Traditionell russisch

Von Jörg Oberwittler |
Wachteln haben sehr laute Stimmen, und sie sind vom Aussterben bedroht: beides Gründe, warum das Frauenensemble Perepjolotschki die Wachteln in seinem Namen hat. Laut wollen sie sein, und vom Aussterben bedroht sind ihre Lieder, die es zu retten gilt. Und so singen die Frauen seit genau 25 Jahren alte0 russische Volkslieder.
Chorleiterin Irina Brockert-Aristova: "Ich muss diese Lieder singen, um eben eine Verbindung zu meinen Wurzeln, also für mich lebbar zu machen. Das hält mich am Leben ganz schlicht und einfach."

Elisabeth Sasonova: "”Also für mich sind die Melodien anders. Es ist eine unglaubliche Kraft drin. Und diese Kraft merke ich auch bei den Menschen dort im Land. Und es ist eine sehr starke Wehmut auch drin.""

Anna Tietze: "Das ist nicht einfach irgendein russischer Chor, der einfach russische Lieder, die gerade so im Kopf sind, singt. Sondern da stecken wirklich ganz viele ethnologische Recherchen dahinter."

Chorprobe am Montagabend in der Fichtenberg-Oberschule in Berlin-Steglitz. Im Stuhlkreis sitzen die Frauen des Ensembles "Perepjolotschki" um ein Klavier. Die Weihnachtskonzerte rücken näher. Schon bald wollen sie in ihren bunten Volkstrachten wieder in der Kirche stehen und a cappella – nur von einem Akkordeon begleitet – ihre traditionellen Lieder singen. Chorleiterin Irina Brockert-Aristova ist deshalb heute sehr penibel.

"Oh, der Text war nicht einwandfrei. Ich hab ein "Radussja" irgendwo gesehen statt ein ‚Raduissja’. Ihr müsst aufpassen, dann erwartet man irgendein ‚Mädel’. Viel ‚u’, aber trotzdem ein ‚j’!"

Immer wieder unterbricht die Deutsch-Russin den Gesang, bemängelt falsche Betonungen, fordert exakte Pausen und die korrekte Tonlage. Dabei macht sie sich mit einem Bleistift zwischendurch feine Notizen in ihre Noten. Die 61-Jährige sieht ihre Arbeit als große Verantwortung.

Denn mit den Babuschkas, den Mütterchen Russlands verschwinden auch die Lieder, die voller Sehnsüchte, Freude, Trauer und Lebenserfahrungen stecken.

" …" heißt dieses Lied. Es erzählt die Geschichte eines Mädchens namens Mascha, das bittere Tränen weint. Die Liebe bringt ihr doppeltes Leid: Schläge von den Eltern und Gefühllosigkeit von dem Jüngling, den sie liebt.

Trauer, Angst vor Verlust, Einsamkeit – das sind Gefühle, die viele kennen auch Irina Brockert-Aristova. Die Musik spiegelt das eigene Leben. Wohl deshalb ist die Chorleiterin so aktiv: Vor dem Terror Stalins flüchteten ihre Eltern mit ihr Anfang der Fünfzigerjahre in die USA. In New York wuchs sie fern der Heimat und restlichen Verwandtschaft auf. Denn eigentlich wollte die Familie mit vier Generationen ausreisen. Doch die Uroma bekam kein Visum für die USA, weil sie zu alt war.

"Und da ging ein ganz radikaler Riss durch die Familie, der mich schwer erschüttert hat. Und wenn ich diese alten Lieder singe, dann werde ich wieder heil."

Als junge Frau studierte sie Gesang, kehrte in der Studentenzeit zurück nach Europa und gründete 1984 in Westberlin das Ensemble "Perepjolotschki" - als Ausdruck leidenschaftlicher Liebe zur russischen Heimat, wie sie heute sagt. Deshalb steckt sie ihre ganze Energie in die Aufführungen, gibt Klavierunterricht, spart Geld für die teuren CD-Aufnahmen.

Brockert-Aristova sagt: "Ah, danke. Badet in diesem schönen, zweistimmigen Klang."

Bei den wöchentlichen Proben tragen die 16 Frauen noch ihre bequemen Freizeitkleidung – doch bei den Auftritten ändert sich das Bild drastisch: dann stehen sie in aufwändigen Volkstrachten vor dem Publikum. Tragen lange, farbenfrohe Röcke, bestickte Tücher über den Schultern und liebevoll verzierte Mützen. Farbenfrohe Folklore eben, das kommt an.

Von der Studentin bis zur Rentnerin ist bei den Sängerinnen jede Altersgruppe vertreten. Auch die russische Sprache beherrschen viele von ihnen nur teilweise, nicht jede hat russische Vorfahren. Aber sie alle eint die Liebe zur russischen Musik – und das eine Ziel, sagt Ewa Alfred: Die Lebensweisheiten der vorangegangenen Generationen zu bewahren.

Ewa Alfred: "Ich vergleiche es mal mit der Artenvielfalt in der Biologie. Also, wie jede Blume einen Wert hat, in sich eine Qualität hat - so hat jede Kultur auch in sich eine Qualität, einen Reichtum."


Immer mehr Menschen in Deutschland singen im Chor. In Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft deutscher Chorverbände (ADC) stellt Deutschlandradio Kultur jeden Freitag um 10:50 Uhr im Profil Laienchöre aus der ganzen Republik vor: Im "Chor der Woche" sollen nicht die großen, bekannten Chöre im Vordergrund stehen, sondern die Vielfalt der "normalen" Chöre in allen Teilen unseres Landes: mit Sängern und Sängerinnen jeden Alters, mit allen Variationen des Repertoires, ob geistlich oder weltlich, ob klassisch oder Pop, Gospel oder Jazz und in jeder Formation und Größe.