Manchmal muss man einfach loslassen
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Tränen - der eine lässt sie fließen, die andere kämpft dagegen an. Woran liegt das? Welche Rolle spielen gesellschaftliche Vorstellungen? Und welche Vorteile hat es, wenn man Tränen freien Lauf lässt? Forscher klären auf.
Mein Freund Gunnar lenkt beim Thema "Tränen" erstmal von sich selbst ab und erzählt lieber von seiner sensiblen Tante:
"Tante Dorchen war eine ganz liebenswürdige ältere Dame. Sie konnte fantastisch Klavier spielen, singen, war sehr agil. Aber in vielem war sie immer ein bisschen 'hyper' - auch in ihrer Rührseligkeit. Wenn es irgendwie rührend wurde, dann ging’s immer ganz schnell mal in die Träne."
Ausgeglichene Menschen weinen seltener
Über Tante Dorchens Rührseligkeit lässt sich leicht erzählen. Aber wie steht’s um die eigenen Tränen, Gunnar? "Ach naja … Tränen, hm."
"Es gibt Hinweise darauf, dass sehr ausgeglichene Menschen nicht so viel weinen", erklärt der Psychiater Oliver Dierssen. "Menschen, die eher unausgeglichenen sind oder die vielleicht schon viele schlechte Erfahrungen im Leben gemacht haben, weinen dann auch schneller, die verlieren dann sozusagen richtig die Fassung. Oder, wie man sagt: Man ist dann besonders nah am Wasser gebaut."
Traurigkeit wird abgewertet
Viele kämpfen gegen ihre Tränen an, reden auch nicht besonders gern darüber, so wie Gunnar. Meist hängt das mit der Umgebung zusammen, sagt der Gesundheitswissenschafter Udo Baer, Autor des Buches "Vom Schämen und Beschämt werden".
"Mit den Tränen zeigen wir etwas von uns, was oft nicht so gewünscht ist", erläutert Baer. "Es gibt Werte in der Gesellschaft oder in der Erziehung, die dem sehr entgegenstehen: Dass es oft heißt, 'du darfst nicht weinen' oder 'ist doch nicht so schlimm, du bist zu empfindsam, du bist zu weich, zu dünnhäutig' - 'zu, zu, zu, zu'. Weinen, Tränen und Traurigkeit zu zeigen, wird abgewertet."
Kein Mensch weine in der Öffentlichkeit, außer auf Trauerfeiern, sagt Gunnar. "Sonst ist das für die Menschen ein 'sich nackig Machen'. Wenn jemand weint, dann ist er soooo nackt und hilflos! Und dann muss die Umgebung was tun. Und da ist eben auch die Frage, ob die Umgebung das hergibt."
Die Angst vor der Beschämung
Hier kommt das Gefühl der Scham ins Spiel. Unsere natürliche Scham zeigt uns an, dass wir womöglich etwas Intimes preisgeben, das nicht in die Öffentlichkeit gehört, erklärt Udo Baer:
"Das ist meine Erfahrung bei vielen, vielen Menschen und auch von mir persönlich, dass Menschen ausgelacht werden, dass sie vorgeführt werden, dass es 'Beschämung' gibt. Die kommt eher von außen, während die natürliche Scham von innen kommt. Da ist auch Angst dabei, ausgelacht zu werden. Angst, erniedrigt zu werden, das ist leider so."
Tränen haben Signalwirkung
Eigentlich ist ein Geschenk der Natur, dass wir Menschen weinen können.
"Echte Tränen" unterscheiden sich dabei übrigens von solchen, die uns beim Zwiebelschneiden laufen. Die sind eher dünnflüssig, erklärt Oliver Dierssen.
"Wenn Menschen richtig, richtig traurig sind, dann sind die Tränen ein bisschen öliger. Die bleiben auch länger im Gesicht. Die kullern dann so richtig. Und das hat wahrscheinlich den Zweck, dass die anderen das sehen. Das heißt: Die Tränen sind vor allem als Signal wichtig - 'hey, ich will nicht mehr kämpfen. Ich will nicht mehr wütend sein, sondern mir geht's wirklich schlecht.'"
"Wenn man Tränen zulässt, ist man stark"
Das Weinen ist also genau dafür gemacht, dass andere es merken.
"Tränen gehen ja viel auch nach innen", sagt Gunnar. "Bei dem einen gehen sie nach innen, bei dem anderen gehen sie nach außen. Die Tränen nach außen sind einfacher, als die nach innen. Weil die nach außen mehr befreien."
Erleichterung durch Weinen? Befreien Tränen tatsächlich? Jein, sagt Udo Baer. In Einsamkeit zu weinen, könne die Trauer verewigen: "Aber sie mit anderen Menschen zu teilen, ist gut und das ist wichtig. Ganz gleich, ob man sich schämt oder nicht: Wenn man Tränen zulässt, ist man stark."
Weinen kann man üben - im Kino
Im Kino kann auch Gunnar weinen. Bei einem tollen Film können "einem schon die Träne kommen", sagt er. "Weil dann das ganz eigene Leben sich widerspiegelt oder ein bestimmter ein Moment. Und dann ist man auch in der Rührung. Aber dann hat man natürlich auch das Gesicherte - die Kapsel, die Blase, in der man sein muss."
Udo Baer ergänzt: "Da kommt natürlich auch die ungelebte Traurigkeit aus uns heraus und wird dann öffentlich. Deswegen ist das gerade über Filme oft ein wichtiger Prozess."
Im Schutz der Dunkelheit lässt sich üben, was sich gern bei Licht getraut werden darf.