Michael Schikowski ist Lehrbeauftragter der Universität Bonn und als Verlagsvertreter tätig. Auf seiner Seite immerschoensachlich.de rezensiert er Sachbücher. Seit einigen Jahren stellt er Erzähler des 19. Jahrhunderts in Veranstaltungen vor und liest aus ihren Werken. Zuletzt publizierte im Bramann Verlag "Glanz und Melancholie – Anmerkungen zur Buchgestalt".
Warum Literatur-Klassiker uns längst fremd sind
Lesen Sie die deutschen Klassiker, rät Michael Schikowski: Aber nur, wenn Sie sich mal so richtig fremd im eigenen Land fühlen wollen. Auf die Frage, was die Klassiker uns heute noch zu sagen haben, gibt der Literatur-Blogger eine ziemlich eindeutige Antwort: Nichts!
Gerade steht die Besinnung auf deutsche Kultur wieder hoch im Kurs. Also besinnen wir uns! Aber auf was? Vorschlag: die Klassiker. Denn Kultur bedeutet ja Fortführung des Überlieferten. Der Klassiker ist also ein überliefertes Werk. Etwas, das man für später beiseitelegt wie haltbare Marmelade, eine Art literarischer Vorratshaltung also.
Die Vorstellung der eigenen Kultur – und nehmen wir dafür einmal die lesbaren Klassiker von Goethe bis Fallada – setzt ja voraus, dass man sie stets als das Eigene erkennt.
Das ist aber gar nicht der Fall.
Ein Angebot zum Aufschieben
Also steht er da, der Klassiker. Und reiht sich ein in die Bücher, über die man nur als die Immer-noch-nicht-dazu-Gekommenen spricht. Irgendwie merkt man dadurch: Klassiker sind ein Angebot, das man nur aufschieben und kaum ablehnen kann. Es ist ein wenig wie mit der Verwandtschaft, die man sich auch nicht aussucht.
Die Texte sind keine Briefe aus der Vergangenheit, denn von uns wussten die Klassiker nichts. Und sie sind auch keine Texte, die wir behalten können, indem wir sie ins Regal zu stellen.
Vielleicht kommen wir auch nicht mehr selbst dazu, den Klassiker zu lesen. Dann hat man ihn nicht für sich, sondern für andere bewahrt. Wir empfangen sie einzig und allein dazu, sie weiterzugeben. Auch das ist eine sonderbare Vorstellung: Wir entscheiden immerzu neu, ob und was wir weitergeben.
Dabei geben wir im Grunde nicht dieses oder jenes Buch weiter, sondern unsere Erfahrungen mit Büchern, was voraussetzt, dass wir sie lesen. Denn Kultur ist nicht allein Weltzugang, sie ist vor allem Selbstzugang durch Genuss. Ja, auch bei Mord und Totschlag!
Was man dann nachher von der Welt hält, ist das eine. Das andere ist, was man dann eigentlich von sich selbst zu halten hat?
Und warum entdecken wir so wenig? Die 100 Gründe, Klassiker zu lesen wie Wortschatzentwicklung, Nationalbewusstsein oder Kunstsinnigkeit sprechen letztlich mehr gegen als für sie. Auf die Frage, was die Klassiker uns heute noch zu sagen haben, gibt es eine ziemlich eindeutige Antwort: Nichts!
Statt das zunächst einmal zuzugeben, wird uns weisgemacht, diese Texte seien sehr aktuell ... irgendwie. Womit der jeweilige Text sofort auf Entsprechungen abgeklopft und aller Fremdheit beraubt wird. Und alles was sich nicht in dieser Art erfassen und zuordnen lässt, bleibt als unerklärliche Absonderlichkeit des Textes unverstanden liegen. Eingeleitet wird all das mit einem treuherzigen: "Das hat ganz viel mit uns zu tun!"
Hat es nicht.
Der Literaturunterricht ist schuld
Wenn es dann nicht so klappt, ist der Lehrer schuld. Gewiss, die meisten dauerhaften Literaturstörungen lassen sich auf den Literaturunterricht zurückführen. Das ist nicht verwunderlich, denn Sportverletzungen geschehen nun einmal beim Sport und nur ganz selten im Mathematikunterricht.
Endlich mal etwas als fremd wahrzunehmen, als nichtähnlich, schon gar nicht als gleich oder verwandt, als wirklich fremd und eigentümlich wahrzunehmen, das ist doch schön.
Der Klassiker ist uns fremd. Wollen Sie sich mal so richtig fremd im eigenen Land fühlen? Lesen Sie die deutschen Klassiker.
Man schaut in diese Romane und Erzählungen wie in eine Abstellkammer längst überwundener menschlicher Probleme und gesellschaftlicher Missstände. Hier ist alles herrlich anders und seltsam. Das umwegige Reden des alten Stechlin, die vorgestrigen Überzeugungen Wilhelm Meisters und die nicht hinnehmbare Rollenverteilung von Johannes Pinneberg und Lämmchen sind reine Zumutungen, Irritationen eines Weltbilds ewiger Kleinkinder, die das Andere, das Fremde nicht mehr aushalten. Es schafft Verdruss und macht einfach keinen Spaß.
Interkulturalität sie ist eine Forderung des Tages, völlig zu Recht, und sie wird vor allem in der Sphäre unserer unmittelbaren Umwelt gefordert. In der Sphäre unserer Vorwelt, in der Vergangenheit, in unserer eigenen Geschichte und Kultur erscheint sie aber plötzlich unzumutbar.
Warum also Klassiker? Weil sie uns so schön fremd werden können.