Transidentität im Islam

Religiöse Traditionen des "dritten Geschlechts"

11:49 Minuten
Eine Hijra in Indien bei einem religiösen Ritual an einem Feuer.
Ein Fest für die Göttin Renuka in Indien: Transidente Menschen der Hijra-Community spielen bei dieser Zeremonie eine zentrale Rolle. © imago / ZUMA Press / Abhijeet Gurjar
Leyla Jagiella im Gespräch mit Julia Ley |
Audio herunterladen
Transidente Menschen bilden in manchen asiatischen Ländern eigene religiöse Gemeinschaften innerhalb des Islam. Die Religionswissenschaftlerin Leyla Jagiella kennt diese Traditionen gut. Als muslimische trans Frau ist sie selbst in sie eingetaucht.
Julia Ley: Leyla Jagiella ist Religionswissenschaftlerin und Ethnologin. Sie hat schon in sehr jungen Jahren den Islam angenommen und sie hat sich – nachdem ihr bei der Geburt das männliche Geschlecht zugewiesen wurde – mit 19 Jahren entschieden, offen als Frau zu leben. Darüber, wie sie es schafft, ihr Muslimisch-Sein und ihr Trans-Sein zusammenzubringen – und warum sie dafür erst nach Pakistan reisen musste, spreche ich jetzt mir ihr.

Als Teenager und trans Frau in der Kleinstadt

Frau Jagiella, vor wenigen Monaten ist Ihr erstes Buch erschienen, darin schildern Sie Ihren Weg als trans Frau und Muslimin. Sie sind in einer Kleinstadt in Deutschland aufgewachsen und dort auch zur Schule gegangen. Nehmen Sie uns doch noch mal einmal mit in diese Zeit. Wie war das, in den 90er-Jahren, als Teenager in Deutschland mit einer Transidentität aufzuwachsen?
Leyla Jagiella: Es war so schwer wie an vielen anderen Orten auch. Es war vor allem damals auch so, dass es nicht so diese große Präsenz des Themas Trans gab, die es ja mittlerweile glücklicherweise gibt, in unserer Medienwelt. Ich sage immer, das war so die Nachmittags-Talkshow, -Freakshow eigentlich. Da gab es irgendwie so ein paar exotische Individuen, aber das war es auch.
Wenn ich mir auch manchmal heute noch Presseberichte von damals anschaue, bin ich immer sehr schockiert, wie wenig Wissen da war. Ich hatte in meinem Umfeld nichts, wo ich da irgendwie anknüpfen konnte. Insbesondere, da ich in einer sehr ländlichen Region aufgewachsen bin, in einer Kleinstadt, da war das alles noch einmal besonders schwierig.

Kein Raum für Diversität der Geschlechter

Ich fing dann an, als Teenager auch eine lokale Moschee zu besuchen, und das hat dann natürlich auch noch einmal zusätzliche Herausforderungen gegeben, weil ich da zwar keine persönlichen Angriffe oder Ausgrenzung erlebt habe, aber es lag einfach im Diskurs der Moschee, in dem, was in allen Freitagspredigten gesagt wurde, dass es da eben auch keinen Raum für sexuelle Diversität oder andere Geschlechtsidentitäten gibt. Und das alles hat in mir einen sehr starken Druck erzeugt.
Leyla Jagiella sitzt in einem Sessel und spricht ins Mikrofon.
Auf der Suche nach queeren Traditionen im Islam: Leyla Jagiella befasst sich in ihrem Buch mit der Kultur der Hijras.© Arne List
Ley: Ihr Buch ist ein Plädoyer dafür, dass das nicht so sein muss und dass es auch innerhalb der muslimischen Geschichte durchaus Traditionen gibt, an die man anknüpfen kann. Und eine solche Tradition sind ja die Hijras in Indien und Pakistan, mit denen sie über Jahre immer wieder gelebt haben. Wie sind Sie dorthin gekommen? Und was ist das für eine Community?
Jagiella: Das war eigentlich gegeben durch diese Isolation, die ich in den 90er-Jahren als Teenager gespürt habe. Ich hatte überhaupt keine Anknüpfungspunkte, wie ich gerade schon erwähnte. Ich wusste gar nicht, was ich damit jetzt machen sollte, mit meiner Identität.
Je älter ich wurde, desto klarer war: Das ist einfach unausweichlich. Ich kann mich nicht ändern. Es geht nicht. Ich bin einfach Frau, ich will als Frau leben. Ich bin aber auch Muslimin, ich bin überzeugt, ich will meinen Glauben leben. Was mache ich jetzt damit?

Sehnsuchtsort Südasien

Glücklicherweise kam in den 90er-Jahren das Internet in mein Leben. Da fing ich dann an zu recherchieren und war dann sehr überrascht zu erfahren, dass es in Südasien, in Indien und Pakistan, diese traditionelle Gemeinschaft gibt, die traditionell als „Hijra“ bezeichnet wird – wobei mittlerweile in Pakistan der Begriff „Khwajasara“ der politisch korrekte Begriff ist, der gewählt wird.
Ich habe eigentlich schon als Teenager angefangen, davon zu träumen, da hinzugehen und das zu erleben und diese Community zu besuchen und dort zu leben.
Vier Hijra Frauen in indischen Gewändern.
Spirituelle Gemeinschaft: Leyla Jagiella (2. v. r.) im Kreis der Hijras.© Leyla Jagiella
Ley: Sie beschreiben die Hijras in ihrem Buch ja als „Third Gender Community“, also als Menschen eines "dritten Geschlechts". Was genau bedeutet das denn? Sind die Hijras im Grunde trans Frauen, so wie wir den Begriff hier benutzen? Oder fallen sie in noch eine andere Kategorie?
Jagiella: Also, dieser Begriff „Third Gender“ oder „drittes Geschlecht“, der kommt nicht von mir. Gemeint ist damit, dass den Menschen, die zu dieser Community gehören, traditionell ein ganz bestimmter gesellschaftlicher Raum zugewiesen wird, der weder der von Männern, von cis Männern, noch der von cis Frauen ist. Sie haben eine spezifische gesellschaftliche, kulturelle Aufgabe – und auch religiös-spirituelle Aufgabe.
Die meisten Hijras könnten sich hier wahrscheinlich sehr leicht als trans Frauen identifizieren. Das heißt, es sind zum Großteil Menschen, denen bei der Geburt das männliche Geschlecht zugewiesen wurde, die sich dann aber eher als weiblich identifizieren.

Jenseits der gesellschaftlichen Norm

Allerdings ist die Kategorie auch noch mal ein bisschen weiter gefasst, und auch intergeschlechtliche Menschen können Hijras sein und auch noch andere Menschen, die irgendwie aus dieser zweigeschlechtlichen Norm rausfallen, von denen irgendwie gesagt werden kann: Die erfüllen nicht das ganze Programm, was gesellschaftlich von cis Männern und cis Frauen gefordert wird.
Ley: Sie haben jetzt gerade den Begriff „Cis“ schon verwendet. Das sollten wir vielleicht noch kurz erklären, für die, die es eventuell nicht kennen: Mit „cis“ ist gemeint, wenn das biologische und soziale Geschlecht übereinstimmen, also man biologisch zum Beispiel ein Mann ist und sich auch als Mann fühlt.
Wenn wir noch mal einen Schritt weitergehen in diese Community hinein: Wie leben denn die Hijras, zum Beispiel in Indien oder auch Pakistan? Womit verdienen sie ihr Geld? Wie sieht ihr Alltag aus?
Jagiella: Sie leben tatsächlich als Surrogatfamilien, so kann man das formulieren. Das sind recht hierarchische Communitys. An der Spitze stehen immer die sogenannten „Gurus“. Das ist ja auch ein Wort, das wir hier in Europa ganz gut kennen. Also, Guru heißt ja eigentlich „Lehrer“ oder „spiritueller Führer“. Dieses Wort wird auch in diesem Kontext verwendet, und die Gurus haben eben ihre sogenannten „Chelas“, also Schülerinnen.

Ein besonderer Draht zu Gott

Es leben nicht immer alle in dieser Surrogatfamilie zusammen. Aber oft ist es so, dass das so Wohngemeinschaften sind, Häuser, in denen sie zusammenleben. Und traditionell ist es so, dass die Mitglieder dieser Häuser ausziehen und gegen Segenswünsche, gegen Gebete Geld sammeln.
Also, das ist eine sehr alte Vorstellung in Südasien, dass eben die Mitglieder dieses dritten Geschlechts einen besonderen Bezug, einen besonderen Draht zu Gott haben, so kann man es formulieren, und eben die Fähigkeit haben, besondere Gebete zu sprechen, die dann auch sofort erhört werden – aber auch tatsächlich verfluchen zu können.
Und noch traditioneller ist eigentlich, dass die Community in kleinen Gruppen auszieht und Familien besucht, bei denen entweder ein Kind geboren wurde oder eine Hochzeit stattgefunden hat, um dann das neugeborene Kind oder das Brautpaar zu segnen.

Weniger Respekt, mehr rechtliche Anerkennung

Ley: Und doch muss ich sagen, ging es zumindest mir beim Lesen teilweise so, dass ich das Verhältnis auch als ambivalent empfunden habe. Sie schildern zum Beispiel, dass es in so einer Art ritualisiertem Schauspiel manchmal so ist, dass die Hijras ihren Weg in das Haus erst quasi „erzwingen“ müssen, weil man solche Leute eigentlich nicht so gerne reinlässt. Ist das wirklich die Art von Akzeptanz, die man sich wünscht?
Jagiella: Es ist auf jeden Fall eine Position, die – wenn wir jetzt von der traditionellen Vorstellung sprechen – auf sehr paradoxe Art und Weise sowohl heilig ist als auch gefürchtet.
Das ist etwas, was wir in sehr vielen kulturellen Kontexten eigentlich finden: Menschen, die sowohl heilig als auch gefürchtet sind, die ein bisschen unheimlich sind. Es ist sicher nicht unsere 21.-Jahrhundert-Vorstellung von LGBTQI-Gleichberechtigung und Teilhabe an der Gesellschaft.
Man muss sagen: Dieser heilige Respekt, der hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten stetig abgenommen, ist immer weniger geworden. Menschen der Mehrheitsgesellschaft haben unter anderem auch weniger Scheu, sich abwertend zu verhalten, sich diskriminierend zu verhalten, auch gewalttätig zu verhalten. Während gleichzeitig auf der Rechts- und Gesetzesebene auch zum Beispiel in Pakistan tatsächlich unglaublich viele Fortschritte für Transrechte passiert sind.
Also, da gibt es Entwicklungen, die in ganz unterschiedliche Richtungen gehen.
Ich habe es vor 20 Jahren vor allem als sehr beeindruckend erlebt, dass die Existenz dieser Community auf jeden Fall dafür gesorgt hat, dass es eine sehr natürliche Sichtbarkeit von Transmenschen in der indischen und pakistanischen Gesellschaft gab. Die kannte ich so überhaupt nicht im Westen.

Ambivalente Positionen des traditionellen Islam

Ley: Interessant ist natürlich auch an dieser Community, dass viele ihrer Mitglieder sich durchaus auch selbst als gläubige Muslime und in einer muslimischen Tradition stehend sehen. Nun gab es ja auch schon in der Frühzeit des Islams, auch darüber schreiben Sie in Ihrem Buch, Begriffe und Kategorien, die sich auch auf geschlechtliche und sexuelle Vielfalt bezogen haben.
Wie hat man das denn zu dieser Zeit verstanden und eingeordnet? Mit welchen Begriffen und Ideen wurde da gearbeitet?
Jagiella: Ja, da finden wir schon tatsächlich in den allerersten muslimischen Quellen Hinweise darauf, dass es zum Beispiel zur Zeit des Propheten in der muslimischen Community Menschen gab, die als „Mukhannathun“ bezeichnet wurden. Und Mukhannathun waren eben auch Menschen, denen bei der Geburt das männliche Geschlecht zugewiesen wurde, die sich aber eher weiblich identifiziert haben.
Nun sind die Quellen zu den Mukhannathun ein bisschen ambivalent. Also, es gibt Überlieferungen des Propheten, aus denen sich schließen ließe, dass er nicht so begeistert von denen war. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Überlieferungen des Propheten, die uns sagen, dass es ganz normal für Mukhannathun war, die Frauen des Propheten zu besuchen.
Und die klassische Gelehrtentradition ist mit diesen Überlieferungen eigentlich sehr differenziert umgegangen und hat immer gesagt: Es gibt Menschen, die tatsächlich einfach so geboren sind, und daran ist auch nichts Schlechtes. Wir müssen als Gelehrte vor allem dafür sorgen, diese Menschen zu integrieren in das Community-Leben, dass sie nicht ausgegrenzt werden, dass sie nicht diskriminiert werden.
Aber es gibt auch Grenzen für diese Menschen. Das heißt, wenn sie etwas tun, das die Regeln der Scharia verletzt, also insbesondere, wenn es um Sexualität geht, dann geht das nicht und dann muss das bestraft werden.

Inspiration durch historische Vorbilder

Ley: Lassen Sie uns zum Schluss noch einmal einen Blick auf Deutschland richten, wo sie auch jetzt wieder leben. Wie werden denn Ihre Erfahrungen, die sie da in Pakistan und Indien gemacht haben, und vielleicht auch ihr Buch, das ja nun erschienen ist, hier von Muslimen und Musliminnen aufgenommen?
Jagiella: Ich erlebe da sehr viel Offenheit, insbesondere natürlich von jungen Menschen, die selber versuchen, ihre Identität zu finden, die vielleicht selber ein Thema mit Queerness oder mit Transsein haben. Das sind Menschen, die ganz stark auch auf der Suche nach kulturellen und historischen Vorbildern sind und sich dann inspirieren lassen, nicht nur von meiner Arbeit, sondern auch von der Arbeit vieler anderer.
Das ist ja auch das Spannende eigentlich, dass das, was wir heute Queer-Islam nennen, sich ja ganz stark darum bemüht, sich auch aus traditionellen Quellen und traditionellen Vorbildern zu speisen und eben nicht einfach nur diesen modernen westlichen LGBTQI- oder LSBTTIQ-Diskurs zu übernehmen.
Darüber hinaus natürlich bei – ich sage mal, den muslimischen Mainstream-Communitys – gibt es noch große Berührungsschwierigkeiten. Ich muss aber auch sagen, dass sich jetzt so im Laufe der letzten 20 Jahre diese Berührungsschwierigkeiten sehr abgebaut haben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

„Among the Eunuchs: A Muslim Transgender Journey“ ist bei Hurst Publishers auf Englisch erschienen und kostet umgerechnet 27 Euro.

Mehr zum Thema