"Außenpolitik bedeutet immer moralische Grauzone"
Deutschland müsse seine "Kultur der Passivität" aufgeben, fordert Jan Techau von der Denkfabrik Carnegie in Washington. Die Amerikaner erwarteten zu Recht von Europa mehr Unterstützung - allerdings sei US-Präsident Obama außenpolitisch "eine maßlose Enttäuschung".
Deutschlandradio Kultur: Jan Techau ist Direktor des Europäischen Büros der Carnegie-Stiftung. Direktor des Europäischen Büros der Carnegie-Stiftung, so nennt sich Ihre Institution, die zu den führenden Think Tanks in Washington gehört. Was passiert da eigentlich?
Jan Techau: Wir machen klassische außenpolitische Think-Tank-Arbeit. Das heißt, wir gucken uns die Welt an, forschen, suchen nach Konfliktgründen und versuchen, Lösungen aufzuzeigen – immer mit der Maßgabe, nicht akademische Forschung zu machen, sondern im Grunde Entscheidungshilfe für die Politik zu sein. Wir wollen Lösungsvorschläge machen, damit die Welt am Ende etwas besser und etwas friedvoller aussieht.
Deutschlandradio Kultur: Diese Denkfabriken in Washington sind ja in der Regel parteipolitisch aufgestellt, die Republikaner konservativ, die Demokraten eher liberal. Wo steht die Carnegie-Stiftung?
Jan Techau: Carnegie gehört zu der kleinen Handvoll von Think Tanks, von diesen Forschungseinrichtungen, die sich parteipolitisch nicht verortet. In Amerika übernehmen Think Tanks ja im Wesentlichen Parteifunktionen, weil die Parteien, die politischen Parteien dort so schwach organisiert sind. Und deswegen ist der übergroße Teil dieser Think Tanks eben tatsächlich politisch markiert.
Wir und die Brookings Institution und noch ein paar andere stehen da sozusagen drüber. Wir haben sicherlich im Einzelnen unsere politischen Meinungen, aber als Organisation sind wir eben keiner Weltanschauung verpflichtet.
Deutschlandradio Kultur: Gestern vor 50 Jahren wurde John F. Kennedy ermordet. Er wurde in Berlin enthusiastisch gefeiert auf seinem Deutschlandbesuch. Und er schrieb seinem Nachfolger sinngemäß ins Stammbuch: "Wenn’s mal schlecht läuft und ihr Trost braucht als Präsident, fahr nach Deutschland." – Wäre das für Obama jetzt unbedingt der richtige Tipp?
Jan Techau: Für Obama ist das vielleicht nicht mehr der ganz so richtige Tipp. Jedenfalls ist es nicht mehr die Allzweckwaffe, nach Berlin zu kommen. Ich glaube, dass für Präsident Obama hier immer noch so eine Art Grundsympathie besteht, aber seine Präsidentschaft, seine Person haben gelitten. Auch das transatlantische Verhältnis insgesamt hat gelitten und ist ja sowieso ganz anders aufgestellt, als es das damals war, als Kennedy hier in Berlin war. Diese Nachkriegszeit, die da nachwirkte, das Gefühl auch des Aufbruchs, 60er-Jahre, raus aus den 50-ern, ein junger Präsident und Amerika damals noch sozusagen wirklich das Leitbild der Moderne in vielerlei Hinsicht, das war eine ganz andere psychologische Grundsituation.
Heute sind wir alle zusammen im Westen, Amerika und Europäer eigentlich in so einer Art Depression und von tiefen Selbstzweifeln eigentlich erfasst. Das war damals nicht so sehr der Fall. Und die Deutschen hadern sehr sowohl mit Amerika als auch mit sich. Also, psychologisch ist das eine ganz heikle Situation transatlantisch zurzeit. Wenn er hierher käme, es ist ja gar nicht so lange her, dass er hier war, dann verpufft sehr schnell. Sein letzter Besuch hier und seine Rede vor dem Brandenburger Tor haben eigentlich keinen großen Eindruck hinterlassen.
Deutschlandradio Kultur: Das war aber vor der Abhöraffäre, auf die wir natürlich gleich noch zu sprechen kommen. 1990 hat der damalige Präsident Bush, Senior, also der ältere Bush, die Deutschen aufgefordert, "Partners in Leadership" zu werden, also Führungspartner übersetzt. Ist von dieser etwas vollmundigen Aufforderung etwas übrig geblieben?
Jan Techau: Ja, eigentlich ist die aktueller denn je. Damals war es sozusagen ein großzügiges Angebot des Hegemon, der gesagt hat, wir nehmen euch mit, wir brauchen euch und wollen euch. Und das war damals sozusagen eher ein freundschaftliches Angebot. Heute ist es eigentlich eher eine Notwendigkeit.
Die Europäer insgesamt und die Deutschen im Speziellen in Europa sind für die Amerikaner viel wichtiger geworden. Man hört zwar landläufig immer das Gegenteil, aber in Wirklichkeit, wenn man sich die globale und geopolitische Großsituation ansieht, ist der Westen füreinander noch wichtiger geworden als früher. Deutschland spielt in dem europäischen Teil dieses Westens die Kernrolle, die Leitrolle, was für die Deutschen ein ganz schwieriges Unterfangen ist, da sozusagen aus der Deckung zu kommen und die alte Nachkriegskultur im Kopf auch abzulegen.
Deswegen ist dieses Angebot aktueller denn je. Die Deutschen müssen sich rausbewegen aus ihrer Kultur der Zurückhaltung, aus ihrer Kultur der Passivität. Das wird an allen Fronten gefordert, auch an der europäischen Front, nicht nur an der transatlantischen. Und deswegen hat Bush Senior damals visionäre Worte ausgesprochen.
Deutschlandradio Kultur: Um es mal mit meinen Worten zu sagen: Die Deutschen, die Europäer sind für die Vereinigten Staaten so wichtig, dass man sogar genau wissen möchte, was überall besprochen wird – auch auf privaten Handys, auch auf privaten Handys der Regierungschefs usw. Ist das ein Zeichen der Wichtigkeit?
Jan Techau: Ja natürlich, das ist ein Zeichen der Wichtigkeit. Das ist ein Zeichen dafür, dass man ernst genommen wird, ein Zeichen dafür, dass es relevant ist zu wissen, was hier gedacht wird und wie man sich hier positioniert. Das betrifft ja nicht nur Deutschland, sondern auch Frankreich und andere Länder, Großbritannien übrigens auch. Da ist die Special Partnership oder Special Relationship ja auch immer sehr funktional gewesen.
Also, die Amerikaner wollen wissen, wie wir uns positionieren. Wir spielen eine Rolle. Europa spielt eine Rolle. Deutschland spielt eine Rolle. Das ist nicht immer angenehm, aber das Spiel der internationalen Politik ist nicht angenehm. Und die Deutschen sind jetzt ein bisschen aufgewacht und haben plötzlich festgestellt: Ups, da findet ja ein Machtspiel statt im Hintergrund. Das hat immer schon stattgefunden, aber die Deutschen haben immer gerne geglaubt, dass sie davon nicht so betroffen sind. Und jetzt stehen sie plötzlich im Mittelpunkt und das tut ein bisschen weh. Auf vielen Ebenen tut das weh.
Deutschlandradio Kultur: Es ist natürlich auch ein bisschen doof, wenn man sich dann dabei erwischen lässt.
Jan Techau: Ja. Das darf man sowieso niemals. Das ist ja die oberste Regel in diesem Spionagespiel, wenn man so will. Jeder weiß, dass es passiert. Die Deutschen machen das ja auch. Und wenn es dann rauskommt, ist es immer eine ganz große Peinlichkeit, so wie das für die Amerikaner jetzt eine große Peinlichkeit ist. Die Dimension, die das jetzt hat, ist schon natürlich ein kleines bisschen eine andere, weil jetzt technisch so viel mehr möglich ist. Man muss unterscheiden zwischen den gezielten Abhöraktionen und dieser Massenüberwachung, die da stattfindet.
Was ein interessantes Phänomen ist in diesem Zusammenhang, ist, dass die Amerikaner selbst offensichtlich von ihren technischen Fähigkeiten überfordert sind. Das, was möglich ist an Überwachung und an Datenerfassung, jetzt sozusagen in gelenkte Bahnen zu bringen, auch noch zu kontrollieren und daraus überhaupt Nutzen zu ziehen, denn es ist ja eine Masse an Daten, das kann man sich gar nicht vorstellen, das ist auch für die Amerikaner sehr schwierig. Da gibt es viel Reformbedarf auf der amerikanischen Seite.
Aber die Grundbotschaft ist: Daran wird sich nichts ändern. Es wird weiter so bleiben. Die einzige Lektion, die wirklich einzige echte praktische Lektion, die man in Europa und in Deutschland daraus ziehen kann, ist, in diesem Spiel selber professioneller zu werden, selber sich besser zu schützen technisch und selber eine bessere Spionage zu betreiben. Es hilft nichts anderes. Das ist das, was jeder auch erwartet letztlich.
"Fundamentalhunger nach moralischer Klarheit"
Deutschlandradio Kultur: Das haben Sie auch in einem Artikel, ich glaube, für die Financial Times, neulich gefordert, sozusagen weniger Entrüstung, dafür lieber mehr Spionage – ich fasse das mal so zusammen. Das sind natürlich Schlagzeilen, die hier in Deutschland vielleicht eher kritisch gelesen werden.
Jan Techau: Ja, ganz sicher. Das wird hier nicht gerne gelesen. Das ist ja hier ein moralisch belegtes Thema. Und das ist ja die Grundierung auch der deutschen außenpolitischen Debatte, ist ja immer eine Moralerwägung an erster Stelle und dann Interessen und Machtkonstellationen an zweiter Stelle. Das ist der große Schwachpunkt der deutschen Debatte. Man kann das psychologisch verstehen. Die Deutschen haben in ihrer Nachkriegskultur einen großen Fundamentalhunger nach moralischer Klarheit entwickelt. Das war nach den Verfehlungen Deutschlands während des Nationalsozialismus eine ganz natürliche Reaktion. Aber dieser Hunger nach moralischer Klarheit, der durchzieht die gesamte Debatte auch innenpolitisch an vielen Stellen.
Das Problem in der Außenpolitik ist, dass diese moralische Klarheit ja so schwer zu haben ist. Außenpolitik bedeutet immer moralische Grauzone. Militäreinsatz bedeutet immer Risiko, bedeutet immer, man kann sich an der falschen Stelle engagieren. Es kann auch was schief gehen. In der Außenpolitik ist ganz selten moralische Klarheit zu haben. Und deswegen tun sich die Deutschen mit einer außenpolitischen Debatte, so wie sie überall sonst geführt wird, so furchtbar schwer. Und in der Spionagedebatte, in der NSA-Affäre ist das ganz deutlich zum Tragen gekommen.
Natürlich fühlt man sich in seinem Vertrauen erschüttert. Aber andererseits darf man eben auch nicht zu viel erwarten. Da draußen in der Welt herrscht ein rauer Ton in der Außenpolitik. Und der ist mit moralischen Wunschvorstellungen der Deutschen nicht immer kompatibel.
Deutschlandradio Kultur: Ich habe in diesem Artikel für die Financial Times noch einen Satz von Ihnen gelesen, der das, was Sie gerade sagen, vielleicht ein bisschen erklärt. Aber ich würde da gerne noch mal einhaken und Sie bitten, das doch noch ein bisschen auszuführen. Ich zitiere das mal: "40 Jahre eingeschränkter Souveränität und fremdgesteuerter Sicherheit haben das geopolitische Interesse Deutschlands verkümmern lassen." – So ungefähr haben Sie das formuliert. Was meinen Sie damit?
Jan Techau: 40 Jahre lang, also während der deutschen Teilung, vor der Wiedervereinigung war Deutschland eben nur ein bedingt souveräner Staat. Es stand letztlich unter Oberaufsicht der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges. Das hat man in den 80er-, 90er-Jahren, Anfang der 90er noch vergessen, aber es war tatsächlich der Fall. Also, die Deutschen konnten die letzten Fragen der Außenpolitik, die existenziellen Fragen der Außenpolitik eigentlich nicht selbst beantworten. Das haben andere für die Deutschen erledigt. Und zum Teil war das für die Deutschen sehr bequem und die haben sich in dieser Nische eigentlich sehr gut eingerichtet. Das war ja für Deutsche übrigens in West und Ost das Gleiche.
Nach der Wiedervereinigung war das weg. Und plötzlich musste man sich in diesem Spiel selbst behaupten und auch positionieren. Wo will man stehen? Und das erfordert jetzt plötzlich ein Anknüpfen an die intellektuelle Tradition, an eine Analysetradition und an eine Weltsicht, die im Grunde in diesen 40 Jahren verkümmert ist. Und dabei geht es nicht nur um um brutale Machtpolitik, sondern es geht dabei darum, ein Grundverständnis zu haben, wie das Spiel auf internationaler Ebene gespielt wird.
Und jetzt wird plötzlich von diesem Deutschland weltpolitische Beweglichkeit eingefordert und mehr Verantwortung. Das wird hierzulande durchaus mit allergischen Reaktionen aufgenommen. Und das meine ich damit in diesem Artikel. Hier trifft eine strategische Kultur auf eine strategische Wirklichkeit. Und die passen nicht zusammen.
Man hat das in der Libyen-Geschichte gesehen. Man hat das zum Teil jetzt in der Syrien-Debatte gesehen und an einigen anderen Baustellen, wo diese Kultur mit der Realität zusammenknallt. Wir haben das auch in Afghanistan mit der Kundus-Affäre gesehen, wo man sich jahrelang hier was vorgemacht hat und dann verwundert war, als man plötzlich feststellte, ups, das ist ja ein Krieg und da passieren Dinge, die nicht schön sind.
Wenn das miteinander zusammenprallt, dann gibt’s in diesem Land in der Regel Schmerz und Aufschrei. Das ist zum Teil gut. Aber in der Form, wie das hier stattfindet, ist es nicht konstruktiv. Man wünschte sich, dass in etwas gelassener und ruhiger, nüchterner debattiert werden könnte.
Deutschlandradio Kultur: Herr Techau, der 11. September 2001, 9/11, war sicherlich eine Zäsur in der Sicherheits- und auch der Außenpolitik. Der anschließende Quantensprung in der Bedrohungsanalyse und den Aktionen der Amerikaner, das betrifft uns ja bis heute. Und wir dürfen auch nicht vergessen, dass der Kopf der Attentäter eine Zeitlang in Hamburg lebte und dort den Angriff zum Teil vorbereitet hat. Inwieweit haben die Amerikaner seither beschlossen, wir machen unser Ding, wer uns unterstützen will, ist gut, wer nicht hilft, der fällt eben in die zweite oder dritte Reihe?
Jan Techau: Also, man kann die Wirkung, die 9/11, die der 11.September auf die Amerikaner gehabt hat und noch immer hat, überhaupt nicht überschätzen. Die Amerikaner haben damals sehr intensiv und zum Teil sehr aggressiv reagiert. Sie haben zum Teil mit Abschottung reagiert. Und sie haben zum Teil damit reagiert, dass sie Sicherheit sehr breit definiert haben und letztlich auch auf ihre Partner ausgerollt haben. In vielen, vielen kleinen und technischen Fragen hat das Folgen gehabt.
Das ergab eben ein Gesamtbild von einem Amerika, das obsessiv sich mit Sicherheit befasste. Und dieses "Wenn die Partner mitmachen, ist es schön, und wenn sie nicht mitmachen, dann sind sie außen vor" ist sicherlich während der zwei Präsidentschaften von Präsident Bush dem Jüngeren sehr stark auch tatsächlich so formuliert worden, jedenfalls in der ersten Amtszeit.
Es gibt da zwei Faktoren. Es gibt da einmal diese amerikanische Reaktion: Wir brauchen jetzt Alliierte und wer nicht mitmacht, ist gegen uns. Das war eine Überreaktion. Das ist auch von der Rhetorik her ja ganz abgeflacht worden. Aber es gibt natürlich auch noch abseits von 9/11 eine Machtverschiebung in der Welt. Das ist nicht mehr nur 9/11 und Terrorismus, sondern Amerika wird im Vergleich zu anderen schwächer. Amerika, die Macht, die sozusagen die globale Weltordnung im Wesentlichen garantiert, da sind andere Mächte da draußen. Da gibt es einen Reflex in Amerika, der mal nach innen schaut. Die Europäer sind relativ schwächer geworden mit ihrer Krise, aber auch schon vor der Krise. Andere asiatische Mächte, auch Russland, wittern sozusagen wieder Morgenluft. – Und jetzt ist die Frage: Wer garantiert sozusagen die Weltordnung?
Die Amerikaner haben ein sehr, sehr genaues Bild davon, wie der Westen, sozusagen die Nordamerikaner, die Europäer und dann noch ein paar andere verstreute Akteure in der Welt, welche Rolle die spielen sollen und wie wichtig die sind, um diese globale Ordnung aufrecht zu erhalten. Die Amerikaner haben ja ein stärkeres Verständnis davon als die Europäer oft. Wenn die mit dieser Frage "Wollt ihr eigentlich sozusagen euch für den Westen engagieren, helft ihr mit, die globale Weltordnung, die liberale Weltordnung zu garantieren", wenn sie mit diesem Angebot und mit dieser Frage nach Europa kommen, dann gibt’s hier oft manchmal so einen Schüttelreflex. Aber im Grunde ist das die geopolitische Sichtweise, die die Europäer stärker noch aufnehmen müssen.
Sie müssen sich nicht jede amerikanische Idee da zu eigen machen, aber sie müssen stärker verstehen, dass ihre Welt- und Werteordnung, ihre Wirtschaftsordnung und ihre Stabilität hier ganz entscheidend davon abhängen, was an anderen Ecken der Welt stattfindet, dass die Amerikaner im Wesentlichen diejenigen sind, die das garantieren, dass Korea nicht in die Luft fliegt, dass im Nahen Osten keine nukleare Aufrüstung stattfindet. All solche Ordnungsfragen stehen da ja im Raum und dass die Europäer sich viel stärker engagieren müssen. Und daher kommt auch ein bisschen dieses: Seid ihr eigentlich bei uns oder seid ihr nicht bei uns?
Deutschlandradio Kultur: Sie haben zu Beginn unseres Gespräches die Bedeutung bekräftigt, die Europa, speziell Deutschland, noch immer für die Vereinigten Staaten hat. Aber wenn die in Europa, wie es ja nun der Fall ist, ständig in die eigene Geldbörse schauen müssen und sehen, dass da genug drin ist, ich sage es mal so, um das von Jahr zu Jahr am Laufen zu halten, dann habe ich doch den Eindruck, dass die Amerikaner – gerade Obama, gerade seine Administration – doch viel stärker auf den pazifischen Raum, vor allen Dingen nach China schaut und dort stabilere Partner, bei China kann man ja nicht unbedingt sagen, demokratische Partner, aber doch stabilere Partner zu finden hofft, als er das möglicherweise in Europa findet. Teilen Sie diese Einschätzung?
Jan Techau: Also, die Hoffnung der Amerikaner ist natürlich da, dass man in Asien so stabile und gute und verlässliche Partner findet wie Europa. Es gibt aber auch eine Wahrnehmung in Washington, dass man das möglicherweise nicht hinkriegt, dass weder die Japaner noch die Südkoreaner noch andere Akteure, die Philippinen oder Indonesien, erstens so verlässlich sind, so leistungsfähig, und zweitens mit dem amerikanischen Grundmodell immer so in vollem Einklang stehen.
Deutschlandradio Kultur: Die Chinesen haben Sie jetzt nicht genannt?
Jan Techau: Die Chinesen habe ich nicht genannt, weil die Chinesen in der Region für die Amerikaner zwar ein Partner sind, aber gleichzeitig auch der Akteur, der dort die Unsicherheit in der Region vor allen Dingen verstärkt. Ich will nicht sagen "Gegner", das ist zu stark formuliert. Das will auch niemand in Washington so sehen. Aber wenn man sich anguckt, wie nervös die Länder um China herum geworden sind – die Japaner, die Koreaner zu einem geringeren Grad, aber die Philippinen –, die alle territoriale Konflikte haben und die von der Ordnungsmacht China sich oft bedroht fühlen, die suchen natürlich die Nähe zu Amerika. Aber gleichzeitig wollen sie die Nähe zu Amerika auch nicht übertreiben, weil das wiederum die Chinesen verstimmen könnte. Es ist also ein Balancespiel, was da stattfindet.
Und dieses Balancespiel macht es viel, viel schwieriger für Washington, dort in der Region dieselbe Form von Partnerschaft und enge Bindung, bis hin zu institutionellen Bindungen durch die Nato, die wir in Europa haben, dort in Asien zu replizieren und auf ähnliche Art und Weise da noch mal aufzusetzen.
Deswegen sozusagen unterm Summenstrich: Ja, Asien ist die hauptgeopolitische Suppenküche der Welt. Da wird über Stabilität und Wohlstand im Wesentlichen mit entschieden, ganz anders als noch vor 20 Jahren. Aber wenn man sich anschaut, wer in der Welt die amerikanischen Partner sind, die ja nicht nur militärisch – das wird oft in den Vordergrund gedrückt –, aber auch sonst in der Normsetzung, in der Frage, welche Normen sollen gelten in Handelsverträgen, im internationalen Recht, Responsibility to Protect zum Beispiel, die Schutzverantwortung, wer ist eigentlich bei den Amerikanern, wer tickt so ähnlich, wer hat dasselbe Wertegrundgerüst – bei allen Abweichungen, die es da im Detail gibt –, dann finden die Amerikaner eben auf der Welt vor allen Dingen und erstmal die Europäer. Und deswegen sind sie so besorgt darüber, dass die Europäer hier nur auf ihren Bauchnabel gucken, von der Krise geschüttelt sind, kein Geld mehr haben. Die Amerikaner haben ein ganz vitales Interesse daran, dass die Europäer ihre Krise in den Griff kriegen und als Partner wieder stärker zur Verfügung stehen.
Deutschlandradio Kultur: Sehen Sie in der gegenwärtigen deutsch-amerikanischen, europäisch-amerikanischen Krise auch noch ein Eskalationspotenzial, beim Thema Freihandelsgespräche zum Beispiel?
Jan Techau: Ja, das ist ein heikles Thema. Im Grunde will das jeder. Auf beiden Seiten ist ein hohes Interesse an diesem Handelsabkommen, weil das wirtschaftliche, aber auch globalpolitische Konsequenzen hat, die für den Westen sehr, sehr positiv sein können, wenn sie richtig gespielt werden. Aber es gibt natürlich durch die NSA-Affäre da jetzt eine sehr starke Missstimmung. Wie die sich psychologisch auswirkt, das ist nicht so richtig absehbar.
Im Moment herrscht natürlich noch ein gewisser Groll vor und man liefert sich auch so ein bisschen diplomatische Geplänkel gegenseitig. Meine Vermutung wäre, dass der Wille, das zu tun, der politische Wille groß genug ist. Ich fürchte eher, dass dieses Freihandelsabkommen an technischen Fragen scheitert, als dass es an dieser politischen NSA-Verstimmung scheitert. Ich glaube, dass da dann am Ende vielleicht wirtschaftliche Interessen und einzelne Wirtschaftszweige, auch Lobbygruppen, die dann da was zu verlieren haben, vielleicht sogar Gewerkschaften, die was zu verlieren haben, dass die dann plötzlich da kalte Füße kriegen und die Sache unterminieren.
No-Spy-Abkommen ist "eigentlich nichts wert"
Deutschlandradio Kultur: Es gibt ja, Herr Techau, diese Forderungen, zu diesen Freihandelsgesprächen auch Gespräche über ein so genanntes No-Spy-Abkommen hinzuzufügen. Kann sein, dass die Amerikaner sich darauf einlassen, aber das ist natürlich auch immer eine Frage der Augenhöhe, der Deutschen sowieso, aber wahrscheinlich, vielleicht mit Ausnahme der Engländer, auch der anderen Europäer.
Jan Techau: Ja, da ist ein Gefälle da. Aber ich glaube, der Knackpunkt bei einem solchen No-Spy-Abkommen ist noch ein anderer, nämlich der, dass er eigentlich nichts wert ist. Das ist ja nicht justiziabel. Da kann man ja niemanden vor Gericht ziehen, wenn er diesen Vertrag da verletzt. Das ist dann sozusagen Vertrauensverlust und dann ist man sich gegenseitig wieder ein bisschen böse. So ein Abkommen hat einen deklaratorischen Wert. Das ist auch nützlich und vernünftig, aber man soll sich jetzt nicht der Illusion hingeben, dass so ein Abkommen das grundsätzliche Spionagespiel, das da abläuft, ändern wird. Das ist nicht der Fall.
Nochmal: Die einzige Antwort, die die Europäer geben können, ist, in der Sache selbst besser zu werden. Es ist ganz unerklärlich und auch nicht verständlich, warum Hightech-Länder wie Deutschland und andere in Europa nicht in der Lage sein sollen, sich vernünftig zu schützen und die Telefone der Kanzlerin und die Kommunikation ihrer Bürger einigermaßen, jedenfalls was die Grundfragen angeht, schützen zu können. Da sind wir einfach ein bisschen schlampig gewesen und haben das ziehen lassen, haben auch natürlich den technischen Vorteil verloren.
Wir haben in der IT-Welt die erste Technologie in der Geschichte, wo wir als Europa sozusagen den Wettbewerb mit Amerika nicht wirklich aufgenommen haben, sondern wo wir die Amerikaner haben ziehen lassen. Und die Spionageaffäre, wie sie sich jetzt ausweitet, ist auch eine Folge davon. Wir zahlen jetzt den Preis dafür, dass wir ein großes Technikfeld im Grunde den Amerikanern überlassen haben und ganz bequem auf deren Produkten und auf deren Plattformen uns selbst getummelt haben. Das wird sich ändern müssen, wenn man da wirklich einen Unterschied machen will in der Zukunft.
Deutschlandradio Kultur: Wenn führende deutsche Politiker jetzt die Forderung erheben, das Völkerrecht im Netz durchzusetzen, müssen Sie da ein bisschen kichern?
Jan Techau: Ja, kichern nicht, das ist zu einfach. Die Durchsetzung des Völkerrechts ist grundsätzlich in der internationalen Politik ein heikles Thema. Die Durchsetzung des Völkerrechts hängt immer nicht von irgendeiner globalen Überinstanz ab, die UN hat sich da ja als äußerst fehlerhaft erwiesen, sondern die hängt davon ab letztlich, wie willens die einzelnen Länder sind, da diesen Normen auch Macht zu verleihen. Es ist also wieder am Ende ein Machtspiel. Das Gesetz wirkt eben nicht nur aus sich selbst heraus, sondern auch durch diejenigen, die es durchsetzen wollen. Und das ist im Netz und überall sonst eine große, große Schwierigkeit. Ich fürchte, dass das wieder nur letztlich Symbolpolitik ist. Natürlich kann man das fordern. Das ist fein und schön. Das wird am Ende nicht wirklich einen Unterschied machen.
Deutschlandradio Kultur: Die Vereinigten Staaten, Herr Techau, sind innenpolitisch ein zutiefst gespaltenes Land. Man muss an die Tea Party denken. Man denkt an Obamas Gesundheitsreform. Man denkt an die Haushaltsgespräche. Die Liste ist lang. Und in der Syrienfrage hat sich das ja schon angedeutet, dass man auch außenpolitisch nicht mehr unbedingt einer Meinung ist.
Macht Ihnen das Sorgen, dass sich – auch wenn es tatsächlich mal eine größere außenpolitische Krise geben wird – die amerikanischen Parteien, die öffentliche Meinung in nahezu gleich großen Lagern so stark gegenüberstehen, dass die Vereinigten Staaten auch international möglicherweise handlungsunfähig werden?
Jan Techau: Das ist ein sorgenvolles Thema. Amerika ist die westliche Führungsmacht und ist letztlich nicht nur für den Westen die Führungsmacht, sondern beispielsweise auch China und die anderen BRIC-Länder verlassen sich ja…
Deutschlandradio Kultur: BRIC müssen wir erklären.
Jan Techau: Das sind die aufkommenden großen, im Aufstieg begriffenen sozusagen Mittelmächte. Das sind Brasilien, Russland, Indien und China. Die werden immer in diesen Topf geworfen. Die sind aber alle, und das ist interessant, da gehört auch noch Südafrika dazu und so ein paar andere nennt man gerne noch in dem Zusammenhang, manche zählen sogar Deutschland zu den BRICs. Die verlassen sich im Wesentlichen auf eine amerikanische Dienstleistung: Wer hält die internationalen Handelswege auf? Wer entschärft die Konflikte in der Welt? Wer ist da, wenn in Korea die Spirale aus dem Ruder zu laufen droht oder wenn es darum geht, den Iranern die Atombombe abspenstig zu machen? Das sind die Amerikaner. Niemand anderes übernimmt diese Verantwortung.
Und das wird nicht immer gemocht und Amerikaner schlagen auch über die Stränge und haben merkwürdige Ideen oft. Aber im Grunde sind sie das Rückgrat dieser globalen Weltordnung.
Wenn diese Macht, diese zentrale Macht jetzt schwächelt und diese Pax Americana bröckelt und wenn die Zentralmacht da schwächer wird, dann gibt’s ein Vakuum. Im Nahen Osten erleben wir das ein bisschen. Wir erleben es ein ganz kleines Bisschen in Osteuropa. Es gibt Leute, die sagen, dass man es auch an anderer Stelle auf dem Planeten erlebt, dass die Amerikaner nicht mehr ganz so stark sind und andere dann dieses Vakuum füllen, was da frei gemacht wird. Und ob das dann immer die Länder sind, die sozusagen in unserem Sinne Werte und Ordnung vertreten wollen, das ist nochmal wieder eine ganz andere Frage.
Das heißt, wenn die Zentralmacht schwächelt, erstens weniger in der Lage ist, aber zweitens auch, wie Sie sagen, weniger bereit dazu ist, letztlich global zu investieren und dieses wahnsinnig teure Unterfangen Weltordnung in Angriff zu nehmen, dann haben wir alle ein Problem.
Teilweise ist das unvermeidlich, weil die Amerikaner eben im Vergleich, also relativ schwächer werden. Ich glaube nicht an einen amerikanischen decline, also an Abstieg. Da gibt’s eine Reihe von Gründen dafür, warum das nicht der Fall sein wird. Die Frage ist, ob Amerika im Inneren bereit ist, den Preis weiterhin zu zahlen. Im Moment sieht das nicht so aus, weil die Zerrissenheit groß ist, vor allen Dingen aber – und das wird in Europa auch oft nicht gesehen – weil dieser amerikanische Präsident Obama so eine maßlose Enttäuschung ist, außenpolitisch, aber auch innenpolitisch ein schwacher Präsident, der oft nicht bereit ist, Führung zu übernehmen und der das Spielfeld offen lässt an vielen Ecken und Enden.
Hier gibt’s also zwei Faktoren. Einerseits gibt’s so eine interne Zerrissenheit. Die wäre aber weniger wichtig und würde Amerika weniger stark lähmen, wenn es einen amerikanischen Präsidenten gäbe, der die amerikanische Rolle in der Welt etwas offensiver, aber vor allen Dingen auch etwas feinfühliger definieren würde als Obama.
Deutschlandradio Kultur: Dann hoffen wir mal auf den Nächsten oder vielleicht die Nächste. Vielen Dank, Herr Techau, für dieses Gespräch.