direktor Kostuk bittet an den Konferenztisch.
"Mehr Tourismus bedeutet mehr Investitionen. Wir wollen Restaurants und Hotels bauen, damit Besucher noch länger in der Nähe von Tschernobyl bleiben Natürlich nicht länger, als gut für ihre Gesundheit wäre. Also bauen wir die Tourismus-Infrastruktur in der Sperrzone weiter aus. Noch gibt es nicht viel zu sehen. aber jedes Jahr werden es mehr Orte, die sich Besucher ansehen können."
Kostuk diktiert Satz für Satz, unterstreicht jede Aussage mit einer Pause, hält Augenkontakt. Wie bei vielen Ukrainern, ist auch die Geschichte seiner Familie eng mit Tschernobyl verbunden. Kostuks Vater war Liquidator, einer von hunderttausenden Frauen und Männern, die die kommunistische Parteispitze in Moskau zum Aufräumen der verstrahlten Trümmer entsandte. Später hat Kostuk selbst in der Sperrzone gearbeitet.
6500 Menschen arbeiten in der Sperrzone
Er ist überzeugt, dass die radioaktive Strahlung Tschernobyls den Tourismusplänen der Regierung nicht im Weg steht.
"Natürlich gibt es ein Problem mit radioaktiver Verstrahlung, insbesondere in der Geisterstadt Pripyat. Aber wir haben sichere Wege eingerichtet und wollen mit Kontrollen sicherstellen, dass Touristen sie auch nicht verlassen. Vor der Pandemie hatten wir so viele Besucher wie noch nie und die Auszeit haben wir genutzt, um weitere Zäune um besonders verstrahlte Gebiete zu ziehen und die Kontrolle über die Besucherpfade weiter auszubauen."
Ohnehin, macht der Behördenleiter klar, sei der Ausbau des Tourismus nur eine von vielen Säulen für die Zukunft der Sperrzone. Heute arbeiten auf dem Gelände mehr als 6500 Menschen. Das sind Wissenschaftler und Ingenieure, die sich etwa mit der Verklappung radioaktiven Mülls befassen. Aber auch Arbeiter, die die Infrastruktur überwachen und instandsetzen. Dazu Köche, Reinigungskräfte und Polizisten, die den Betrieb überhaupt erst ermöglichen.
Die Zivilisation lebt also auch hier weiter. Möglich ist das, weil die Strahlenbelastung ungleich verteilt ist. Auf einer Wandkarte sind einige Gebiete tiefrot markiert – sie sind auf Jahrtausende unbetretbar. Andere Bereiche wurden entweder gereinigt oder von Anfang an kaum verstrahlt. Dort, macht Kostuk deutlich, plant die Regierung nicht nur mehr Tourismus, sondern auch neue Industrieanlagen.
"Wir wollen hier auch Hausmüll verarbeiten. In der Ukraine gibt es bislang keine modernen Kraftwerke, die auf diese Weise Strom produzieren – genau so eine Anlage wollen wir in der Sperrzone von Tschernobyl errichten. Außerdem werden wir dort grünen Strom erzeugen, mit Hilfe von Windturbinen und Solarpanels. Die Bäume in der Sperrzone könnten ebenfalls genutzt werden. Damit haben wir bereits Erfahrung und mit Hilfe der Europäischen Union wollen wir ein Kraftwerk bauen, das kontaminiertes Holz verbrennen kann."
Kühlschrankmagneten und Socken aus Tschernobyl
Zurück in der Sperrzone: Am Kontrollpunkt des Eingangs stauen sich Dutzende Reisebusse und Autos. Beamte blättern gleichmütig durch Stapel von Reisepässen, prüfen Namen und Gesichter. Neben ihnen drängen sich Arbeiterinnen und Arbeiter durch zwei Drehkreuze. Die Morgensonne zeichnet ihnen die Erschöpfung der Nachtschicht ins Gesicht. Von hier aus sind weder Kraftwerk noch Geisterstadt zu sehen. Nur ein kleiner gelb lackierter Anhänger mit Souvenirs verrät, wie nah die Touristen Tschernobyl bereits sind.
"Die Sperrzone und die Touristen ermöglichen mir, hier Arbeit zu finden. Würde es die Besucher nicht geben, wären alle in den umliegenden Dörfern doch arbeitslos. Ich müsste dann von hier nach Kiew pendeln und dort Geld verdienen."
Hinter dem Verkaufstresen steht Natalya. Sie sagt, am besten würden sich hier Kühlschrankmagneten und Socken verkaufen – viele Touristen erfahren erst hier, dass ungeschützte Haut in dem verstrahlten Gebiet ein Risiko ist. Doch aufgrund von Corona und Reisebeschränkungen ist deutlich weniger los, als noch Anfang 2020.
"Ich hoffe, dass das mit der Pandemie und der Quarantäne bald vorbei ist. Dann können wieder mehr Menschen zu uns kommen und diesen Ort besuchen."
Hoffnung auf etwas Wohlstand in der Gegend
An den Kontrollpunkten der Sperrzone wird klar, wie groß die Herausforderung ist, das Gelände sowohl touristisch als auch industriell auszubeuten. Penibel sind die Ausweiskontrollen, mühsam zwängen sich An- und Abreisende jeweils einzeln durch raumgroße Strahlenmessgeräte. Derweil müssen alle Fahrzeuge an Reifen und Unterboden auf kontaminierte Erde untersucht werden – groß ist die Sorge, dass verstrahltes Material in den Rest des Landes getragen wird.
Doch gegen die Angst vor dem strahlenden Erbe Tschernobyls steht die Hoffnung auf etwas Wohlstand in einer Gegend, die ansonsten nicht reich an Chancen ist.
Auch Alexander, Vladimir und Vlad sind in die Sperrzone gekommen, um hier Geld zu verdienen. Was sie tun, wollen sie nicht sagen. Heute hätten sie frei und vertreiben sich die Zeit in einer Trinkhalle, die wenig touristisch aussieht. Auf dem Tisch stehen Flaschen mit klarer Flüssigkeit. Rauch und Schwermut wehen durch den Raum. Alexander klagt: "Unsere Chefs zwingen uns dazu, diese Arbeit zu machen. Wir wollen das eigentlich nicht und brauchen auch mehr Geld. Sie ziehen uns echt übel über den Tisch, wenn es um die Jobs hier geht."
Alexander ist 33 Jahre alt, er stammt aus der Gegend um Tschernobyl. Wie die anderen ist er unzufrieden. Die Bezahlung sei schlecht. Aber wenn nicht hier, wo sollen sie denn sonst Arbeit finden? Oft führt der Weg dann Richtung Süden in die Hauptstadt.
Letzter Reaktor in Tschernobyl erst 2000 abgeschaltet
Warm ist es in der U-Bahn, die ihre Passagiere auf ratternden Gleisen in den Südosten Kiews trägt. Hier, in einem der vielstöckigen Plattenbauten liegt die Wohnung von Oleksii Pasuk. Der ausgebildete Chemiker hat 1992, kurz nach der Unabhängigkeit der Ukraine, jahrelang für Greenpeace gearbeitet – und das Ringen um Tschernobyl und die Zukunft des AKW nach der Katastrophe beobachtet.
"Am Ende war es ein politischer Deal, der dafür gesorgt hat, dass Tschernobyl vom Netz ging. Lange hat das AKW noch weiter Strom produziert. So wollte die ukrainische Regierung Geld von westlichen Staaten erpressen. Dabei ging es etwa um die Finanzierung neuer Kraftwerke. Der letzte Reaktorblock von Tschernobyl wurde dann auch erst 2000 abgestellt."
Wer dem Atomkraftgegner Pasuk zuhört, bekommt das Gefühl, in Tschernobyl sei es immer auch um Geld gegangen. So haben Einsparungen bei der Konstruktion des verunglückten Reaktors die Katastrophe erst möglich gemacht – und nach der Havarie liefen die verbliebenen Reaktorblöcke noch jahrelang weiter. Allein der neue Schutzmantel für den Reaktor – 100 Meter hoch, 36.000 Tonnen schwer – hat rund 1,5 Milliarden Euro gekostet. Bezahlt vor allem von westeuropäischen Partnern der Ukraine. Doch die Katastrophe, ist Pasuk überzeugt, hat auch eine politische Bedeutung, die oft übersehen wird.
Aus Forderung nach Sicherheit wurde Unabhängigkeit
"Als die Unabhängigkeitsbewegung 1989 immer stärker wuchs, wurden in der Stadt Flugblätter verteilt, in denen behauptet wurde, die Sowjetunion sei ein russisches Imperium und würde das Land mit Hilfe seiner Atomkraftwerke kontrollieren. Wie Bomben, die in den verschiedenen sowjetischen Staaten platziert wurden."
So wuchs der Unmut über die zögerliche Reaktion Moskaus auf das Reaktorunglück – und aus den Forderungen nach mehr Sicherheit wurde der Ruf nach Unabhängigkeit. Pasuk erinnert sich, dass einige der prominentesten Aktivisten einer eigenständigen Ukraine sich in der Umweltbewegung politisierten: "Es ging ja zunächst um die Gesundheit der Menschen und um ihre Sicherheit. Bürger sprachen das offen an und forderten eine Reaktion der Kommunistischen Partei. Darüber konnten alle Seiten viel einfacher diskutieren als über Menschenrechte oder etwas Ähnliches."
Die Ruinen und Strände der Geisterstadt Pripyat
Mittlerweile hat sich die Touristengruppe von Irina Smirnova einen Weg zum Hafen von Pripyat gebahnt. Das Monaco der Sowjetunion sei das gewesen, schwärmt sie. Eine Fähre habe die Menschen flussabwärts nach Kiew getragen. Feiner Sand formte hier unerwartete Traumstrände. Sand, den Militärhelikopter im Frühjahr 1986 über dem offenen Reaktorkern abwarfen – hoffend, so dass nukleare Feuer zu begraben.
Heute stehen in Pripyat noch die Mauern eines früheren Cafés: Der filigrane Glasvorbau hat sich in Scherben aufgelöst. Ein toter Vogel liegt dort, wo einst das beste Eis Pripyats verkauft wurde. Neben dem Café folgen die alte Kunstschule und ein aufgegebenes Kino. Hohe Sträucher verdecken baufälligen Beton, einst kunstvolle Mosaike verfallen – nur die streunenden Hunde trauen sich noch in die maroden Gebäude.
Das müsse sich ändern, meint Irina Smirnova: "Wir müssen hierher kommen, unsere Kinder müssen kommen und das hier sehen können. Wenn wir uns nicht kümmern, ist das alles hier in 30, 40 Jahren verfallen. Aber wenn die Unesco uns hilft, wird es diverse Objekte und Gebäude in Pripyat geben, die erhalten bleiben. Auch damit Touristen kommen können, um das hier zu erleben."