Flüchtlingsschicksale in Diyarbakir
Zweieinhalb Millionen Flüchtlinge beherbergt die Türkei inzwischen, mehrere zehntausend weitere stehen an der Grenze, weil im syrischen Aleppo die Bomben fallen. Susanne Arlt hat geflüchtete Syrer im anatolischen Diyarbakir getroffen - einem weiteren Schauplatz von Krieg und Gewalt. Denn hier kämpfen türkische Sicherheitskräfte gegen die PKK.
Miran Walika lenkt das Auto vorsichtig durch die engen Gassen von Diyarbakir. Die Stadt im Südosten der Türkei befindet sich im Ausnahmezustand. In der Kurdenmetropole geht die Regierung seit Dezember in einer Großoffensive gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK vor. Leidtragende sind auch die Zivilisten in der Stadt. Betroffen ist vor allem die Altstadt, das Stadtviertel Sur im Herzen von Diyarbakir. Dort herrscht seit Wochen eine Ausgangssperre. Flüchtlingshelfern wie Miran Walika von der Hilfsorganisation "Support to Life" wird die Arbeit seitdem noch schwerer gemacht.
An diesem Vormittag ist der 28-jährige, der selber vor zwei Jahren aus Syrien geflohen ist, im benachbarten Stadtteil Baglar unterwegs. Dort gibt es keine Ausgangssperre. Die vierstöckigen, beige-grau getünchten Häuser haben schon bessere Zeiten gesehen. An vielen Wänden platzt der Putz ab, die Mülltonnen vor den Häusern quellen über. Ein alter Mann stochert mit einem Ast in einem der Behälter herum. Vermutlich ist er auf der Suche nach Essbarem. Seitdem der Bürgerkrieg in Syrien ausgebrochen ist, leben immer mehr Flüchtlinge in diesem Stadtteil, erzählt Miran. Und täglich kommen mehr, trotz der Kämpfe zwischen Armee und PKK.
Auf seiner Liste steht an diesem Vormittag Familie Ismail. Seit knapp anderthalb Jahren lebt das Ehepaar mit den fünf Kindern und dem Bruder der Frau in einer kleinen Wohnung in Hochparterre. Auf dem Boden liegen ausgetretene Schaumstoffmatratzen. Dazwischen abgewetzte Teppiche. Haben wir alles geschenkt bekommen, sagt Gulistan Ismail und bittet ihre Gäste, auf dem Boden Platz zu nehmen.
"Wenn wir die finanziellen Möglichkeiten hätten, würden wir diesen Ort sofort verlassen und weiter nach Europa fliehen. Aber dafür haben wir das Geld nicht. Außerdem können wir doch unseren kleinen Kindern so eine lebensgefährliche Reise über das Mittelmeer nicht zumuten."
Die Enddreißigerin trägt ein schwarz-weiß gemustertes Kleid, das ihr bis zu den Knöcheln reicht und ein modisches Kopftuch. Sie stammen ursprünglich aus Aleppo, erzählt sie. Seien gläubige Muslime. Lebten zuvor in der nordsyrischen Stadt Kobane. Als dann die Kämpfer der Terrormiliz IS im September vergangenen Jahres immer näher rückten, seien sie geflohen. Mit ein paar Koffern in der Hand, mehr nicht, erinnert sich Gulistan. Doch das Leben in der fremden Freiheit ist nicht immer einfach.
"Wir wollen doch nur das Beste für unsere Kinder", sagt sie
"Wir wollen doch nur das Beste für unsere Kinder. Auch wenn es uns an allem fehlt, möchten wir, dass unsere drei schulpflichtigen Kinder eine Schule besuchen. Aber es war gar nicht so einfach, sie hier anzumelden. Türkische Schulen haben uns gleich abgelehnt. Angeblich hat ja jedes syrische Kind ein Recht auf Schulbildung, aber dieses Recht existiert wohl nur auf dem Papier. Unsere Generation ist sowieso verloren und wir wollen nicht, dass unseren Kindern dasselbe passiert."
Vor mehr als einem Jahr hatte die türkische Regierung per Gesetz angeordnet, dass alle 700.000 Flüchtlingskinder eine Schule besuchen. Laut Human Rights Watch nehmen derzeit aber nicht einmal ein Drittel der Kinder regelmäßig am Unterricht teil. Zudem besuchen sie selten eine türkische, sondern eine so genannte syrische Schule. Sie sind selbstorganisiert und werden zum Teil vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen finanziert. Die Lehrer sind oft selber Flüchtlinge. Die türkische Regierung erkennt den Lehrplan allerdings nicht an, weil zum Beispiel Islamunterricht dort nicht vorgeschrieben ist. Trotzdem sei dies allemal besser, als die Kinder zuhause zu lassen, sagen beide Eltern.
"Das Wichtigste ist ihre Ausbildung. Geld für unser Essen kriegen wir schon irgendwie zusammen."
Ismail lächelt, doch eigentlich ist ihr gar nicht zum Lächeln zumute. Von welchem Geld sie das Essen kaufen soll, weiß sie nämlich nicht. Der türkische Staat unterstützt sie mit keinem Cent. Eine offizielle Arbeitserlaubnis erhalten syrische Flüchtlinge so gut wie nie. Stattdessen arbeiten Hunderttausende von ihnen schwarz und zu miserablen Löhnen.
Firmen nutzen die Not der syrischen Flüchtlinge aus
Unternehmen nutzen ihre Not aus und die Behörden schauen weg. Vor drei Monaten hat die Hilfsorganisation die Familie in ihr neues Programm aufgenommen. Das Konzept ist einfach: Jeder Angehörige einer Familie erhält 15 Euro im Monat. Das Geld laden sie sich auf eine elektronische Chipkarte und kaufen davon Nahrungsmittel.
"Auch wenn wir jetzt diese Guthabenkarte haben - zum Leben reicht das für eine achtköpfige Familie nicht aus. Wird decken mit dem Geld vielleicht das Essen ab, aber das war´s. Aber wir haben auch andere Kosten. Für die Miete, für den Arzt, für die Schulbücher der Kinder. Es ist schon schwierig, unter diesen Umständen einfach weiterzumachen. Das Leben hier ist teuer, darum ist das ein großes Problem für uns."
Sie machen vor allem dem Vater zu schaffen. Der Mann, Anfang 40, hat ein verkürztes Bein und eine Fehlstellung seines linken Fußes. Er müsse dringend medizinisch versorgt werden, sagt er. Aber im Krankenhaus habe man ihn einfach wieder nach Hause geschickt. Flüchtlingshelfer Miran notiert sich alles. Das nächste Mal gingen sie dort gemeinsam hin, verspricht er Jamal.
"Eigentlich sollte es in jedem Krankenhaus einen Übersetzer geben, dem ist aber nicht so. Wer also nur Arabisch spricht, für den ist das hier in der Türkei ein riesiges Problem. Seine Beschwerden kann man dem Arzt dann gar nicht mitteilen. Oder man wird einfach wieder nach Hause geschickt wie Jamal. Offiziell haben die Syrer hier einen Anspruch auf medizinische Grundversorgung. Aber Papier ist bekanntlich geduldig und die Realität in der Türkei sieht oft anders aus."
Die EU hat Erdogan drei Milliarden Euro zugesagt
Was offenbar auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan erkannt hat. Jahrelang betonte er, sein Land benötige keine internationale Hilfe für die zahlreichen Flüchtlinge aus Syrien. Erst seit knapp einem halben Jahr wirbt er um ausländische Unterstützung. Drei Milliarden Euro ist es den Ländern der Europäischen Union inzwischen wert, damit Erdogan den Ansturm der Migranten eindämmen möge. Es gäbe sehr viele Löcher zu stopfen, sagt Sema Karaosmanoglu, Vizevorsitzende der Hilfsorganisation "Support to Life". Allerdings nicht nur finanzieller Art.
"Die Türkei war immer schon ein Transitland. Eine Art Teilstrecke auf dem Weg nach Europa. Die Türkei weiß also gar nicht, was Migration so alles mit sich bringt. Was notwendig ist, um Probleme, die über Migration entstehen, über einen längeren Zeitraum zu managen. Wie geht man mit solchen Leuten um? Integration ist ein Wort, was die meisten Menschen in der Türkei nicht kennen. All das ist sehr neu, auch für die türkische Regierung."
Es gebe aber auch positive Entwicklungen. Vor allem das Bildungsministerium arbeite unter Hochdruck daran, die Situation für die Flüchtlingskinder zu verbessern. Neue Sprach- und Integrationsprogramme werden zurzeit entwickelt.
Um diese gigantische Aufgabe zu bewältigen, benötige die Türkei finanzielle Unterstützung aus dem Ausland. Dass die Türkei nach wie vor die zweieinhalb Millionen Syrer nicht als Flüchtlinge, sondern als Gäste einstuft, sei ein großes Problem. Ohne Flüchtlingsstatus auf Basis der Genfer UN-Konvention gebe es keine Rechtssicherheit für sie. Daran würde auch die vorübergehende Schutzregelung, die vor kurzem eingeführt wurde, nichts ändern. Dass das Land beim Flüchtlingsschutz versagt, belegen auch aktuelle Berichte von Amnesty International.
"Sie haben nach fast fünf Jahren einen Punkt erreicht, da wollen sie keine Hilfe mehr annehmen. Sie haben keine Hoffnung mehr, bald nach Syrien zurückkehren. Also wollen sie sich ein neues Leben aufbauen. Das ist ja völlig normal. Sie wollen ihr eigenes Geld verdienen. Schon jetzt geht in jeder Flüchtlingsfamilie mindestens eine Person arbeiten. Aber sie arbeiten fast alle schwarz. Was sie brauchen ist eine offizielle Arbeitsgenehmigung, eine Sozialversicherungsnummer, um sich und ihre Familie zu versorgen."
Kaum eine Flüchtlingsfamilie hat noch Geld
Geld ist inzwischen in so gut wie in jeder Familie knapp, die finanziellen Reserven längst aufgebraucht. Anfangs hätte ihre Hilfsorganisation die notleidenden Menschen mit Ess-Boxen und Hygieneartikeln versorgt, sagt Sema Karaosmanoglu. Dies sei aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Mit Hilfe der deutschen Diakonischen Katastrophenhilfe habe man darum ein Zahlsystem entwickelt. Finanziert wird es zum großen Teil durch die humanitäre Hilfe der europäischen Kommission.
"Mit solch einem Geldkarten-System haben wir zuvor nie gearbeitet, aber wir haben gemerkt, dass die meisten Flüchtlinge in den Städten leben. Sie haben also einen Zugang zu den Shops, konnten sich aber nichts kaufen, weil sie kein Geld hatten. Anstatt sie mit Artikeln zu versorgen, die sie vielleicht gar nicht benötigen, geben wir ihnen jetzt Geld, von dem sie sich kaufen können, was sie brauchen. Das gibt den Familien auch ein bisschen Würde und Unabhängigkeit zurück."
Ein Lebensmittelladen in Diyarbakirs Stadteil Baglar. Nur wenige hundert Meter von hier liefern sich Sicherheitskräfte der türkischen Armee und Kämpfer der PKK heftige Gefechte. Unter den Opfern sind auch zahlreiche Zivilisten. Das scheint hier aber niemanden abzuschrecken. Die Kämpfe, die Toten, das sind die syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge längst gewohnt.
Vor dem Eingang stehen etwa 30 Männer und Frauen Schlange. Denn heute ist "Zahltag", sie können ihre Chipkarten wieder mit Geld aufladen. Hosan steht ganz vorn. Er stammt aus der Nähe von Kobane, hat dort als Bauer gearbeitet. Jetzt hat er einen Job als Straßenbauer. Für läppische 20 türkische Lira am Tag, sagt er und schnippt die Zigarette auf die Straße. Umgerechnet sind das knapp sieben Euro. Darum ist er froh, dass seine Familie seit drei Monaten an dem Programm der Hilfsorganisation teilnimmt. Hier bekommen sie das Nötigste: Zucker, Reis, Öl. Europa sei für ihn keine Option, sagt der junge Mann.
"Es lässt sich hier einigermaßen aushalten, aber es ist immer besser in der Heimat zu leben, mit Menschen, die man kennt. Die Türken behandeln uns leider nicht so gut. Für sie sind wir Fremde. Wir sind hier nur Gäste, müssen um alles bitten. Für die eigene Würde ist das nicht gut. Aber wir haben keine andere Wahl als die Hilfe anzunehmen, die man uns gibt."
"Manchmal bin ich frustriert und will nur zurück nach Syrien"
Familie Abdallah lebt seit zwei Jahren in Diyarbakir. Die 45-jährige Mutter musste sich mit ihren sieben Kindern alleine durchschlagen, der Ehemann ist vor vier Jahren an Krebs gestorben. Das einzige Foto an der Wand ziert sein Konterfei. Ein Bild aus glücklicheren Tagen. In der Wohnung riecht es ein bisschen streng. Durchgelegene Schaumstoffmatratzen auf dem Boden und ein Fernseher in der Ecke sind das einzige, was das Zimmer ziert. Trotzdem lässt es sich die Mutter nicht nehmen und serviert den Gästen heißen, süßen Tee.
"Manchmal bin ich so frustriert, da will ich einfach nur zurück nach Syrien. Aber dann schaue ich meine Kinder an, dahin kann ich sie ja nicht mitnehmen! Ich lebe jetzt nur noch für meine Kinder. Ich habe hier keinen eigenen Verwandten. Die Verwandten meines verstorbenen Mannes, die hier in Diyarbakir leben, die unterstützen mich kein bisschen. Diese ganzen schrecklichen Umstände halte ich nur wegen meiner Kinder aus. Gott gibt uns Kraft."
Verschämt streicht sich die 45-jährige eine Träne aus ihrem müden Gesicht. Die Nichte, die neben ihr sitzt, legt ihr beschwichtigend die Hand auf den Arm. Das Leben in der Türkei sei deswegen kein Leben, weil es ihnen keine Perspektive böte, sagt die 20-jährige Asyr. Ja, die Türkei habe zweieinhalb Millionen Syrer aufgenommen, das sei natürlich eine große Geste. Aber von Gesten werde man auf Dauer nicht satt. Sie ist Friseurin, würde gerne in ihrem alten Job arbeiten, aber man lasse sie nicht. Stattdessen arbeitet ihr Mann, ein Elektriker, seit Monaten schwarz.
"Mein Mann arbeitet für 66 Euro in der Woche, mehr als zwölf Stunden am Tag. Die Türken nutzen ihn aus. Sie nutzen alle syrischen Flüchtlinge aus. Mein Mann ist Elektromechaniker, und wenn er Extraschichten macht, dann kriegt er dafür kein Extrageld, obwohl sie es ihm vorher versprochen haben. Und warum können sie uns so behandeln? Weil wir hier nur Gäste sind, Gäste ohne eine Arbeitserlaubnis. Ohne Rechte. Seit vier Monaten arbeitet mein Mann hier in der Türkei, bisher ist ihm keine seiner vielen Überstunden bezahlt worden."
Das Leben in Europa sei sicher auch nicht leicht, dafür habe man aber mehr Rechte. Asyr wird ihren Eindruck nicht überprüfen können. Dazu fehlt der Familie das Geld. Bleibt die Hoffnung, dass sich mit Hilfe der EU- und der internationalen Gelder zumindest die Bedingungen für sie in Diyarbakir ändern.