"Träumen ist auch ein Aggregatzustand des Glücks"

Moderation: Stephan Karkowsky |
Am Samstag übertragt das Erste zum letzten Mal die Ziehung der Lottozahlen. In Zukunft wird es sie nur noch im Internet geben. Damit falle ein Ritual weg, meint der Glücksspielforscher Tilman Becker. Denn Millionen werden dort nicht mehr zusehen - aber dennoch weiter vom großen Gewinn träumen.
Stephan Karkowsky: Samstags können Sie also zum letzten Mal im Fernsehen der Ziehung zuschauen, aber die Lottozahlen erfahren Sie trotzdem: Vom 6. Juli an präsentiert Franziska Reichenbacher alle Gewinnzahlen immer samstags, 19:57 Uhr in der Sendung "Lotto am Samstag" im Ersten. Wenn Sie gerne die Kugeln kullern sehen möchten, können Sie die Ziehung live im Internet verfolgen – auch Professor Doktor Tilman Becker beobachtet dann das Ende einer Ära. Er leitet die Forschungsstelle Glücksspiel an der Universität Hohenheim. Herr Becker, Guten Tag!

Tilman Becker: Guten Tag, Herr Karkowsky!

Karkowsky: Macht es denn für Sie einen Unterschied, ob die Lottofee die Zahlen bloß verliest oder mit uns gemeinsam der Ziehung zuschaut?

Becker: Es ist natürlich schon was anderes, ob man live die Ziehung mitverfolgen kann oder nur die Zahlen präsentiert kriegt. Aber es ist auch andererseits natürlich nachzuvollziehen, dass das gewisse Zeit dauert, und dass die Fernsehsender natürlich ein Interesse haben, möglichst viel in wenig Zeit rüberzubringen und deswegen nur zu verlesen.

Karkowsky: Der Journalist Richard Herzinger hat in der "Welt am Sonntag" behauptet, die Ziehung der Lottozahlen, die gehöre zum Fernsehsamstag wie die Bundesliga. Und er spricht da von einem teils trancehaft einschläfernden Ziehungsakt, den die ARD nun gerade den jüngeren Zuschauern nicht mehr zumuten möchte. Sind Sie schon jemals eingeschlafen während der Ziehung?

Becker: Nein, aber das ist sicherlich ein bisschen dichterische Übertreibung, gut, wie man das ausdrücken will.

Karkowsky: Aber Sie spielen schon, ja? Carsten Rochow hat mir gerade verraten, er ist Dauerspieler, hier mein Kollege im Studio.

Becker: Ja, Dauerspieler bin ich nicht, aber ab und zu spiele ich schon.

Karkowsky: Haben Sie denn schon mal einen Sechser gewonnen?

Becker: Nein, leider nicht.

Karkowsky: Und Sie kennen auch keinen?

Becker: Nein, nein. Also persönlich nicht, aber es gibt eine Reihe von Lottomillionären. Es gibt auch einige Befragungen von diesen Lottomillionären, aber persönlich kenne ich noch keinen.

Karkowsky: Nein, man liest ja immer nur von denen, von Lotto-Lothar zum Beispiel, an den können wir uns, glaube ich, alle erinnern, der von der "Bild"-Zeitung als unglückliche Figur aufgebaut wurde und seine Gewinne sehr schnell durchgebracht hat. Welche Rolle billigen Sie denn als Glücksspielforscher dem Ritual zu im Suchtpotenzial des staatlichen Glücksspiels Lotto? Also macht das Anschauen der Ziehung schneller süchtig als das bloße Verlesen der Zahlen?

Becker: Nein, das kann man sicherlich sagen, das Lotto ist zwar ein Glücksspiel, aber das Suchtgefährdungspotenzial von den Lotterien, die derzeit angeboten werden - mit einer Ausnahme von Keno, das ist eine schnelle Lotterie, die hat ein gewisses Suchtgefährdungspotenzial - aber die Lotterie 6 aus 49, Super 6, Spiel 77, haben ein sehr, sehr geringes Suchtgefährdungspotenzial. Das heißt, da ist es schwierig, jemanden davon abhängig zu machen. Es ist im Gegenteil so, dass die pathologischen Spieler, die also vor allen Dingen Geldspielgeräte und Poker und Online-Casino spielen, dass die weniger Lotto spielen als der Durchschnitt der Bevölkerung. Also für die ist Lotto eigentlich nicht attraktiv – für einen pathologischen Spieler ist Lotto in der Regel nicht attraktiv, weil es muss ein schnelles Spiel sein, es muss zack, zack gehen, es muss… - man nennt das die Ereignisfrequenz, muss hoch sein, um wirklich Adrenalinausschüttung zu bewirken, um auch den Spieler sozusagen zu packen. Und das ist bei Lotto nicht so richtig vorstellbar.

Karkowsky: Und dennoch darf man erst ab 18 Lotto spielen, und seit einiger Zeit wird auch da gewarnt, die Spielteilnahme kann süchtig machen. Sollte man das runtersetzen auf 16 vielleicht?

Becker: Nein, ich denke, das ist schon vielleicht vernünftig, dass es ab 18 ist, das ist schon ein Glücksspiel, und als solches ist es schon sinnvoll, dass es ab 18 gespielt wird. Ich meine, Jugendliche spielen ja auch in der Regel gar nicht Lotto, die gehen…, spielen Poker oder machen Sportwetten oder gehen je nach dem, wo sie wohnen und welche Sozialisation sie haben, gehen an die Geldspielgeräte. Aber vor allen Dingen ist es Poker und Sportwetten, gerade Online-Spiele, die natürlich für Jugendliche interessant sind.

Karkowsky: Wenn Lotto also ein so eher unspannendes Freizeitvergnügen ist, was ja auch einer der Gründe ist für die Intendanten, zu sagen, das spricht die jungen Leute nicht mehr an, wie erklären Sie sich denn dann den unglaublichen Erfolg? Die Einschaltquote war doch riesig zur Ziehung der Lottozahlen, mehrere Millionen.

Becker: Ja, wenn man sieht, 30 Prozent aller erwachsenen Bundesbürger haben im letzten Jahr Lotto gespielt. Und wenn man einen Lottoschein abgegeben hat, ist es natürlich reizvoll, wenn man so und so Nachrichten gucken will, dass man sich auch vorher die Lottozahlen, die Ziehung der Lottozahlen anguckt und mitverfolgt, ob man gewonnen hat oder nicht. Dann braucht man nicht nachher irgendwie im Internet oder an Lottoannahmestellen gucken, ob man die richtigen Zahlen hat. Von daher war es sicherlich schon interessant auch. Aber die werden ja auch zukünftig ausgestrahlt, die Lottozahlen. Aber es ist natürlich auch ein gewisses Ritual, die Kugeln rollen zu sehen und zu gucken, ob man einen hat oder zwei oder drei Richtige. Und das fällt natürlich weg.

Karkowsky: Nun wird das ja immerhin dann noch im Internet stattfinden. Die Ziehung der Lottozahlen kann man dort verfolgen, das Internet ist ja, wie wir seit dem Ausspruch der Kanzlerin wissen, Neuland für uns alle. Glauben Sie, dass da auch Millionen Menschen zuschauen könnten?

Becker: Denke ich, also es könnten schon, aber tun werden das, glaube ich, nicht. Das ist schon … ich glaube nicht, dass da viele Bundesbürger da extra hingehen und auf die Seite, um sich die Ziehung der Lottozahlen anzugucken.

Karkowsky: Ich höre ja immer wieder von Leuten, die regelmäßig Lotto spielen, sie können nicht aufhören, weil das Gefühl, was passieren würde, wenn sie aufhören, und dann kämen ihre Zahlen, wäre einfach nicht zu ertragen. Was sagen Sie denn Menschen, die ihr Leben lang gespielt haben und nie gewonnen haben, warum ist das so? Sie haben doch bestimmt die Wahrscheinlichkeit des Gewinnens auch da, oder?

Becker: Ja, ich meine, die Wahrscheinlichkeit ist eins zu 144 Millionen, also es ist sechsmal so wahrscheinlich, vom Blitz erschlagen zu werden, wie sechs Richtige mit Superzahl zu haben.

Karkowsky: Ich hoffe, meine Mutter hat das jetzt gehört, die spielt nämlich auch Lotto. Was würden Sie ihr stattdessen raten, sollte sie mit Pokern anfangen?

Becker: Ja, es ist beim Lottospielen, da geht es ja nicht so sehr darum, nun unbedingt zu gewinnen, sondern es geht hier auch ein bisschen - und das ist die Hauptmotivation, für viele Bundesbürger, die halt auch immer wieder verlieren - es geht halt darum, zu träumen. Man kann sich überlegen, was wäre, wenn man gewinnen würde, was könnte man dann alles machen. Und Träumen ist ja, oder Vorfreude ist ja praktisch auch ein Aggregatzustand des Glücks. Das heißt von daher, auch wenn man nichts gewinnt, und davon träumt und sich ausmalt und in der Fantasie schon erlebt, dass man auf einer Insel ist oder am Strand liegt, und … ja, das hat dann auch schon Wert für sich. Und auch wenn die Möglichkeit gering ist, oder die Wahrscheinlichkeit gering ist, dass man dann letztendlich wirklich sich das erfüllen kann, ist Träumen eigentlich ja auch ganz schön, und das ist ja auch die Hauptmotivation für viele Menschen, am Lottospiel teilzunehmen.

Karkowsky: Am morgigen Samstag wird die Ziehung der Lottozahlen zum letzten Mal vom Hessischen Rundfunk live im Ersten Deutschen Fernsehen übertragen. Die Ziehung erfolgt übrigens direkt im Anschluss an das Sommerfest in Österreich gegen 23:15 Uhr. Die Lottozahlen werden künftig nur noch verlesen, direkt vor der Tagesschau am Samstag. Und betrauert haben wir den Abschied von der Fernsehziehung gemeinsam mit Professor Doktor Tilman Becker, er leitet die Forschungsstelle Glücksspiel an der Universität Hohenheim. Herr Becker, danke für das Gespräch!

Becker: Danke schön, Herr Karkowsky!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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