Das Ende der Clowns
29:39 Minuten
Corona-Krise, Tierwohl-Debatte, Nachwuchsmangel – der traditionelle Zirkus in Deutschland steckt in der Krise. Moderne Zirkusse setzen weniger auf Clowns und wilde Tiere, mehr auf Theater und Akrobatik.
In Oberfranken stehen auf einer Wiese ein paar Wohnwägen und ein großes buntes Zirkuszelt. In roten Buchstaben ist „Zirkus Renz“ zu lesen. Ein Junge mit einer Schubkarre kommt aus dem Zelt und stellt sich als Leon, Sohn des Zirkus-Direktors vor. Stolz erklärt der Zwölfjährige, dass er gemeinsam mit seiner Schwester Alex die Verantwortung für zwei Ponys hat.
„Die sind gerade in der Dressur und ich und Alex nehmen die immer ran. Jeden Abend manchmal – also erst wenn unser Zelt aufgebaut ist, sonst geht das natürlich nicht“.
Ein Brandloch im Tierzelt
Doch mit dem Tierzelt gibt es ein Problem.
„Am 19. Februar, wir waren alle so im Wohnwagen, auf einmal hören wir die Sirene, meine Mama schaut schon raus und sieht auf einmal hinten die riesige Wolke. Ja, und dann sind wir eben alle da hingerannt.“
Ein in der Nähe stehender Wohnwagen fängt Feuer. Das Feuer springt auf das Tierzelt über. Die Feuerwehr muss ausrücken, um den Brand zu löschen. Tiere kommen dabei nicht zu Schaden. Jedoch hat das Tierzelt ein großes Brandloch.
In Anbetracht der kaum noch vorhandenen Einnahmen aufgrund der Corona-Situation ist der Familienzirkus nicht in der Lage, die Reparatur finanziell zu stemmen. Der Vater von Leon ruft in den lokalen Nachrichten zu Spenden auf. Vorerst wird das Zelt provisorisch geflickt.
Familientradition weiterführen
Trotz der schwierigen Umstände würde Leon die Familientradition niemals aufgeben.
„Also, weil mein Opa den Zirkus gleitet hat, mein Papa und alle Generationen vor uns den Zirkus geleitet haben, möchte ich das natürlich auch. Das ist jetzt was, als wenn meine ganze Familie nur einen Job hätte – und ich würde jetzt auf einmal einen anderen nehmen, das ist ja komisch! Ich möchte nämlich auch den behalten!“
Eine ältere Frau kommt hinzu und stellt sich als Elke, die Oma von Leon, vor. Sie ermahnt ihn, saubere Kleidung anzuziehen. Die Schullehrerin würde jeden Augenblick hier sein.
„Dann kommt die mit einem Schulwagen hierher. Dann werden unsere Kinder jeden Tag unterrichtet und das ist uns auch ganz recht, dass die Kinder am Platz unterrichtet werden, als wenn wir sie jedes Mal woanders in eine Schule reinbringen.“
Brav folgt Leon seiner Oma und verschwindet in einem der Wohnwägen.
Die Glanzzeiten sind vorbei
Mittlerweile ist der Familienzirkus Renz wieder mit geflicktem Tierzelt unterwegs und kann ein wenig Geld einnehmen. Das reicht so gerade, um ein Quartier für den Winter zu finden.
Dabei war der Zirkus Renz einst das größte deutsche Zirkusunternehmen mit festen Spielhäusern in ganz Europa. 2013 meldet das Mutterunternehmen Circus Universal Renz Insolvenz an. Die Familienmitglieder teilten sich auf und gründeten eigene kleine Familienzirkusse mit dem Namen Renz.
Wie dem Zirkus Renz erging es vielen Großzirkussen in den letzten Jahrzehnten. Vorbei sind die Glanzzeiten: Volle Ränge, ein großes Zirkusorchester, Artisten, die dem Publikum den Atem stocken lassen, Dompteure, die mit ihren Tieren Staunen auslösen und Clowns, die die Zuschauer zum Lachen bringen.
Nur noch eine Handvoll bekannter Zirkusse
Heute machen Zirkusse eher negative Schlagzeilen: Wenn wieder einer pleitegeht oder Tierschützer schwere Vorwürfe erheben.
Mit Cirque du Soleil, Roncalli, Luis Knie und Krone gibt es nur noch eine Handvoll bekannter Zirkusse. Warum ist das so? Wie hat sich das Geschäft für den klassischen Zirkus in den letzten Jahrzehnten verändert?
Im Berliner Bezirk Pankow steht eine kleine Villa. Ein weißes Schild erinnert an den früheren Bewohner des Hauses: Max Skladanowsky. 1895 zeigte er gemeinsam mit seinem Bruder Emil einem Publikum in Berlin kurze Film-Sequenzen. Darin zu sehen: Jongleure, Akrobaten und auch ein Mann, der mit einem echten Känguru boxt. Es sind die ersten Filmaufnahmen der Geschichte.
Zirkusarchiv in einer Villa
Heute wohnt hier das Ehepaar Gisela und Dietmar Winkler. Sie haben die Villa zu einem Zirkusarchiv umfunktioniert.
In drei Räumen stehen Regale, die bis zur Decke mit Büchern bestückt sind: Von Sammelbänden, über Zeichenkataloge, bis hin zu Lexika – über 25.000 Exemplare handeln hier nur von Zirkussen. Es ist eine der umfangreichsten Sammlungen in Europa.
„Gott! Ich steh immer ratlos vor meinen Büchern, denn für die Sortierung ist meine Frau verantwortlich“, sagt er lachend.
Bereits als Zehnjähriger sammelte der heute 76-jährige Dietmar Winkler Programmhefte von verschiedenen Zirkussen. Beruflich schlägt er nach dem Abitur aber einen anderen Weg ein: Er schreibt sich an der Verkehrshochschule in Dresden ein und zieht 1971 nach Ostberlin, um bei der Post zu arbeiten.
Erst als er seine Frau Gisela kennenlernt, wird aus dem Hobby Zirkus ein Beruf: Sie arbeitet für den Henschel Verlag und bietet ihm an, Artikel und Rezensionen über Zirkusse zu publizieren.
„Dann kam irgendwann 1980 der Staatszirkus auf mich zu und sagt: ‚Willst du nicht zu uns kommen?! Wir richten jetzt neu die Pressestelle ein, die es bisher nicht gab, und wäre das was für dich?‘ Und da habe ich nicht allzu lange überlegt und hab gesagt: ‚Gut, ich mach das!‘“
Vielfältige Zirkuslandschaft in der DDR
1960 ist die Zirkuslandschaft in der DDR vielfältig, neben einer Vielzahl von kleineren Familienzirkussen, gibt es die großen Zirkusse Busch, Olympia und Aeros. Das Kulturministerium ordnet an, die drei Großzirkusse zum Staatszirkus der DDR zusammenzuführen. Eine Generaldirektion bestimmt fortan, wo welcher Zirkus in der DDR und Sowjetunion gerade welche Vorführung zeigt.
„Na ja, sie standen sich nicht in Konkurrenz, weil es war ja ein Betrieb im Grunde genommen – es gab ja eine zentrale Direktion, die entschied, welche Darbietung in welchem Zirkus arbeitete. Aber es gab natürlich schon eine gewisse Konkurrenz, was die Besucherzahlen betraf. Natürlich hat jeder der drei Direktoren immer auf den anderen geschaut, wie dort die Besucherzahlen liefen.“
"Das Geschäft ist schwieriger geworden"
Im Zirkusgeschäft konnte man damals noch gut verdienen, erzählt Winkler. Heute würde kaum noch einer Gewinn erzielen.
„Die wenigen Großzirkusse, die noch reisen, haben es natürlich immer schwerer, weil da spielen außer den Tierproblemen natürlich auch andere Fragen eine große Rolle. Also die gesamte Transportlogistik, das fängt ja beim Treibstoff an – der Strom, das Wasser wird teurer, Platzmieten steigen. Das ganze Geschäft für den Zirkus ist wesentlich schwieriger geworden.“
Das Geschäft für den klassischen Zirkus läuft heute schlecht. Was auch mit den Besucherzahlen zu erklären ist, erzählt die Wissenschaftlerin Franziska Trapp. An der Universität in Münster hat sie ihre Doktorarbeit mit dem Titel „Lektüren des Zeitgenössischen Zirkus“ geschrieben und stellt darin die Aufführungen in den Kontext historischer Epochen.
„Die Kuriositäten-Kabinetts, die Ausstellung von in Anführungsstrichen ‚Freaks‘ oder die wilden Tiere in den Shows um 1900, die hängen natürlich zusammen mit dem Kolonialismus. Also Zirkus ist schon immer ein Genre gewesen, das sich weiterentwickelt hat mit den technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen und dadurch es zu einer bestimmten Zeit spannend war, die wilden Tiere zu zeigen und es zu einer bestimmten Zeit spannend war zum Beispiel die Erfindung des elektrischen Lichts mit Pailletten und mit Lichteffekten in der Manege zu unterlegen.“
"Es geht und ging um das Spektakuläre"
Laut Trapp steht im traditionellen Zirkus vor allem eines immer im Mittelpunkt: der Mensch.
„Im traditionellen Zirkus geht und ging es um das Spektakuläre, um die Darstellung der Übermenschlichkeit oder um zu zeigen, zu was sind wir Menschen fähig, und das auf allen Ebenen: Also man ist in der Lage, mit ganz vielen Objekten zu jonglieren. Oder der Artist ist in der Lage, besonders weit zu fliegen und so weiter und sofort.“
Wilde Tiere dressieren, artistische Kunststücke mit ihnen aufführen, das war einmal der Höhepunkt vieler Zirkusvorführungen. Heute ist das ein Politikum.
Gesetzesvorlage zum Wildtierverbot
„Wildtiere, die gehören nicht in die Manege! Weder jetzt noch in Zukunft“, sagte Bundesagrarministerin Julia Klöckner Ende August dieses Jahres.
„Denn sie haben im Vergleich zu domestizierten Tieren wesentlich höhere Ansprüche. Etwa wenn es um die Größe oder Ausstattung der Gehege geht. Auch der Umgang mit den Menschen, die schwierigen Haltungsbedingungen, die häufigen Transporte, die Zuschauer – die verursachen bei ihnen deutlich mehr Stress. Das ist alles wissenschaftlich belegt und deshalb habe ich das Verbot von Wildtieren in Zirkussen vorgelegt und wir bleiben da auch dran!“
Die Gesetzesvorlage, die Klöckner im Sommer vorlegte, sah vor, dass Wildtiere wie Giraffen, Elefanten und Primaten in Zirkussen nicht mehr gehalten werden dürfen.
Debatte um das Tierwohl hält an
„Die Verabschiedung im Bundesrat wäre ein Meilenstein gewesen. Und die Blockade einiger grüner Länder im Bundesrat angesichts auch des Wahlkampfes – das halte ich für ein Vergehen an den Tieren!“
Tierschutzorganisationen ging der Vorschlag jedoch nicht weit genug: Weder beinhalte es ein generelles Zurschaustellungsverbot für Tiere im Zirkus, noch würde der Vorschlag Großkatzen und Reptilien miteinbeziehen. Die Grünen sahen das ähnlich, der Entwurf fand im Bundesrat keine Mehrheit.
So bleibt alles beim Alten und die Debatte um das Tierwohl in deutschen Zirkussen hält an: Denn Deutschland ist – neben Frankreich, Spanien und Italien – das einzige Land in der EU, in dem Wildtieren in Zirkussen noch zur Schau gestellt werden dürfen.
Artist auf einem Pferd
Im Zirkusarchiv von Dietmar Winkler steht eine Vitrine. Darin kleine Figuren: Ein Elefant, der auf einem Ball balanciert, ein Artist der auf einem Pferd balanciert…
Was Tiere im Zirkus anbelangt, ist Winkler zwiespältig.
„Also zum klassischen Zirkus gehört die Tierdressur dazu. denn das ist eigentlich der Mittelpunkt eines klassischen Zirkus: die Pferdedressur. Der Zirkus kommt ja vom Pferd – also gehört das Pferd auch natürlich dort hin!“
Weißclown und Dummer August
Das Publikum des klassischen Zirkus sollte aber nicht nur staunen, es sollte auch lachen. Dafür zuständig: Weißclown und Dummer August. Der Weißclown versucht, auf gehobene Art und Weise zu unterhalten und wirkt dabei besserwisserisch, während sein Gegenspieler, der Dumme August, mit seiner Tollpatschigkeit der Sympathieträger ist.
„Da gab es richtige Familien, die sowas über Generationen gemacht haben. Aber es gibt leider wenig gute Clowns. Das kann man auch nicht lernen, sondern da gehört eine gewisse Begabung dazu.“
Große Magie von Monsieur Momo
Monsieur Momo ist ein Clown und Zauberer. Im Berliner Kabarett „Wühlmäuse“ kündigt er mit viel Tamtam, wie es sich für einen Magier gehört, den Trick „Kaninchen aus dem Hut zaubern“ an. Um dann unbeholfen vor den Augen des Publikums ein Häschen in seinem Zylinder zu platzieren.
„Ich habe wirklich mal angefangen zu zaubern, damit die Leute sagen: ‚Oh toll, wie geht das?!‘ Ich habe dann aber erst gemerkt, wenn ich die Zaubertricks spiele – die gar nicht der große Trick sind, sondern wirklich nur eher einen Gag beherrschen – so viel mehr ankommen. Trotzdem spiele ich jemanden, der ganz große Magie präsentiert.“
Timo Lesniewski, wie Monsieur Momo wirklich heißt, will schon als Kind Clown im Zirkus werden. Doch der Vater ist Installateur und die Mutter arbeitet bei VW. Eine Karriere beim Zirkus erscheint ihm unwahrscheinlich.
„Ich glaube, es war eher eine kleine Träumerei. Weil ich nie das Gefühl hatte, ich könnte aus meiner Welt in diese Welt. Also, das geht einfach nicht! So habe ich das immer gedacht. Man muss da hineingeboren sein oder man braucht eine Familie, die aus dem Zirkus kommt. Also ich habe nie gedacht, dass ich tatsächlich da hinkönnte. Das kam dann tatsächlich erst später, dass ich wirklich dachte, es könnte mein Beruf werden.“
Berufsschule für Clowns in Hannover
Nach der Schule beginnt er eine Ausbildung zum Erzieher. Doch er fühlt sich in dem Beruf eingeengt und seine Kreativität zu wenig gefordert.
„Dann habe ich mal, unglücklich wie ich war, durchs Internet gekuckt und plötzlich die Clownschule in Hannover gefunden. Ich wusste nicht, dass man das professionell machen könnte.“
Die Berufsschule TUT bietet eine Ausbildung für Tanz, Theater und Clownerie. Als Timo das TUT in Hannover entdeckt, bricht er die Ausbildung zum Erzieher sofort ab.
Anstelle von Pädagogik bilden Gesang, Clownerie und Dramaturgie unter anderem die Grundlage seiner Ausbildung. 2012, nach zwei Jahren ist er staatlich anerkannter Darsteller für Clown-Theater und Komik.
Je komplizierter, desto unlustiger
Etwa 20 Auftritte braucht Timo mit einer neuen Nummer, bis sie rund läuft. Immer wieder wird bei Aufführungen nachjustiert.
„Umso komplizierter man es macht, umso unlustiger wird es eigentlich. Das ist auch oft ein gutes Beispiel: Wenn Kinder im Publikum sitzen und sagen: ‚Mama, was macht der da?‘ Dann weißt du schon, du machst was falsch. Es muss jeder verstehen. Es ist das Schönste, wenn das Kleinkind, der Intellektuelle und die alte Frau an derselben Stelle lachen.“
Heute ist Monsieur Momo bis 2023 ausgebucht, tritt im Zirkus Roncalli auf, hat Engagements in Varietés, auf Firmenfeiern und Festivals. Auch eine Festanstellung hat er: Als Krankenhausclown besucht er regelmäßig Kinderstationen.
„Es gibt wenig Leute, die sich vorstellen können, das beruflich zu machen. Heute geht es immer darum, viel Geld zu verdienen, einen gut angesehenen Job zu haben und ich glaube, dass es dadurch auch weniger Clowns gibt. Wenn du jetzt in einem Zirkus hineingeboren wirst und der Vater war Clown, der Opa war Clown – irgendwann, wenn es den Zirkus nicht mehr gibt, wird es vermutlich den Clown dann so dort nicht mehr geben. Ich kenne zwei, drei Clowns in meinem Alter – und dann hört es auch schon auf“, sagt Monsier Momo.
Traditioneller Zirkus kam aus der Mode
Die Wissenschaftlerin Franziska Trapp sieht das ganz ähnlich: „Es gibt ganz wenige zeitgenössische Clowns. Das liegt daran, dass der Clown im traditionellen Zirkus dazu eingesetzt wurde, um die Übermenschlichkeit der Akrobaten zu zeigen. Das funktioniert einmal durch den Trommelwirbel vor dem Trick. Dann gibt es dieses Klassische: Dreimal misslingt der schwierige Trick. Hu! Beim dritten Mal klappt es! Und dann haben wir noch den Clown als Gegenspieler zum Akrobaten, der entweder vorher oder nachher versucht über das Seil zu laufen, was natürlich misslingt!“, sagt Franziska Trapp.
Der traditionelle Zirkus kommt bereits in den 1970er-Jahren aus der Mode: Rund um die Welt sind Farbfernseher in den Haushalten zu finden, Unterhaltung, Comedy und wilde Tiere gibt es jetzt frei Haus am heimischen Bildschirm.
Cirque du Soleil arbeitet mit starken Narrativen
Der Zirkus sucht nach neuen Geschichten und findet sie in mystischen Welten und Fabelwesen.
„Das ist zum Beispiel, wenn man an Cirque du Soleil denkt, das ist ein Zirkus der ganz ganz starke Narrative aufnimmt. Der sehr theatral ist. Im Falle von Cirque du Soleil ist der Zirkus ein Mittel, um eine Geschichte zu erzählen.“
Der Zirkus Cirque du Soleil wurde 1984 vom Straßenkünstler Guy Laliberté im kanadischen Montreal gegründet und ist heute ein Unternehmen mit 3500 Mitarbeitern.
Weltweit bekannt wurde das Entertainment-Unternehmen mit Shows, bei denen komplett auf die Tierdressur verzichtet wird und Artistik, Theaterkunst und Livemusik im Mittelpunkt stehen.
Umbruch seit den 80er-, 90er-Jahren
„Die klassischen Zirkusleute sagen, das hat mit dem Zirkus überhaupt nichts zu tun“, sagt Zirkus-Archivar Dietmar Winkler. „Aber auch die Vertreter des neuen Zirkus sagen, um Gottes Willen, wir sind ja kein Zirkus, wir sind eigentlich schon Theater und mit dem klassischen Zirkus haben wir überhaupt nichts zu tun!“
So beschreibt Winkler den Umbruch, den die Zirkusse seit den 80er-, 90er-Jahren erlebten. Er selbst findet das nicht sonderlich dramatisch. Der Zirkus habe sich immer verändert, sagt er, habe sich immer den gesellschaftlichen Entwicklungen angepasst.
„Es gibt viele Genres, gerade im Bereich der Akrobatik, die natürlich verloren gegangen sind. Es gibt auf der einen Seite natürlich ein Aussterben gewisser Genres, auf der anderen Seite immer wieder neue Elemente. Eigentlich ist das das Wesen des Zirkus! Dass er sich immer wieder irgendwie erneuert und immer neue Einflüsse zum Zirkus kommen.“
Immer weniger Familienbetriebe
Mit der Weiterentwicklung des klassischen in den neuen Zirkus, ging auch die traditionelle Struktur verloren: Immer seltener wird er als Familienbetrieb geführt. Wie also wird das Wissen über Zaubertricks und artistische Kunststücke, das bislang in den Zirkusfamilien von Generation zu Generation weitergegeben wurde, heute vermittelt?
„Wenn wir jetzt durchs Fenster schauen, dann sehen wir den Artistikbereich, da gehen wir jetzt hin!“
Uwe Podwojski arbeitet in der staatlichen Ballett- und Artistenschule in Berlin. Er war früher selbst Artist im Staatszirkus der DDR, heute arbeitet er als Artistik-Pädagoge.
„Alle Artistik-Schüler haben klassischen Tanz, aber auch modernen Tanz. Heutzutage ist es ja so, dass diese Zirkuskunst von Artistik ja gar nicht mehr richtig zu trennen ist. Es verfließt ja mit Schauspiel, mit Tanz, man kann es gar nicht mehr so richtig trennen.“
Traum vom Leben im Scheinwerferlicht
Die 10 bis 18 Jahre alten Kinder an der Berufsschule träumen von einem Leben im Scheinwerferlicht. Damit es nicht ihre einzige Chance im Leben ist, hat die staatliche Schule ein duales System eingeführt. Neben der Berufsausbildung können die Kinder auch das Abitur machen.
Vom Hauptgebäude der Schule geht Uwe Podwojski in Richtung Turnhalle. Auf den Schulhof steht eine Gruppe von Achtklässlern. Wie stellen sich die Elf- und Zwölfjährigen ihr Leben als Artist vor?
„Also, wenn ich dann da Artist bin, dann will ich Vertikal-Tuch machen – mit so zwei Tüchern! Genau! Und dann so wuha.“
„Ich bin der Bo Kaufmann, ich bin elf Jahre alt. Ich möchte später wahrscheinlich Strapat machen! Das sind so zwei Seile, die hängen von einer Aufhängung runter und die haben Schlaufen, wo man sich dann reinhängen kann und Tricks machen kann.“
„Ich bin Samuel, ich will später auch mal Strapaten machen! Da schwingt man dann so rum, dann wird man hochgezogen, dann verheddert man sich und dann tut man so, als ob man runterfällt, dann renkt man sich die Arme aus und dann schleudert man da rum, dann dreht man sich ganz schnell und – ja, das find ich cool.“
Erfahrungen sammeln bei Engagements
Die Kinder haben mit Akrobatik, Tanz, Schauspiel und Schulunterricht eine 23 Stunden Woche. Viele Stunden davon verbringen sie in einer riesigen Turnhalle. In einer Ecke machen ein paar Schüler Handstand, in einer anderen stehen Schüler an, um über ein Seil zu balancieren und wiederum ein paar Schritte weiter sitzt eine Klasse vor ihrer Lehrerin am Boden und hört ihr aufmerksam zu.
„Das ist die 12. Klasse und in der Klasse haben wir auch Jungs, die mehrere Monate in Dresden bei einem Engagement, in einem Musical, waren und schon tolle Erfahrungen sammeln konnten.“
Podwojksi gibt Vincent, Ohle und Lukas ein kurzes Zeichen. Sie kommen und erzählen von den Eindrücken ihrer Auftritte.
„Sehr viel Erfahrung für auf der Bühne. Es hat einem diese ganze Welt von den Auftritten nähergebracht, viel greifbarer gemacht, weil man gemerkt hat, was bedeutet das eigentlich, wenn ich jeden Tag abends Show spielen muss und es muss jeden Abend passen. Wir waren jetzt für vier Monate immer in Intervallen in Dresden und haben dort Auftritte gemacht. Und das hat einen guten Einblick gegeben in die Welt. Aber allgemein zieht es mich nicht so weit weg. Ich möchte eher in der Umgebung bleiben.“
Talentvermittlung an der Schule
Früh übt sich, betont Podwojski, er will die Kinder schon jetzt an ein Leben im Showgeschäft gewöhnen. An der Schule ist er auch zuständig für die Talentvermittlung.
„Wenn man keine Verbindung hat, dann braucht man wirklich drei, vier Jahre, um Fuß zu fassen. Und wenn man schon ein bisschen empfohlen oder gezeigt wurde, dann geht das schneller.“
Die Grundgenres des traditionellen Zirkus haben sich verändert: Gute Clowns sind dort nur noch selten zu finden, Dompteure fast gar nicht mehr. Artisten arbeiten eher in Musicals. Was also bleibt noch übrig vom traditionellen Zirkus?
Zeitgenössischer Zirkus mit Tieren
„Es ist interessanterweise so, dass im zeitgenössischen Zirkus auch manchmal wieder Tiere miteingebunden werden“, sagt Jenny Patschovsky. „Und das aus einer ganz anderen Haltung heraus: Nicht immer den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, hin zu einem Weltbild, was alles auf Augenhöhe präsentiert, wo die Objekte und die Tiere eine eigene Handlungsmacht bekommen. Aber ich würde sagen, in Deutschland sind wir da noch nicht. Das kommt natürlich aus den Ländern, wo der Zirkus insgesamt als Kunstform weiterentwickelt ist. Es gibt vor allem viele französische Kompanien, die jetzt wieder mit Tieren arbeiten. Aber eigentlich ist das ein sehr spannender Aspekt, ich bin nicht dafür, dieses Thema komplett auszumerzen.“
Jenny Patschovsky ist Mitbegründerin und Vorsitzende des 2019 entstandenen Bundesverbands für Zeitgenössischen Zirkus, kurz Buzz. Der Zirkus der Gegenwart habe sich weiterentwickelt und beschäftige sich heute mit zeitgenössischen Themen, sagt sie. Die Menschen und ihre Umwelt stehen dabei im Fokus der Show. Der zeitgenössische Zirkus besinnt sich aber auch wieder auf alte Wurzeln: Anstelle einer Bühne wie in einem Musical wird wieder in einem Zelt in der Manege gespielt.
„Eben rund zu spielen ist was total anderes als in einer Guckkasten-Bühne sich zu präsentieren. Denn du hast das Publikum überall, du hast keine Stelle, wo du dich verstecken kannst. Und das Publikum sieht sich auch gegenseitig, das Publikum schaut sich ja beim Zuschauen zu. All diese Aspekte sind einzigartig für den Zirkus.“
Dachverband für zersplitterte Zirkusszene
Weil sich Deutschland der Einzigartigkeit von Zirkus nicht bewusst ist, würde man ein wenig neidisch auf die französische Szene blicken, meint Patschovsky. Dort wurde der Zirkus offiziell als Kulturgut definiert und die Zuständigkeit wurde aus dem Landwirtschafts- in das Kulturministerium überführt.
Die deutsche Szene hat ein Problem: Abgesehen vom DDR-Staatszirkus gab es nie eine große einheitliche Gesamtorganisation für den Zirkus, sagt Jenny Patschovsky vom Buzz. Das soll sich in Deutschland ändern. Deshalb mobilisiert sie gerade die zersplitterte Zirkusszene, um einen Dachverband zu gründen. Ihr erstes Ziel ist: Zirkus soll als Kulturgut anerkannt werden.
Zirkus-Festical auf dem Tempelhofer Feld in Berlin
Ein zeitgenössischer Zirkus ist in Deutschland gerade am ehemaligen Rollfeld des Tempelhofer Flughafens in Berlin zu finden. Dort steht ein großes weißes Zirkuszelt. Im Zelt laufen die letzten Vorbereitungen des Circus Festivals Lite, nach zwei Jahren Corona-Pause soll es heute Abend wieder eine Vorstellung geben.
Am Eingang des Zelts wartet bereits Josa Kölbel. Der gebürtige Deutsche hat selbst viele Jahre in Frankreich und den Niederlanden als Artist gearbeitet. Bis er vor sechs Jahren gemeinsam mit Johannes Hilliger das Berlin Circus Festival gründete.
„Weil zeitgenössischer Zirkus hier so wenig repräsentiert ist und keine Bühnen hat. Und wir haben dann gesagt, dass wir diesen Teufelskreis: Es gibt zu wenig Förderung, deswegen gibt es nicht gute Produktionen, deswegen gibt es wenig Spielorte, deswegen gibt es zu wenig Publikum, deswegen gibt es keine Förderung. Ha! Dass wir den halt irgendwo unterbrechen wollen, wo es uns am meisten liegt und das war eben: Sichtbarkeit zu schaffen. Dann die Produktionen her zu holen nach Berlin und zu zeigen: Es gibt ein Publikum dafür.“
Mühsamer Start vor sieben Jahren
Der Start für das Festival vor sieben Jahren war allerdings mühsam, erzählt Josa Kölbel. Es gab keine einzige Kulturförderung für den Zirkus, weil er in Deutschland als Gewerbe gilt. Nach dem Motto: Kultur findet in der Oper und im Theater, aber nicht im Zelt statt, musste er viel Überzeugungsarbeit leisten, bis er seine erste Kulturförderung bekam.
Dass das Zirkusfestival nichts mit dem traditionellen Zirkus zu tun hat, davon musste Kölbel zu Beginn auch das eigene Publikum überzeugen.
„Da wollten wir an allen Stellen damit brechen: Vom Aussehen der Plakate, wie das Zelt aussieht – nicht rot und gelb, sondern weiß und beige – dass das Gelände anders aussieht, dass, wenn die Leute hier herkommen, sofort erkennen, hier geht es um etwas anderes, und es ist klar erkennbar Zirkus, aber es wird nicht das Gleiche dort stattfinden, wie sie es sonst kennen, aus der Kindheit oder so.“
50 staatliche Hilfsprogramme für Zirkusse
Mittlerweile gibt es eine Reihe von staatlichen Hilfsprogrammen für den Zirkus. Neben dem Zirkusfestival werden zurzeit 50 Zirkusprojekte unterstützt, damit neue Shows entwickelt werden können. Das lockt wiederum Kompanien aus dem Ausland an und bereichert die Zirkusszene in Deutschland.
Die deutsch-schwedische Truppe Revue Regret zählt dazu, sie besteht aus dem Schweden Jakob Jacobsson und der Deutschen Lisa Chudalla. Die beiden haben sich auf der Artistenschule in Rotterdam kennen gelernt.
"Einfach mal Arbeit für sechs Monate"
Neben dem großen weißen Zelt am Tempelhofer Feld steht ein bunter Wohnwagen. Es ist die Künstlergarderobe, in der sich die Lisa Chudallla gerade für ihren Auftritt in zwei Stunden vorbereitet. Die 31-Jährige arbeitet bereits seit ein paar Jahren als Artistin und hatte schon die unterschiedlichsten Engagements.
„Also ich war auf einem Kreuzfahrtschiff, was total schräg war, aber auch wahnsinnig spannend. Und ich habe ganz viele Events gemacht und war in Dinnershows und Kabarett und Varieté. Klassischen Zirkus auch, das war schon spannend, also Zelt ist sowieso immer spannend!“
Gerade bei ihrem ersten Engagement auf dem Kreuzfahrtschiff war sie sich nicht ganz sicher, ob sie es überhaupt annehmen soll.
„Das war was, wo ich am Anfang gedacht habe: Boah, das ist überhaupt nicht meines. Na, gut, aber es ist halt ein Vertrag – das ist halt einfach mal Arbeit für sechs Monate. Habe ich dann auch gemacht! Und es war total spannend, es war für ein halbes Jahr lang, die Welt bereisen. Also das wäre jetzt nichts, was ich immer wieder hintereinander machen würde, aber ich habe drei Verträge in drei Jahren gespielt und das war eine super coole Zeit.“
Chancen ergreifen, die das Leben bietet
Ihre Berufswahl hat Chudallla niemals bereut, es hätten sich in Varietés, Zirkussen und auch in Dinnershows immer Gelegenheiten für Engagements geboten, um ihren Lebensunterhalt ohne Sorgen zu verdienen.
Die Chancen ergreifen, die einem das Leben gibt, war Jacobsson und Chudalla von Revue Regret so wichtig, dass sie die aktuelle Show auch unter dieses Motto gestellt haben.
„Es geht um Bereuen und Loslassen und im Großen: Wie wir Menschen mit Bereuen umgehen. Das fanden wir als Gefühl einfach wahnsinnig spannend, weil alles, was man bereut, da ist niemand anderes schuld als man selber. Das hat alles nur mit eigenen Entscheidungen zu tun oder mit Sachen, die man gemacht hat oder nicht gemacht hat.“
Am Abend füllt sich allmählich das Zirkuszelt und endlich darf Josa nach zwei Jahren der Corona-Pause die Zuschauer in den Rängen willkommen heißen. Mithilfe verschiedener artistischer Tricks am Vertikalseil, mit einem überdimensionalen Hula-Hoop-Reifen, oder eingesperrt in einem Koffer erzählen Chudalla und Jacobsson eine Geschichte rund um das Thema Bereuen.
Dem Publikum gefällt es und auch Josa Kölbel ist zufrieden, die Vorstellungen ist gut besucht. Damit stehen die Chancen gut, dass er im nächsten Jahr wieder eine Kulturförderung bewilligt bekommt.