Tragische Lebenslinien
Nie zuvor wurde über den Sinn und die Kraft des Erzählens so zwingend nachgedacht wie in diesem Roman: Barbara Frischmuth schildert die Geschichten von drei Frauen, die jeweils einen geliebten Menschen verloren haben. Stets geht es dabei auch um die Aufarbeitung des Vergangenen.
Stets geht es Barbara Frischmuth beim Schreiben um ein Erarbeiten und Aufarbeiten von Geschichte. Sich den Strukturen des Erinnerns in ihrer Veränderung zu nähern, ist für die 1941 in Altaussee/Steiermark Geborene ein therapeutischer Vorgang gegen das Vergessen. Doch nie zuvor wurde über den Sinn und die Kraft des Erzählens so zwingend nachgedacht wie in ihrem jüngsten Roman.
"Ada sah sich auf dem noch zugefrorenen See stehen, dessen Eisdecke plötzlich aufbrach, ohne dass sie die Bruchlinien erkennen konnte." Drei Frauen, deren Schicksal aus der gegenwärtigen Perspektive heraus rekonstruiert wird, bilden das genealogische Grundgewebe des Romangeschehens: die Künstlerin Ada, ihre Mutter Martha und deren Tante Lilofee. Sie alle verbindet die schmerzhafte Erfahrung, den Menschen, der ihnen am nächsten stand, verloren zu haben. Adas Freund Seppi beging vor zwei Jahren Selbstmord, Marthas Mann Robin verschwand vor 20 Jahre zusammen mit seinem Freund, dem Kurden Vedat, spurlos im Ararat-Gebirge und Lilofees Geliebter, der Kriegsgefangene Oleg, wurde von ihrem Vater denunziert. In drei Kapiteln werden ihre tragischen Lebenslinien skizziert. Während Ada und Martha den Vorgang des Erinnerns selbst steuern können, wird Lilofees Schicksal aus fremder Sicht erinnert. Sie starb, als Ada 13 Jahre alt war.
Frischmuth konfiguriert Personen, denen ein existenzielles Grundvertrauen genommen wurde. Sie weigern sich, neue Beziehungen einzugehen. Der Verlust sitzt tief und hat ihre Liebes- und Bindungsfähigkeit verkümmern lassen. In Gesprächen, die Martha mit der in Istanbul lebenden Frau Vedats führt, klingt zudem an, dass beide, schwankend zwischen Zorn und Trauer, noch immer nicht an ein einfaches Verschwinden glauben wollen. Vielleicht wurden ihre Männer ja von einer Splittergruppe der Kurdischen Arbeiterpartei PKK als Spione angesehen und ermordet.
Außerdem arbeitet Frischmuth mit Erzähleinschüben, in denen das Gerede der Leute wiedergegeben wird. Diese namenlosen Stimmen liefern nicht nur wichtige historische Fakten. Denn 1938 wurde das Ausseerland in die Verwaltungseinheit "Oberdonau" umgewandelt. Im Salzbergwerk Altaussee lagerte die von den Nazis geraubte "Beutekunst". Wie langlebig die verkrusteten Moralvorstellungen, die ethnischen Ressentiments sind und wie sehr es an Reflexionsvermögen mangelt, sich dem Vergangenen kritisch zu stellen, zeigt sich vor allem in diesen Romanpassagen. Für diese Leute bleiben Marthas Kinder - die Künstlerin Ada und ihr homosexueller Zwillingsbruder Olli – aber auch all jene, die anders sind, ewig Fremde, denen nicht zu trauen ist.
In Barbara Frischmuths Roman herrscht eine tiefe Trauer darüber, dass diese Lebensläufe allmählich "vom Schacht der Zeit verschluckt" und die in ihnen verborgenen Erinnerungen in der Anonymität einer "großen Erzählung recycelt" werden.
Besprochen von Carola Wiemers
Barbara Frischmuth: Woher wir kommen
Roman
Aufbau Verlag, Berlin 2012
367 Seiten, 22,99 Euro
"Ada sah sich auf dem noch zugefrorenen See stehen, dessen Eisdecke plötzlich aufbrach, ohne dass sie die Bruchlinien erkennen konnte." Drei Frauen, deren Schicksal aus der gegenwärtigen Perspektive heraus rekonstruiert wird, bilden das genealogische Grundgewebe des Romangeschehens: die Künstlerin Ada, ihre Mutter Martha und deren Tante Lilofee. Sie alle verbindet die schmerzhafte Erfahrung, den Menschen, der ihnen am nächsten stand, verloren zu haben. Adas Freund Seppi beging vor zwei Jahren Selbstmord, Marthas Mann Robin verschwand vor 20 Jahre zusammen mit seinem Freund, dem Kurden Vedat, spurlos im Ararat-Gebirge und Lilofees Geliebter, der Kriegsgefangene Oleg, wurde von ihrem Vater denunziert. In drei Kapiteln werden ihre tragischen Lebenslinien skizziert. Während Ada und Martha den Vorgang des Erinnerns selbst steuern können, wird Lilofees Schicksal aus fremder Sicht erinnert. Sie starb, als Ada 13 Jahre alt war.
Frischmuth konfiguriert Personen, denen ein existenzielles Grundvertrauen genommen wurde. Sie weigern sich, neue Beziehungen einzugehen. Der Verlust sitzt tief und hat ihre Liebes- und Bindungsfähigkeit verkümmern lassen. In Gesprächen, die Martha mit der in Istanbul lebenden Frau Vedats führt, klingt zudem an, dass beide, schwankend zwischen Zorn und Trauer, noch immer nicht an ein einfaches Verschwinden glauben wollen. Vielleicht wurden ihre Männer ja von einer Splittergruppe der Kurdischen Arbeiterpartei PKK als Spione angesehen und ermordet.
Außerdem arbeitet Frischmuth mit Erzähleinschüben, in denen das Gerede der Leute wiedergegeben wird. Diese namenlosen Stimmen liefern nicht nur wichtige historische Fakten. Denn 1938 wurde das Ausseerland in die Verwaltungseinheit "Oberdonau" umgewandelt. Im Salzbergwerk Altaussee lagerte die von den Nazis geraubte "Beutekunst". Wie langlebig die verkrusteten Moralvorstellungen, die ethnischen Ressentiments sind und wie sehr es an Reflexionsvermögen mangelt, sich dem Vergangenen kritisch zu stellen, zeigt sich vor allem in diesen Romanpassagen. Für diese Leute bleiben Marthas Kinder - die Künstlerin Ada und ihr homosexueller Zwillingsbruder Olli – aber auch all jene, die anders sind, ewig Fremde, denen nicht zu trauen ist.
In Barbara Frischmuths Roman herrscht eine tiefe Trauer darüber, dass diese Lebensläufe allmählich "vom Schacht der Zeit verschluckt" und die in ihnen verborgenen Erinnerungen in der Anonymität einer "großen Erzählung recycelt" werden.
Besprochen von Carola Wiemers
Barbara Frischmuth: Woher wir kommen
Roman
Aufbau Verlag, Berlin 2012
367 Seiten, 22,99 Euro