Mit Musik für Verständigung
Das Trans-Siberian Art Festival in Nowosibirsk bot richtig gute Musik - und eine entspannte Atmosphäre. Von den hoch kochenden Konflikten zwischen Kulturschaffenden und der orthodoxen Kirche sowie Teilen der Politik war hier nichts zu spüren.
Künstler, Bürger, Kulturpolitiker: rund 2500 Menschen demonstrieren auf dem Leninplatz vor dem Opernhaus gegen Kulturzensur und den wachsenden Druck der orthodoxen Kirche auf die freie Meinungsäußerung. Mitglieder der erst vor wenigen Wochen entstandenen Organisation für Freiheit in der russischen Kunst rufen zum Rücktritt des Kulturministers und des neuen Intendanten des Nowosibirsker Opernhauses auf.
Vor genau zwei Wochen hatten am selben Ort Popen und Rechtsradikale die Tannhäuser-Inszenierung von Regisseur Timofej Kuljanin verteufelt. Der Fall spaltet immer noch die kulturinteressierte Bevölkerung Russlands. Die für die Öffentlichkeitsarbeit des städtischen Symphonieorchesters mitverantwortliche Anastasia Sheveleva ist fassungslos, dass der für die Staatsoper verantwortliche Kulturminister in Moskau Intendant Boris Mesdritsch durch Wladimir Kechman aus Sankt Petersburg ersetzte, der die Wagneroper umgehend vom Spielplan strich.
"Es geht hier um eine Gruppe, die sich orthodoxe Aktivisten nennen, und denen es bereits vor einiger Zeit gelang, ein geplantes Konzert des US-Rocksängers Marilyn Manson abzusagen, weil es die russische Seele verletze. Ich bin davon überzeugt, dass die Mehrheit der Bevölkerung von Nowosibirsk gegen Zensur ist. Wer Manson und diese Tannhäuserinszenierung nicht sehen will braucht ja nicht hinzugehen!"
Auch Alexey Streltsov, lutheranischer Geistlicher in Nowosibirsk und Opernfan, spricht im Fall Tannhäuser von der Verbeugung der Politik vor der orthodoxen Kirche:
"Der Patriarch verstand die Inszenierung nicht. Seine Vorgesetzten in Moskau sind gar nicht erfreut über sein Vorpreschen, denn jetzt wettern Kulturschaffende gegen den immensen Einfluss der orthodoxen Kirche auf die Kultur. Aber wir leben hier in einer anderen Welt als Sie in Westeuropa!"
Keine Kürzungen bei der Nachwuchsförderung
Eine andere Welt, sicherlich, die aber auch, abgesehen vom Tannhäuserskandal, eine ungemein positive Seite hat. Jedenfalls in Nowosibirsk.
Stadt und Region finanzieren rund 100 Musikschulen. Von finanziellen Kürzungen ist, anders als in Westeuropa, in Russland keine Rede. Und so gibt es in Nowosibirsk ein ausgezeichnetes Symphonieorchester, das größte und zweitwichtigste Opernhaus ganz Russlands und zahlreiche kleinere Orchester und Festivals. Eines der wichtigsten Festivals gründete der in Nowosibirsk gebürtige Starviolinist Vadim Repin. Die zweite Ausgabe des Trans-Siberian Art Festival bot zwei Wochen lang jeden Tag klassische Musik vom Feinsten, mit weltbekannten Interpreten, darunter Rudolf Buchbinder, Jean-Yves Thibaudet und Leonard Slatkin. Im Zentrum der fast immer ausverkauften Konzerte stand vor allem Violinmusik, von hoch begabtem Nachwuchs und Stars – wie natürlich Lokalmatador Vadim Repim.
Violinist Repim hat gerade in diesen kulturpolitisch und auch geopolitisch bewegten Zeiten, mit einem drohenden neuen Kalten Krieg, einen Traum:
"Wenn wir uns die Hände reichen, wie hier unter uns Künstlern, dann können wir vielleicht erreichen, dass die Situation nicht eskaliert. Die aktuellen politischen Spannungen zu beurteilen ist schwierig und nicht unsere Aufgabe. Für unser Festival interessieren uns nicht die politischen Vorstellungen unserer Gäste."
Von den heftigen Auseinandersetzungen im Fall Tannhäuser war bei Repims Musikfestival nichts zu spüren. Künstler und Gäste aus Ost und West hörten sich musikalisch und auch bei Gesprächen zu: von sogenannten Identitätsproblemen zwischen Russlands Seele und der vermeintlichen dekadenten westlichen Welt war bei Repins Festival keine Rede. Es ist das große Verdienst Repins in der kulturell aufgewühlten Situation Nowosibirsks und auch Russlands einfach nur richtig gute Kunst und eine entspannte Atmosphäre geboten zu haben – und damit eine ideale Plattform für Verständigung qua Kultur.