"Träume sind ein Versuch, das Leben zu erweitern"
Die Träume seien einmal Teil religiöser Offenbarung, eines Deutungsgeschehens für das Leben insgesamt gewesen, erklärt der Psychotherapeut Eugen Drewermann. Man gehe mit ihnen "gewissermaßen Hand in Hand durch eine imaginäre Unterwelt voller Gefahren".
Kirsten Westhuis: In einigen Kirchen und auch in christlichen Wohnzimmern des Landes sind doch tatsächlich noch heute, am 2. Februar, Christbäume und Krippen zu bestaunen. Da hat keiner vergessen, aufzuräumen - nein: Erst heute, am Fest der Darstellung des Herrn, auch Mariä Lichtmess genannt, geht bei den Protestanten ganz offiziell die Weihnachtszeit zu Ende.
Bei den Katholiken war es bis zu den Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils auch so. Ein immer wiederkehrendes Motiv in den biblischen Geschichten der Weihnachtszeit ist der Traum. Im Traum werden Botschaften verkündet, Engel erscheinen oder Erkenntnisse fallen von Himmel. Das könnte im wahren Leben eigentlich auch so sein - nur dass viele Menschen ihre Träume kaum noch wahrnehmen.
Das ist schade, sagt der Theologe und Psychoanalytiker Eugen Drewermann, denn Träume stecken voller Bilder, die viel für den Träumenden und seine Persönlichkeit parat halten - aber auch weit darüber hinaus gehen. Ich habe vor der Sendung mit Eugen Drewermann über das Träumen und die Bedeutung von Träumen in der Religion gesprochen.
Zunächst einmal habe ich ihn gefragt, was denn eigentlich geschieht, wenn wir uns hinlegen, die Augen schließen und zu träumen beginnen?
Eugen Drewermann: Eigentlich sinken wir zurück in eine Welt, die noch außerhalb der Sprachfähigkeit liegt, in der wir mit Bildern unser Leben zu erklären versuchen. Tagesreste, die nicht erledigt worden sind, Erinnerungen an frühe Kindheit, die symbolisch sich einspielen halten ein Szenario bereit, das jeden zu dem Shakespeare oder Dante seines eigenen Lebens macht.
Er fängt an, kreativ sich Sinnantworten zu geben auf akute Problemstellungen und wird dabei darauf aufmerksam, dass die Konflikte, die er im Moment durchzustehen hat, zum großen Teil sich aus der Art seiner Persönlichkeit ergeben - und die wieder hat zu tun mit den Prägekräften aus der frühen Kindheit. Und auch die Art, wie er mit den Konflikten umgeht, bildet in etwa sich in einem Traum ab.
Mit anderen Worten: Wir haben drei Zeitphasen - Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, medizinisch gesprochen Diagnose, Anamnese und Prognostik - versammelt in den Bildern eines Traums. Sie sind zeitlos, um mit den Konflikten in der Zeit heute besser umzugehen, eine Art dichterischen Prosadenkens.
Westhuis: Das ist ja eine richtige Fülle, die da ein Traum zu bieten hat, dann ist es nicht nur ein Abfall des Tages, der da verarbeitet wird, sondern Träume haben richtig ... ja, sind wichtig?
Drewermann: Sie sind unbedingt wichtig. Man weiß heute, dass auch Kinder bereits träumen, und für die trifft die jetzt gegebene Erklärung natürlich nicht zu: Sie haben noch keine Erfahrungen auf die sie zurückblicken, auch noch keine Vorstellung von der Wirklichkeit, die sie verarbeiten müssen.
Da setzt sich ein traumähnliches Geschehen frei und zeigt, dass es eine Art von Vorübung gibt in einem virtuellen Raum von Möglichkeiten, in denen man sich einübt für das, was dann als Wirklichkeit einem entgegentritt. Man kann auch sagen: Träume sind ein Versuch, das Leben zu erweitern - durch Imagination. George Bernhard Shaw hat einmal gesagt: Es gibt Leute, die träumen, um besser einzuschlafen, andere träumen, um endlich aufzuwachen. Das Erstere sind die Banausen, das Zweite die Dichter. Und natürlich meinte er damit, dass Menschen wie Autoren der Weltliteratur insgesamt über die Fähigkeit verfügen, in Bildern Szenen zu schaffen, die sogar Allgemeingültigkeit in den großen Träumen der Menschheit und der Menschheitsliteratur gewinnen können.
Dann wird nicht nur das einzelne persönliche Erleben - mit Freud gesprochen, die neurotischen Verzerrungen des Unbewussten - in die Bildebene gehoben, sondern es drückt sich etwas aus, das höchst sinnreich ist und in der Problembewältigung und -lösung beispielgebend für eine Vielzahl von Persönlichkeiten.
Westhuis: Was sind das zum Beispiel für Allgemeingültigkeiten?
Drewermann: Es sind ja, selbst wenn wir von Neurosen ausgehen, die in Träumen sich verdichten oder zur Darstellung kommen, immer auch Konflikte, die alle betreffen, die in gewissem Sinne typisch sind, wenngleich quantitativ gesteigert.
Sie können exemplarisch sein, wenn sich damit Lösungen verbinden, die in einer bestimmten Kultur oder sogar grundsätzlich auf archetypischer Ebene für alle Menschen in Geltung treten. Nehmen wir die Prosa von Kafka etwa, das sind Traumnaherzählungen, die außerordentlich erhellend sind für den Zustand nicht nur am Anfang des 20. Jahrhunderts, sondern offensichtlich für viele Kulturen, für den Zustand menschlicher Entfremdung, wiederum nicht nur in einer bürokratisch verwalteten Welt, sondern in absurder Sinnlosigkeit, im Hoffen auf Antworten, die nicht kommen oder sich endlos zu verzögern scheinen.
Was da zum Ausdruck gebracht wird, ist nicht schon die Lösung des Konflikts, aber es ist beispielgebend, ein Weg, Leute, die in gleicher Lage sich fühlen, bei der Hand zu nehmen und also weniger in der Einsamkeit und im Alleinsein zurückzulassen.
Westhuis: Ein Hoffen auf Antworten - wie kann ich denn mit einem Traum umgehen? Gibt es Hilfestellungen in diesen Deutungen und gibt es da ein Richtig und ein Falsch? Wie kommt man zu den Deutungen?
Drewermann: In der Psychotherapie hat man es insofern einfacher als man keine Deutung erfinden muss. Man hat ja die Patientin, den Patienten bei sich. Man versucht immer noch klassisch in der Methode der freien Assoziation, die Sigmund Freud zur Traumdeutung benutzt hat, das Feld möglicher Vorstellungen zu erweitern und dann wieder einzugrenzen.
Die Zonen, wo die stärksten emotionalen Schwingungen sich beobachten lassen, haben den höchsten Wahrscheinlichkeitswert, dass wir da am wirklichen Erleben sind: Welche Erinnerungen also kommen, welche Einfälle melden sich zu Wort, welche Vorstellungen, wie es weitergehen könnte, bringt eine bestimmte Traumsequenz mit sich?
Und man kann denken, es müssen bei einer stimmigen Deutung die verschiedenen Bilder, so disparat sie zu sein scheinen, am Ende zusammenpassen. Die Traumhandlung selber ist mitunter recht wirr, hat vieles durch Verdrängungsvorgänge sich selber verstellt. Kommt man aber zu dem, was auf der Bedeutungsebene sich abspielt, darf man im Grunde eine kohärente Interpretation des Traums erwarten, und die Stimmigkeit im Ganzen ist ein ganz gutes Kriterium dafür, dass man auf der rechten Spur ist.
Wenn man für jedes Detail - genauso wie bei der Interpretation von Märchen oder entsprechenden mythischen Texten der Weltliteratur - eine Sondererklärung braucht, dann zeigt sich, dass man die Themenstellung und die Durchführung noch nicht wirklich begriffen hat. Bei einer Analyse ist der Patient, die Patientin selber der Interpret. Man geht mit ihm lediglich gewissermaßen Hand in Hand durch eine imaginäre Unterwelt voller Gefahren, voller Abgründe, voller Undurchschaubarkeiten. Und alleine, dass da ein solcher Schutz, eine solche Begleitung ist, macht den Mut, sich mit vielerlei Lebensinhalten auseinanderzusetzen, die sonst am liebsten vermieden würden.
Es ist, wie wenn ein Junge in den Keller geht und im Dunkeln vor eine Tür kommt, die jahrelang nicht geöffnet wurde aus Furcht, dahinter könnten Gespenster hausen. Zu zweit schafft man das, und dann stellt man fest, dass da vielleicht aufgeräumt werden muss, aber so unheimlich wie befürchtet war es dann doch nicht.
Westhuis: Hören Sie jetzt den zweiten Teil des Gesprächs mit Eugen Drewermann, der mit dem Blick auf Träume in der Bibel beginnt. Sowohl im Alten als auch im Neuen Testament kommen viele verschiedene Träume vor.
Da sind zum Beispiel die alttestamentarischen Geschichten über Josef, der dem Pharao in Ägypten seine Träume deutete. Oder im Neuen Testament, besonders in den Erzählungen rund um die Geburt Jesu: Da erscheint dem Zimmermann Josef im Traum ein Engel, der den Namen des Kindes verkündet, die drei Sterndeuter auf dem Weg zum Stall erkennen im Traum, dass sie dem König Herodes nicht trauen können und wieder Josef erfährt in einem Traum, dass er mit dem Kind fliehen muss.
Ich habe Eugen Drewermann gefragt, was es mit diesen Traumgeschichten in den biblischen Schriften auf sich hat: Haben Träume eine eigene Bedeutung oder sind sie als Stilmittel zu sehen?
Drewermann: Zum einen haben Sie vollkommen recht: Die Träume waren einmal Teil religiöser Offenbarung, eines Deutungsgeschehens für das Leben insgesamt. Sie konnten etwa bei den Priesterärzten im Heiligtum von Epidauros im antiken Griechenland im Asklepios-Kult eingesetzt werden als ein Heilmittel, analog zur heutigen Psychotherapie analytischer Prägung.
Die Priester sammelten die Traumbotschaften aus der vergangenen Nacht und erstellten daran eine Art Seelenmedikament - Handlungen, die es jetzt gelte, durchzuführen, Einsichten, die man gewinnen konnte. Der Glaube, dass das Göttliche oder die Gottheit durch Träume redet, ist uralt, schon weil das Freiheitserleben des seelischen Vorgangs losgelöst von Raum und Zeit im Traum eine ganz eigene Form von Transzendenz zu besitzen scheint.
Dann kommt hinzu, dass merkwürdigerweise im Monotheismus in der Bibel im Alten Testament die Träume sehr zwiespältig gesehen werden, eigentlich bekämpft werden, wie die ganze Ebene des Göttlichen, in der ja viele Teile der Psyche selber sich in himmlische Mächte hineinverlegen. Wenn Sie im Alten Testament Träumen begegnen, sind es in aller Regel Geschichten, die aus Ortslegenden übernommen werden.
Der Traum zum Beispiel Jakobs in Bethel am Hause Gottes oder im Steinheiligtum von Luis, wie es ursprünglich heißt, wo die Engel auf der Leiter auf- und runtersteigen - das ist eine Legende, die das Alte Testament übernimmt in einer bestimmten Schicht der Tradition der ersten fünf Bücher Moses.
Sie können Daniel sehen, wie er am Hofe des Großkönigs Träume deutet und damit den Untergang des Reiches vorherschaut. All das sind aber Bilder, die in der Fremde spielen. Auf eigenem Grund und Boden, da, wo der israelitische Glaube an den Gott Jahwe sich selber ernst nimmt, sind Träume ausgeschlossen.
Das ist wichtig zu sehen, weil in der Tat im Neuen Testament, speziell im Matthäus-Evangelium die Träume eine Schlüsselfunktion haben. Man kann sagen, dass das Jesuskind nicht überlebt hätte, ohne dass sein Pflegevater Josef fähig gewesen wäre, sich warnen zu lassen von einem Engel, der ihm erläutert: Das Kind, das jetzt auf der Welt ist, wird eine Botschaft mit sich bringen und eine Persönlichkeit besitzen, die den gesamten Machtbesitz der Regierenden – König Herodes in Jerusalem, man muss hinzufügen Kaiser Augustus in Rom – von Grund auf infrage stellt. Es wird die Botschaft eines Friedens sein, der sich nicht mehr gründet auf überlegene Gewalt, auf Herrschaftsmacht, auf der Attitüde der Ausbeutung und der Versklavung ganzer Völkergruppen. Es wird Friede sein, indem Menschen einander verstehen und die Angst abbauen, die der eine vor dem anderen hat, schon wenn er bewaffnet vor dem anderen steht.
Diese Botschaft ist gefährlich für die Mächtigen, aber segensreich für die Ohnmächtigen. Eine Revolution also. König Herodes wird dann das, was zur Welt gekommen ist, ausrotten, der Legende nach. Historisch war das sicher nicht so, aber die Legende erzählt es als ein erweitertes Traumbild. Man kann es auch innerpsychisch sehen: Ein wirklicher Neuanfang würde so viel aufbrechen in unserem eigenen Leben, dass die Macht des bisher gültigen Verstandes unser Leben, wie wir es führen mussten, zutiefst dabei infrage gestellt wird.
Übrigens geht die Geschichte bei Matthäus bis zum Lebensende Jesu. Als Jesus vor Pilatus steht und wird vernommen, weiß der Landpfleger Roms nicht, ob er ihn hinrichten soll oder nicht. Er ist ein König, aber in welchem Sinne? Dann kommt die Frau des Pilatus und überrennt ihn. Sie hätte in der letzten Nacht Böses durchmachen müssen im Traum seinetwegen. Diese Warnung könnte der Landpfleger ernst nehmen. Nur weil er es nicht tut, richtet er Jesus hin. Wenn Männer imstande wären, an ihre eigenen Träume zu glauben wie an eine Botschaft Gottes, hätte das Evangelium eine enorm verbesserte Chance in unserer westlichen Welt, ohne jede Frage. Matthäus deutet das an. Er sagt dann sogar: Es ist der Weg zum Christus, wie wenn man einer inneren Berufung folgt und dann über Weiten hinweg sich aufmacht, den Ort zu finden, an dem der (...) still steht.
Westhuis: Was bedeuten denn diese biblischen Träume und auch diese Bilder für den normalen träumenden, aber auch glaubenden Menschen? Ist da auch Raum für die eigene Gottesbeziehung im Traum?
Drewermann: Manche Träume sind religiös schon deswegen von großer Bedeutung, weil sie etwas vermitteln, das rein rational sich gar nicht sagen lässt. Eine Frau etwa verliert ihr Kind durch einen Unfall oder durch schwere Krankheit und leidet entsetzlich daran. Aber dann träumt sie des Nachts, wie sie mit dem Kind redet oder wie das Kind glücklich ist. Natürlich liegt es jetzt nahe bei der Hand zu sagen, das sind reine Wunschträume, aber es ist etwas anderes, ob man etwas wünscht oder gezeigt bekommt. Wieder kann man jetzt sagen, aber es ist doch nur ein Teil der eigenen Seele, der dem Bewusstsein diese Bilder vorgaukelt, in Wirklichkeit aber hat dieser Teil der eigenen Seele eine Botschaft, die in sich richtig sein kann.
Vielleicht ist der Tod gar kein Tod, vielleicht ist die Liebe stärker als die Begrenzung unseres irdischen Lebens. Vielleicht gibt es eine Gemeinsamkeit, die vom Tode nicht zerstört wird. Das alles sind Andeutungen, die wir im Traum uns nahelegen, die in den Mythen beschworen werden, die den Inhalt der Religion darstellen und in sich selber vom privatesten Erleben bis zur kollektiven Daseinsdeutung ganzer Kulturen Einfluss auf die Art, wie wir selber uns verstehen, haben.
Westhuis: Träume sind manchmal sehr schwer zu greifen. Viele Menschen kennen dieses Gefühl, wenn man morgens völlig gerädert aufwacht, weil man das Gefühl hat, man hat ganz wild geträumt. Bruchstücke hat man vielleicht vor Augen, aber sobald man versucht, das auch nur in Worte zu fassen, trifft das Bild nicht. Herr Drewermann, haben Sie ganz praktische Tipps, wie kann man anfangen, mit seinen eigenen Träumen umzugehen und sie auch für sich zu nehmen?
Drewermann: Am besten ist ein ruhiges Ausschlafen. Das sind Träume rege, und die können wir dann auch beobachten und in den Tag hineinretten. Es hilft mitunter auch der Vorsatz, sich Träume merken zu wollen. Mit dieser Absicht einschlafend, haben wir eine ganz gute Chance, Träume auch noch zu erhaschen, wenn wir aufwachen. Das Dritte ist: Wir sollten uns Mühe geben, die Träume zu behalten, denn sonst sind sie in der Tat sehr schnell verschwunden. Das kann ganz schnell gehen. Aber wenn wir ihnen Aufmerksamkeit schenken beim Aufwachen, wenn wir sie womöglich verschriftlichen, dann bleiben sie in unserer Erinnerung, und wir können uns ihnen mit größerer Aufmerksamkeit dann auch, was die Interpretation angeht, zuwenden.
Dass Sie Angstträume erwähnen, Albträume, zeigt, dass wir anders als in der Freud'schen Traumtheorie ganz sicher nicht nur Wünsche und Wunschverbote uns zurechtlegen, sondern dass es Abgründe in unserem Leben gibt, vor denen Träume uns warnen können oder wo Trauma-ähnliche Situationen in der Biografie noch mal eingespielt werden zur besseren Verarbeitung. Traumsequenzen, die immer wieder vorkommen, zeigen, dass da ein Konflikt ist, der dringlich danach ruft, dass man sich mit ihm bewusst auseinandersetzt. Da klopft jemand sozusagen an die Tür und bittet um Einlass. Und die Träume werden dann erst verschwinden oder schwächer werden, wenn wir imstande sind, eine auf die Zukunft weisende Lösung zu finden.
Das ist im Tagesbewusstsein auch mitunter der Fall, Leute sind, die nur in der Vergangenheit leben, die auch von sich selber sagen, ich bin überhaupt nicht in der Gegenwart. Und sie hatten eigentlich nie eine Zukunft, ihr ganzes Leben war wie überwältigt, wie niedergewalzt von der Person ihrer Mutter, ihres Vaters. Da ist es sehr wichtig, sich durch Erinnerung noch mal klarzumachen, was da mal passiert ist. Und dabei können wieder jetzt die Träume helfen. Sie erinnern an eine Vergangenheit, damit man endlich da herausfindet. Es ist der Gang des Orpheus in die Unterwelt, um Eurydike zurückzuholen in die Wirklichkeit. Die Auseinandersetzung im Bewusstsein ist dabei das Entscheidende. Und wenn sich das am besten im Austausch mit einem anderen klären lässt, dann hat man eine gute Möglichkeit, sich selber auf die Spur zu kommen.
Ganz alleine ist die Traumdeutung ziemlich schwierig, weil man am Tage fast routinemäßig dabei ist, sich die ganze Wahrheit über sich selber nicht einzugestehen, an bestimmten Standards und Stereotypen des eigenen Ichs festzuhalten, manche untergründige Wahrheiten, die die Träume anbieten könnten, für gar nicht denkbar zu nehmen.
Westhuis: Und was sind da helfende Traumdeuter, wenn man jetzt nicht in einer Psychoanalyse ist, was sind da helfende Traumdeuter im Alltag?
Drewermann: Träume sind insofern erst einmal ungefährlich, als sie noch gar nichts wollen, sondern lediglich andeuten, Bilder liefern, die noch mal zur Stellungnahme aufrufen. Deswegen ist es so wichtig, dass man sie nicht moralisch beurteilt und sofort sagt, das darf aber nicht sein. Im Traum geht es nicht darum, was sein darf, sondern was in der eigenen Seele sich abspielt und was darin ist. Und da ist erst einmal alles berechtigt. Man müsste also die moralische Eigenzensur – die Dauerbeobachtung des Über-Ichs psychoanalytisch gesprochen –, die verinnerlichten Standards, die man seit Kindertagen im Umgang mit sich selber aufgeprägt bekam, beiseite zu stellen, um etwas ehrlicher zu werden, um ganzheitlicher zu werden.
Darum gilt ein Wort aus dem Johannesevangelium: Die Wahrheit wird euch frei machen. Solange wir immer noch Angst haben vor uns selber und vor dem, was in uns liegt, werden wir uns selber unterdrücken, an uns vorbei leben, ganze Zonen unserer Psyche im Abseits halten, die dann eine eigene Gesetzmäßigkeit von oft gefährlicher Dynamik sogar entfalten können. Wir sind nicht mit uns identisch. Und dann hat der Freud-Schüler Alfred Adler mal gesagt: In gewissem Sinn ist jede Lüge so etwas wie der Beginn der Neurose, oder umgekehrt, jede seelische Erkrankung so etwas wie eine Lüge sich selber gegenüber.
Westhuis: Herr Drewermann, die Zeit drängt, aber eine Frage noch: Sollte denn dann in der Kirche, vor allem in der katholischen Kirche, mehr geträumt werden?
Drewermann: Das wäre außerordentlich viel wert, wenn speziell die katholische Kirche ihre eigenen Dogmen endlich symbolisch interpretieren wollte, statt den Gläubigen weiszumachen, dass es sich um die Wiedergabe historischer Fakten handeln würde, die Geschichte von Bethlehem etwa, von der wir vorhin geredet haben. Das sind wunderbare Bilder über die Person Jesu, es sind Träume, die uns nahelegen, das Wesen eines Mannes zu begreifen, der unser ganzes Leben von Gott her zu erneuern vermöchte.
Aber wenn man jetzt erklärt, dass biologisch Maria eine Jungfrau gewesen sein muss, wie Benedikt XVI. gerade in seinem neuen Buch über die Anfänge Jesu, dann spaltet man Glauben und Vernunft, dann schafft man eine Schizophrenie des Bewusstseins, die außerordentlich gefährlich ist. Wer zwischen Begriff und Bild nicht unterscheiden kann, zwischen Symbol und Wirklichkeit, wer sich weigert, diesen Unterschied überhaupt zuzugeben, begibt sich in eine Sphäre hinein, die quasi am Rande des Psychotischen liegt.
Das hat in den 50er-Jahren Gregory Bateson schon gesagt, und der hat vollkommen recht, es wären die religiösen Bilder dann auf den Menschen zur Integration zu führen. Sie stehen fremd gegen ihn, sie nehmen das Innerste der Seele als etwas von außen Kommendes und spalten damit alles auf, was zusammengehören würde. Die Art, wie wir die Bilder der Religion interpretieren, entscheidet darüber, was wir für Menschen sind und welchen Zugang wir zu Gott bekommen, statt immer wieder nur einer Kirchenbehörde zu begegnen, die vorgibt, Gott zu verwalten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Bei den Katholiken war es bis zu den Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils auch so. Ein immer wiederkehrendes Motiv in den biblischen Geschichten der Weihnachtszeit ist der Traum. Im Traum werden Botschaften verkündet, Engel erscheinen oder Erkenntnisse fallen von Himmel. Das könnte im wahren Leben eigentlich auch so sein - nur dass viele Menschen ihre Träume kaum noch wahrnehmen.
Das ist schade, sagt der Theologe und Psychoanalytiker Eugen Drewermann, denn Träume stecken voller Bilder, die viel für den Träumenden und seine Persönlichkeit parat halten - aber auch weit darüber hinaus gehen. Ich habe vor der Sendung mit Eugen Drewermann über das Träumen und die Bedeutung von Träumen in der Religion gesprochen.
Zunächst einmal habe ich ihn gefragt, was denn eigentlich geschieht, wenn wir uns hinlegen, die Augen schließen und zu träumen beginnen?
Eugen Drewermann: Eigentlich sinken wir zurück in eine Welt, die noch außerhalb der Sprachfähigkeit liegt, in der wir mit Bildern unser Leben zu erklären versuchen. Tagesreste, die nicht erledigt worden sind, Erinnerungen an frühe Kindheit, die symbolisch sich einspielen halten ein Szenario bereit, das jeden zu dem Shakespeare oder Dante seines eigenen Lebens macht.
Er fängt an, kreativ sich Sinnantworten zu geben auf akute Problemstellungen und wird dabei darauf aufmerksam, dass die Konflikte, die er im Moment durchzustehen hat, zum großen Teil sich aus der Art seiner Persönlichkeit ergeben - und die wieder hat zu tun mit den Prägekräften aus der frühen Kindheit. Und auch die Art, wie er mit den Konflikten umgeht, bildet in etwa sich in einem Traum ab.
Mit anderen Worten: Wir haben drei Zeitphasen - Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, medizinisch gesprochen Diagnose, Anamnese und Prognostik - versammelt in den Bildern eines Traums. Sie sind zeitlos, um mit den Konflikten in der Zeit heute besser umzugehen, eine Art dichterischen Prosadenkens.
Westhuis: Das ist ja eine richtige Fülle, die da ein Traum zu bieten hat, dann ist es nicht nur ein Abfall des Tages, der da verarbeitet wird, sondern Träume haben richtig ... ja, sind wichtig?
Drewermann: Sie sind unbedingt wichtig. Man weiß heute, dass auch Kinder bereits träumen, und für die trifft die jetzt gegebene Erklärung natürlich nicht zu: Sie haben noch keine Erfahrungen auf die sie zurückblicken, auch noch keine Vorstellung von der Wirklichkeit, die sie verarbeiten müssen.
Da setzt sich ein traumähnliches Geschehen frei und zeigt, dass es eine Art von Vorübung gibt in einem virtuellen Raum von Möglichkeiten, in denen man sich einübt für das, was dann als Wirklichkeit einem entgegentritt. Man kann auch sagen: Träume sind ein Versuch, das Leben zu erweitern - durch Imagination. George Bernhard Shaw hat einmal gesagt: Es gibt Leute, die träumen, um besser einzuschlafen, andere träumen, um endlich aufzuwachen. Das Erstere sind die Banausen, das Zweite die Dichter. Und natürlich meinte er damit, dass Menschen wie Autoren der Weltliteratur insgesamt über die Fähigkeit verfügen, in Bildern Szenen zu schaffen, die sogar Allgemeingültigkeit in den großen Träumen der Menschheit und der Menschheitsliteratur gewinnen können.
Dann wird nicht nur das einzelne persönliche Erleben - mit Freud gesprochen, die neurotischen Verzerrungen des Unbewussten - in die Bildebene gehoben, sondern es drückt sich etwas aus, das höchst sinnreich ist und in der Problembewältigung und -lösung beispielgebend für eine Vielzahl von Persönlichkeiten.
Westhuis: Was sind das zum Beispiel für Allgemeingültigkeiten?
Drewermann: Es sind ja, selbst wenn wir von Neurosen ausgehen, die in Träumen sich verdichten oder zur Darstellung kommen, immer auch Konflikte, die alle betreffen, die in gewissem Sinne typisch sind, wenngleich quantitativ gesteigert.
Sie können exemplarisch sein, wenn sich damit Lösungen verbinden, die in einer bestimmten Kultur oder sogar grundsätzlich auf archetypischer Ebene für alle Menschen in Geltung treten. Nehmen wir die Prosa von Kafka etwa, das sind Traumnaherzählungen, die außerordentlich erhellend sind für den Zustand nicht nur am Anfang des 20. Jahrhunderts, sondern offensichtlich für viele Kulturen, für den Zustand menschlicher Entfremdung, wiederum nicht nur in einer bürokratisch verwalteten Welt, sondern in absurder Sinnlosigkeit, im Hoffen auf Antworten, die nicht kommen oder sich endlos zu verzögern scheinen.
Was da zum Ausdruck gebracht wird, ist nicht schon die Lösung des Konflikts, aber es ist beispielgebend, ein Weg, Leute, die in gleicher Lage sich fühlen, bei der Hand zu nehmen und also weniger in der Einsamkeit und im Alleinsein zurückzulassen.
Westhuis: Ein Hoffen auf Antworten - wie kann ich denn mit einem Traum umgehen? Gibt es Hilfestellungen in diesen Deutungen und gibt es da ein Richtig und ein Falsch? Wie kommt man zu den Deutungen?
Drewermann: In der Psychotherapie hat man es insofern einfacher als man keine Deutung erfinden muss. Man hat ja die Patientin, den Patienten bei sich. Man versucht immer noch klassisch in der Methode der freien Assoziation, die Sigmund Freud zur Traumdeutung benutzt hat, das Feld möglicher Vorstellungen zu erweitern und dann wieder einzugrenzen.
Die Zonen, wo die stärksten emotionalen Schwingungen sich beobachten lassen, haben den höchsten Wahrscheinlichkeitswert, dass wir da am wirklichen Erleben sind: Welche Erinnerungen also kommen, welche Einfälle melden sich zu Wort, welche Vorstellungen, wie es weitergehen könnte, bringt eine bestimmte Traumsequenz mit sich?
Und man kann denken, es müssen bei einer stimmigen Deutung die verschiedenen Bilder, so disparat sie zu sein scheinen, am Ende zusammenpassen. Die Traumhandlung selber ist mitunter recht wirr, hat vieles durch Verdrängungsvorgänge sich selber verstellt. Kommt man aber zu dem, was auf der Bedeutungsebene sich abspielt, darf man im Grunde eine kohärente Interpretation des Traums erwarten, und die Stimmigkeit im Ganzen ist ein ganz gutes Kriterium dafür, dass man auf der rechten Spur ist.
Wenn man für jedes Detail - genauso wie bei der Interpretation von Märchen oder entsprechenden mythischen Texten der Weltliteratur - eine Sondererklärung braucht, dann zeigt sich, dass man die Themenstellung und die Durchführung noch nicht wirklich begriffen hat. Bei einer Analyse ist der Patient, die Patientin selber der Interpret. Man geht mit ihm lediglich gewissermaßen Hand in Hand durch eine imaginäre Unterwelt voller Gefahren, voller Abgründe, voller Undurchschaubarkeiten. Und alleine, dass da ein solcher Schutz, eine solche Begleitung ist, macht den Mut, sich mit vielerlei Lebensinhalten auseinanderzusetzen, die sonst am liebsten vermieden würden.
Es ist, wie wenn ein Junge in den Keller geht und im Dunkeln vor eine Tür kommt, die jahrelang nicht geöffnet wurde aus Furcht, dahinter könnten Gespenster hausen. Zu zweit schafft man das, und dann stellt man fest, dass da vielleicht aufgeräumt werden muss, aber so unheimlich wie befürchtet war es dann doch nicht.
Westhuis: Hören Sie jetzt den zweiten Teil des Gesprächs mit Eugen Drewermann, der mit dem Blick auf Träume in der Bibel beginnt. Sowohl im Alten als auch im Neuen Testament kommen viele verschiedene Träume vor.
Da sind zum Beispiel die alttestamentarischen Geschichten über Josef, der dem Pharao in Ägypten seine Träume deutete. Oder im Neuen Testament, besonders in den Erzählungen rund um die Geburt Jesu: Da erscheint dem Zimmermann Josef im Traum ein Engel, der den Namen des Kindes verkündet, die drei Sterndeuter auf dem Weg zum Stall erkennen im Traum, dass sie dem König Herodes nicht trauen können und wieder Josef erfährt in einem Traum, dass er mit dem Kind fliehen muss.
Ich habe Eugen Drewermann gefragt, was es mit diesen Traumgeschichten in den biblischen Schriften auf sich hat: Haben Träume eine eigene Bedeutung oder sind sie als Stilmittel zu sehen?
Drewermann: Zum einen haben Sie vollkommen recht: Die Träume waren einmal Teil religiöser Offenbarung, eines Deutungsgeschehens für das Leben insgesamt. Sie konnten etwa bei den Priesterärzten im Heiligtum von Epidauros im antiken Griechenland im Asklepios-Kult eingesetzt werden als ein Heilmittel, analog zur heutigen Psychotherapie analytischer Prägung.
Die Priester sammelten die Traumbotschaften aus der vergangenen Nacht und erstellten daran eine Art Seelenmedikament - Handlungen, die es jetzt gelte, durchzuführen, Einsichten, die man gewinnen konnte. Der Glaube, dass das Göttliche oder die Gottheit durch Träume redet, ist uralt, schon weil das Freiheitserleben des seelischen Vorgangs losgelöst von Raum und Zeit im Traum eine ganz eigene Form von Transzendenz zu besitzen scheint.
Dann kommt hinzu, dass merkwürdigerweise im Monotheismus in der Bibel im Alten Testament die Träume sehr zwiespältig gesehen werden, eigentlich bekämpft werden, wie die ganze Ebene des Göttlichen, in der ja viele Teile der Psyche selber sich in himmlische Mächte hineinverlegen. Wenn Sie im Alten Testament Träumen begegnen, sind es in aller Regel Geschichten, die aus Ortslegenden übernommen werden.
Der Traum zum Beispiel Jakobs in Bethel am Hause Gottes oder im Steinheiligtum von Luis, wie es ursprünglich heißt, wo die Engel auf der Leiter auf- und runtersteigen - das ist eine Legende, die das Alte Testament übernimmt in einer bestimmten Schicht der Tradition der ersten fünf Bücher Moses.
Sie können Daniel sehen, wie er am Hofe des Großkönigs Träume deutet und damit den Untergang des Reiches vorherschaut. All das sind aber Bilder, die in der Fremde spielen. Auf eigenem Grund und Boden, da, wo der israelitische Glaube an den Gott Jahwe sich selber ernst nimmt, sind Träume ausgeschlossen.
Das ist wichtig zu sehen, weil in der Tat im Neuen Testament, speziell im Matthäus-Evangelium die Träume eine Schlüsselfunktion haben. Man kann sagen, dass das Jesuskind nicht überlebt hätte, ohne dass sein Pflegevater Josef fähig gewesen wäre, sich warnen zu lassen von einem Engel, der ihm erläutert: Das Kind, das jetzt auf der Welt ist, wird eine Botschaft mit sich bringen und eine Persönlichkeit besitzen, die den gesamten Machtbesitz der Regierenden – König Herodes in Jerusalem, man muss hinzufügen Kaiser Augustus in Rom – von Grund auf infrage stellt. Es wird die Botschaft eines Friedens sein, der sich nicht mehr gründet auf überlegene Gewalt, auf Herrschaftsmacht, auf der Attitüde der Ausbeutung und der Versklavung ganzer Völkergruppen. Es wird Friede sein, indem Menschen einander verstehen und die Angst abbauen, die der eine vor dem anderen hat, schon wenn er bewaffnet vor dem anderen steht.
Diese Botschaft ist gefährlich für die Mächtigen, aber segensreich für die Ohnmächtigen. Eine Revolution also. König Herodes wird dann das, was zur Welt gekommen ist, ausrotten, der Legende nach. Historisch war das sicher nicht so, aber die Legende erzählt es als ein erweitertes Traumbild. Man kann es auch innerpsychisch sehen: Ein wirklicher Neuanfang würde so viel aufbrechen in unserem eigenen Leben, dass die Macht des bisher gültigen Verstandes unser Leben, wie wir es führen mussten, zutiefst dabei infrage gestellt wird.
Übrigens geht die Geschichte bei Matthäus bis zum Lebensende Jesu. Als Jesus vor Pilatus steht und wird vernommen, weiß der Landpfleger Roms nicht, ob er ihn hinrichten soll oder nicht. Er ist ein König, aber in welchem Sinne? Dann kommt die Frau des Pilatus und überrennt ihn. Sie hätte in der letzten Nacht Böses durchmachen müssen im Traum seinetwegen. Diese Warnung könnte der Landpfleger ernst nehmen. Nur weil er es nicht tut, richtet er Jesus hin. Wenn Männer imstande wären, an ihre eigenen Träume zu glauben wie an eine Botschaft Gottes, hätte das Evangelium eine enorm verbesserte Chance in unserer westlichen Welt, ohne jede Frage. Matthäus deutet das an. Er sagt dann sogar: Es ist der Weg zum Christus, wie wenn man einer inneren Berufung folgt und dann über Weiten hinweg sich aufmacht, den Ort zu finden, an dem der (...) still steht.
Westhuis: Was bedeuten denn diese biblischen Träume und auch diese Bilder für den normalen träumenden, aber auch glaubenden Menschen? Ist da auch Raum für die eigene Gottesbeziehung im Traum?
Drewermann: Manche Träume sind religiös schon deswegen von großer Bedeutung, weil sie etwas vermitteln, das rein rational sich gar nicht sagen lässt. Eine Frau etwa verliert ihr Kind durch einen Unfall oder durch schwere Krankheit und leidet entsetzlich daran. Aber dann träumt sie des Nachts, wie sie mit dem Kind redet oder wie das Kind glücklich ist. Natürlich liegt es jetzt nahe bei der Hand zu sagen, das sind reine Wunschträume, aber es ist etwas anderes, ob man etwas wünscht oder gezeigt bekommt. Wieder kann man jetzt sagen, aber es ist doch nur ein Teil der eigenen Seele, der dem Bewusstsein diese Bilder vorgaukelt, in Wirklichkeit aber hat dieser Teil der eigenen Seele eine Botschaft, die in sich richtig sein kann.
Vielleicht ist der Tod gar kein Tod, vielleicht ist die Liebe stärker als die Begrenzung unseres irdischen Lebens. Vielleicht gibt es eine Gemeinsamkeit, die vom Tode nicht zerstört wird. Das alles sind Andeutungen, die wir im Traum uns nahelegen, die in den Mythen beschworen werden, die den Inhalt der Religion darstellen und in sich selber vom privatesten Erleben bis zur kollektiven Daseinsdeutung ganzer Kulturen Einfluss auf die Art, wie wir selber uns verstehen, haben.
Westhuis: Träume sind manchmal sehr schwer zu greifen. Viele Menschen kennen dieses Gefühl, wenn man morgens völlig gerädert aufwacht, weil man das Gefühl hat, man hat ganz wild geträumt. Bruchstücke hat man vielleicht vor Augen, aber sobald man versucht, das auch nur in Worte zu fassen, trifft das Bild nicht. Herr Drewermann, haben Sie ganz praktische Tipps, wie kann man anfangen, mit seinen eigenen Träumen umzugehen und sie auch für sich zu nehmen?
Drewermann: Am besten ist ein ruhiges Ausschlafen. Das sind Träume rege, und die können wir dann auch beobachten und in den Tag hineinretten. Es hilft mitunter auch der Vorsatz, sich Träume merken zu wollen. Mit dieser Absicht einschlafend, haben wir eine ganz gute Chance, Träume auch noch zu erhaschen, wenn wir aufwachen. Das Dritte ist: Wir sollten uns Mühe geben, die Träume zu behalten, denn sonst sind sie in der Tat sehr schnell verschwunden. Das kann ganz schnell gehen. Aber wenn wir ihnen Aufmerksamkeit schenken beim Aufwachen, wenn wir sie womöglich verschriftlichen, dann bleiben sie in unserer Erinnerung, und wir können uns ihnen mit größerer Aufmerksamkeit dann auch, was die Interpretation angeht, zuwenden.
Dass Sie Angstträume erwähnen, Albträume, zeigt, dass wir anders als in der Freud'schen Traumtheorie ganz sicher nicht nur Wünsche und Wunschverbote uns zurechtlegen, sondern dass es Abgründe in unserem Leben gibt, vor denen Träume uns warnen können oder wo Trauma-ähnliche Situationen in der Biografie noch mal eingespielt werden zur besseren Verarbeitung. Traumsequenzen, die immer wieder vorkommen, zeigen, dass da ein Konflikt ist, der dringlich danach ruft, dass man sich mit ihm bewusst auseinandersetzt. Da klopft jemand sozusagen an die Tür und bittet um Einlass. Und die Träume werden dann erst verschwinden oder schwächer werden, wenn wir imstande sind, eine auf die Zukunft weisende Lösung zu finden.
Das ist im Tagesbewusstsein auch mitunter der Fall, Leute sind, die nur in der Vergangenheit leben, die auch von sich selber sagen, ich bin überhaupt nicht in der Gegenwart. Und sie hatten eigentlich nie eine Zukunft, ihr ganzes Leben war wie überwältigt, wie niedergewalzt von der Person ihrer Mutter, ihres Vaters. Da ist es sehr wichtig, sich durch Erinnerung noch mal klarzumachen, was da mal passiert ist. Und dabei können wieder jetzt die Träume helfen. Sie erinnern an eine Vergangenheit, damit man endlich da herausfindet. Es ist der Gang des Orpheus in die Unterwelt, um Eurydike zurückzuholen in die Wirklichkeit. Die Auseinandersetzung im Bewusstsein ist dabei das Entscheidende. Und wenn sich das am besten im Austausch mit einem anderen klären lässt, dann hat man eine gute Möglichkeit, sich selber auf die Spur zu kommen.
Ganz alleine ist die Traumdeutung ziemlich schwierig, weil man am Tage fast routinemäßig dabei ist, sich die ganze Wahrheit über sich selber nicht einzugestehen, an bestimmten Standards und Stereotypen des eigenen Ichs festzuhalten, manche untergründige Wahrheiten, die die Träume anbieten könnten, für gar nicht denkbar zu nehmen.
Westhuis: Und was sind da helfende Traumdeuter, wenn man jetzt nicht in einer Psychoanalyse ist, was sind da helfende Traumdeuter im Alltag?
Drewermann: Träume sind insofern erst einmal ungefährlich, als sie noch gar nichts wollen, sondern lediglich andeuten, Bilder liefern, die noch mal zur Stellungnahme aufrufen. Deswegen ist es so wichtig, dass man sie nicht moralisch beurteilt und sofort sagt, das darf aber nicht sein. Im Traum geht es nicht darum, was sein darf, sondern was in der eigenen Seele sich abspielt und was darin ist. Und da ist erst einmal alles berechtigt. Man müsste also die moralische Eigenzensur – die Dauerbeobachtung des Über-Ichs psychoanalytisch gesprochen –, die verinnerlichten Standards, die man seit Kindertagen im Umgang mit sich selber aufgeprägt bekam, beiseite zu stellen, um etwas ehrlicher zu werden, um ganzheitlicher zu werden.
Darum gilt ein Wort aus dem Johannesevangelium: Die Wahrheit wird euch frei machen. Solange wir immer noch Angst haben vor uns selber und vor dem, was in uns liegt, werden wir uns selber unterdrücken, an uns vorbei leben, ganze Zonen unserer Psyche im Abseits halten, die dann eine eigene Gesetzmäßigkeit von oft gefährlicher Dynamik sogar entfalten können. Wir sind nicht mit uns identisch. Und dann hat der Freud-Schüler Alfred Adler mal gesagt: In gewissem Sinn ist jede Lüge so etwas wie der Beginn der Neurose, oder umgekehrt, jede seelische Erkrankung so etwas wie eine Lüge sich selber gegenüber.
Westhuis: Herr Drewermann, die Zeit drängt, aber eine Frage noch: Sollte denn dann in der Kirche, vor allem in der katholischen Kirche, mehr geträumt werden?
Drewermann: Das wäre außerordentlich viel wert, wenn speziell die katholische Kirche ihre eigenen Dogmen endlich symbolisch interpretieren wollte, statt den Gläubigen weiszumachen, dass es sich um die Wiedergabe historischer Fakten handeln würde, die Geschichte von Bethlehem etwa, von der wir vorhin geredet haben. Das sind wunderbare Bilder über die Person Jesu, es sind Träume, die uns nahelegen, das Wesen eines Mannes zu begreifen, der unser ganzes Leben von Gott her zu erneuern vermöchte.
Aber wenn man jetzt erklärt, dass biologisch Maria eine Jungfrau gewesen sein muss, wie Benedikt XVI. gerade in seinem neuen Buch über die Anfänge Jesu, dann spaltet man Glauben und Vernunft, dann schafft man eine Schizophrenie des Bewusstseins, die außerordentlich gefährlich ist. Wer zwischen Begriff und Bild nicht unterscheiden kann, zwischen Symbol und Wirklichkeit, wer sich weigert, diesen Unterschied überhaupt zuzugeben, begibt sich in eine Sphäre hinein, die quasi am Rande des Psychotischen liegt.
Das hat in den 50er-Jahren Gregory Bateson schon gesagt, und der hat vollkommen recht, es wären die religiösen Bilder dann auf den Menschen zur Integration zu führen. Sie stehen fremd gegen ihn, sie nehmen das Innerste der Seele als etwas von außen Kommendes und spalten damit alles auf, was zusammengehören würde. Die Art, wie wir die Bilder der Religion interpretieren, entscheidet darüber, was wir für Menschen sind und welchen Zugang wir zu Gott bekommen, statt immer wieder nur einer Kirchenbehörde zu begegnen, die vorgibt, Gott zu verwalten.
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