Tragische Nebenfigur der Weltgeschichte
Dass die britische Appeasement-Politik in den 30er Jahren mitverantwortlich war für das Erstarken des nationalsozialistischen Deutschlands, wird unter Historikern heute nicht mehr bezweifelt. Allerdings gingen einige prominente Briten in ihrem Verhalten wesentlich weiter: Der Historiker Ian Kershaw portraitiert in seinem Buch "Hitlers Freunde in England" Lord Londonderry, der aus Angst vor dem Bolschewismus den Ausgleich mit Deutschland suchte.
Der Brite Ian Kershaw versucht in seinem Buch "Hitlers Freunde in England. Lord Londonderry und der Weg in den Krieg" nicht weniger, als die Gründe für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zu klären. Unter Historikern hat sich die Ansicht weitgehend durchgesetzt, dass Hitlers Aufstieg durchaus hätte gebremst werden können, wenn die anderen europäischen Mächte früher und entschiedener eingegriffen hätten, sowohl mit militärischen als auch mit diplomatischen Mitteln.
Die Appeasement-Politik insbesondere Großbritanniens gilt heute als mitverantwortlich für das Erstarken des nationalsozialistischen Deutschland. Der britische Premierminister Chamberlain ging in seinem Versuch, Hitler zu beschwichtigen, so weit, der Annexion souveräner Staaten wie Österreichs und der Tschechoslowakei zuzustimmen, in der Hoffnung, eine Tragödie wie das Millionenfache Sterben auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges zu verhindern. Heute ist Allgemeingut, dass diese Politik das Gegenteil bewirkte. In den dreißiger Jahren dagegen hatte die Appeasement-Politik Anhänger in allen Lagern.
Lord Londonderry, der von Kershaw portraitiert wird, wollte den Ausgleich mit Deutschland, um einen Krieg zu verhindern. Aber sein Versuch, zu Hitler enge Bande zu knüpfen hatte mehr als diplomatische Gründe. Er selbst entwickelte eine ideologische Nähe zu den Nazis, letztlich aus diffuser Angst vor dem Bolschewismus und allem, was ihm ähnlich sah, auch und gerade im eigenen Land. Unter den Adligen Großbritanniens war er kein Einzelfall. Viele fürchteten um ihre Güter und Privilegien, wenn auch in den Ländern Mittel- und Westeuropas Moskau-freundliche Regierungen an die Macht kämen, so wie dies zeitweise in Frankreich und Spanien der Fall war.
Der Pakt mit Hitler war also auch das Rückzugsgefecht einer rückständigen Klassengesellschaft und diente der Besitzstandswahrung. Darüber hinaus hielt Lord Londonderry aber auch persönlich nur wenig Distanz zu hochrangigen Nazis. Er ging mit Außenminister Ribbentrop zur Jagd, ließ seine Töchter Hermann Göring besuchen, betrieb nach seinem erzwungenen Rücktritt als britischer Luftwaffenminister eine Art Privatdiplomatie und traf sich mit Hitler zu Hinterzimmergesprächen. Seine Anbiederung hat dabei peinliche Züge. Londonderry wird als eitler Ehrgeizling beschrieben, mit getrübter politischer Urteilsfähigkeit. Dass er überhaupt politische Entscheidungen treffen konnte, ist eher seinem Stand als seinem Talent geschuldet. Er unterschätzte die Gefährlichkeit der Nazis sträflich und - so der implizite Vorwurf - verhalf ihnen zu Prestige und guten Kontakten.
Der Historiker Ian Kershaw gehört zu den fabelhaften Kennern der Geschichte des Dritten Reiches, er ist der Autor mehrerer Richtung weisender Werke, etwa einer Hitler-Biographie. Das vorliegende Buch besticht vor allem durch die Präzision, mit der Kershaw den Lauf der Dinge rekonstruiert. Ohne die Tochter des Lords, die die Briefe des Vaters rückhaltlos der Forschung zugänglich gemacht hat, wäre seine Arbeit so nicht möglich gewesen. Die Analyse des Materials ist brillant, er portraitiert seinen Protagonisten nicht selten mit feinem, typisch britischen ironischen Unterton. Bisweilen aber gerät ihm die Erzählung zu ausführlich, er wird kleinkrämerisch bei der Wiedergabe diplomatischer Korrespondenz oder der Protokolle von Tischgesprächen, was dem Laien das Lesen nicht gerade kurzweilig macht, für den Wissenschaftler aber sehr nützlich ist.
Das Buch klärt die Verantwortung der britischen Realpolitik am Zweiten Weltkrieg, auf der Insel ist das Teil notwendiger Vergangenheitsbewältigung. In Deutschland dagegen könnte es denjenigen Argumente liefern, die die Schuld an der Katastrophe des Zwanzigsten Jahrhunderts nicht ausschließlich auf deutschen Schultern getragen wissen wollen. Und während der Lektüre der über 400 Seiten wachsen die Zweifel, ob diese tragische Nebenfigur der Weltgeschichte es wirklich wert war, ihr ein solch ausführliches Werk zu widmen.
Ian Kershaw: Hitlers Freunde in England. Lord Londonderry und der Weg in den Krieg
Übersetzt von Klaus-Dieter Schmidt
Deutsche Verlagsanstalt, München 2005
528 Seiten, 39,90 Euro
Die Appeasement-Politik insbesondere Großbritanniens gilt heute als mitverantwortlich für das Erstarken des nationalsozialistischen Deutschland. Der britische Premierminister Chamberlain ging in seinem Versuch, Hitler zu beschwichtigen, so weit, der Annexion souveräner Staaten wie Österreichs und der Tschechoslowakei zuzustimmen, in der Hoffnung, eine Tragödie wie das Millionenfache Sterben auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges zu verhindern. Heute ist Allgemeingut, dass diese Politik das Gegenteil bewirkte. In den dreißiger Jahren dagegen hatte die Appeasement-Politik Anhänger in allen Lagern.
Lord Londonderry, der von Kershaw portraitiert wird, wollte den Ausgleich mit Deutschland, um einen Krieg zu verhindern. Aber sein Versuch, zu Hitler enge Bande zu knüpfen hatte mehr als diplomatische Gründe. Er selbst entwickelte eine ideologische Nähe zu den Nazis, letztlich aus diffuser Angst vor dem Bolschewismus und allem, was ihm ähnlich sah, auch und gerade im eigenen Land. Unter den Adligen Großbritanniens war er kein Einzelfall. Viele fürchteten um ihre Güter und Privilegien, wenn auch in den Ländern Mittel- und Westeuropas Moskau-freundliche Regierungen an die Macht kämen, so wie dies zeitweise in Frankreich und Spanien der Fall war.
Der Pakt mit Hitler war also auch das Rückzugsgefecht einer rückständigen Klassengesellschaft und diente der Besitzstandswahrung. Darüber hinaus hielt Lord Londonderry aber auch persönlich nur wenig Distanz zu hochrangigen Nazis. Er ging mit Außenminister Ribbentrop zur Jagd, ließ seine Töchter Hermann Göring besuchen, betrieb nach seinem erzwungenen Rücktritt als britischer Luftwaffenminister eine Art Privatdiplomatie und traf sich mit Hitler zu Hinterzimmergesprächen. Seine Anbiederung hat dabei peinliche Züge. Londonderry wird als eitler Ehrgeizling beschrieben, mit getrübter politischer Urteilsfähigkeit. Dass er überhaupt politische Entscheidungen treffen konnte, ist eher seinem Stand als seinem Talent geschuldet. Er unterschätzte die Gefährlichkeit der Nazis sträflich und - so der implizite Vorwurf - verhalf ihnen zu Prestige und guten Kontakten.
Der Historiker Ian Kershaw gehört zu den fabelhaften Kennern der Geschichte des Dritten Reiches, er ist der Autor mehrerer Richtung weisender Werke, etwa einer Hitler-Biographie. Das vorliegende Buch besticht vor allem durch die Präzision, mit der Kershaw den Lauf der Dinge rekonstruiert. Ohne die Tochter des Lords, die die Briefe des Vaters rückhaltlos der Forschung zugänglich gemacht hat, wäre seine Arbeit so nicht möglich gewesen. Die Analyse des Materials ist brillant, er portraitiert seinen Protagonisten nicht selten mit feinem, typisch britischen ironischen Unterton. Bisweilen aber gerät ihm die Erzählung zu ausführlich, er wird kleinkrämerisch bei der Wiedergabe diplomatischer Korrespondenz oder der Protokolle von Tischgesprächen, was dem Laien das Lesen nicht gerade kurzweilig macht, für den Wissenschaftler aber sehr nützlich ist.
Das Buch klärt die Verantwortung der britischen Realpolitik am Zweiten Weltkrieg, auf der Insel ist das Teil notwendiger Vergangenheitsbewältigung. In Deutschland dagegen könnte es denjenigen Argumente liefern, die die Schuld an der Katastrophe des Zwanzigsten Jahrhunderts nicht ausschließlich auf deutschen Schultern getragen wissen wollen. Und während der Lektüre der über 400 Seiten wachsen die Zweifel, ob diese tragische Nebenfigur der Weltgeschichte es wirklich wert war, ihr ein solch ausführliches Werk zu widmen.
Ian Kershaw: Hitlers Freunde in England. Lord Londonderry und der Weg in den Krieg
Übersetzt von Klaus-Dieter Schmidt
Deutsche Verlagsanstalt, München 2005
528 Seiten, 39,90 Euro