Transplantationsexperte : "Wir haben noch einen langen Weg vor uns"
Der Mediziner Eckhard Nagel vom Deutschen Ethikrat beklagt ein Jahr nach Bekanntwerden des Transplantationsskandals an der Universitätsklinik Göttingen einen großen Vertrauensverlust für die Transplantationsmedizin. Er plädierte für eine "Pflicht zur Entscheidung" über eine Organspende.
Ute Welty: München, Regensburg, Leipzig und natürlich Göttingen – heute vor einem Jahr begann das, was man den "Organspendeskandal" nennt, und der handelt von Medizinern, die Menschen auf dem Papier kränker gemacht haben, um ihnen schneller zu einem Organ zu verhelfen. Der Transplantationsmediziner Eckhard Nagel, Ärztlicher Direktor am Uni-Klinikum Essen und Mitglied im Deutschen Ethikrat, reagierte damals im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur bestürzt:
Eckhard Nagel: Das, was wir hören zumindest aus Göttingen, ist – ja, man kann es vielleicht auch als Super-GAU der Transplantationsmedizin sich vorstellen. Sie brauchen eine kriminelle Energie von besonderer Art und Weise, um das tatsächlich zu machen. Und davor ist leider kein System geschützt, dass, wenn jemand es wirklich absichtlich betrügen will, dass er dann auch betrügen kann.
Welty: Wie sieht es also heute aus, genau ein Jahr danach? Und genau das kann ich ihn heute fragen, genau ein Jahr danach. Guten Morgen, Herr Nagel!
Nagel: Guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Jetzt spendet kein Mensch mehr sein Organ, das war ja die große Befürchtung, die im Raum stand, und tatsächlich wurden so wenig Organe gespendet wie seit zehn Jahren nicht. Wie hat sich das bei Ihnen in Essen ausgewirkt?
Nagel: Gut, es hat sich nicht nur bei uns in Essen, sondern in ganz Deutschland ausgewirkt. Ich bin ja gerade auf dem Iderhof, das ist die Sonderkrankenanstalt für Kinder vor und nach Organtransplantation, und auch da kann man merken, wir haben einfach im letzten Jahr weniger Kinder und Jugendliche transplantiert. Und der Umkehrschluss ist ganz einfach, es sind mehr Kinder und Jugendliche, es sind mehr Patienten auf der Warteliste gestorben in Deutschland im letzten Jahr.
Welty: Hat sich der Umgang mit dem Thema Organspende insgesamt verändert, einfach auch, weil das Thema im Fokus stand, wenn auch in einem negativen? Aber nichts ist ja bekanntlich so schlecht, dass es nicht auch für irgendwas gut ist.
Nagel: Das gilt, glaube ich, für das Thema Organtransplantation und Organspende nicht. Wir haben einen Trend dahingehend, dass alles, was mit diesem Thema zusammenhängt, seien es auch noch so unzureichende Erkenntnisse, negativ gewertet wird. Ich kann jedenfalls feststellen, dass, wenn ich mit Menschen auf der Straße in verschiedenen Veranstaltungen oder aber auch in der Universitätsklinik spreche, dass man einfach eine grundlegend große Sorge hat, hier ist etwas nicht in Ordnung, und das hat sich auch trotz aller vielfältigen Maßnahmen zur Verbesserung nicht geändert.
Welty: Welche Befürchtungen werden da geäußert?
Nagel: Ein wesentlicher Punkt kommt immer wieder, dass letztendlich Geld im Spiel ist, wenn es um die Zuteilung von Organen geht. Obwohl der Organtransplantationsskandal, der ja kein Spende-, sondern ein Verteilungsskandal ist, obwohl in diesem Zusammenhang bei allen Untersuchungen nicht herausgekommen ist, dass Geld im Spiel war, haben die Leute doch das Gefühl, hier muss irgendeine Art von krimineller Energie auch dazu führen, dass Menschen verdienen. Und da wir wissen, dass im Ausland, insbesondere in Asien es einen Organhandel gibt, glauben die Leute eben auch daran, dass so etwas hier nicht ausgeschlossen ist.
Welty: Viel diskutiert worden ist ja nach Göttingen auch über das Kriterium des Hirntods. Da konnte einem bei mancher Berichterstattung schon angst und bange werden. Wirkt das vielleicht noch schwerer als das Fehlverhalten einiger Ärzte?
Nagel: Ich glaube, dieses Thema muss man völlig trennen von dem, was wir diskutieren. Das ist ein Thema, das beschäftigt die Menschen immer schon, seitdem es die Transplantation gibt. Und es gibt einige wenige, die hier ein Problem sehen, Problem dahingehend, dass die Eindeutigkeit des Hirntods in Frage gestellt wird. Das ist medizinisch völlig klar und völlig eindeutig und steht überhaupt nicht zur Diskussion. Aber das Unwohlsein natürlich mit der Frage, wann bin ich wirklich tot, dieses Unwohlsein kann immer wieder genährt werden durch Zweifel. Und deshalb hört man das, was Sie gerade zitiert haben, aber es ist in sich falsch.
Welty: Wie gehen Sie dann damit um im Gespräch?
Nagel: Also ich glaube, man muss immer wieder darauf hinweisen, wie die Situation ist, das heißt, dass es klare und eindeutige Kriterien gibt, wie man den Tod feststellen kann, nicht nur den Hirntod, sondern auch den Herztod, dass in den letzten 40 Jahren die medizinischen Untersuchungsmöglichkeiten sich deutlich verbessert haben, dass wir heute über die Hirnfunktion viel mehr wissen als bei der Definition des Hirntodes, und dass trotzdem sich keine neuen Erkenntnisse ergeben haben, dass der Hirntod wirklich ein sicheres Todeszeichen für den Menschen ist.
Welty: Die Menschen sollen ja zumindest darüber nachdenken, ob sie Organe spenden wollen oder nicht, und sie werden deswegen von ihrer Krankenkasse angeschrieben, ohne dass sie sich entscheiden müssen. Das klingt, mit Verlaub, nach einer typisch deutschen Kompromisslösung, die nichts bringt und viel kostet.
Nagel: Also diese Kompromisslösung war ja vor den Ereignissen in Göttingen schon vom Deutschen Bundestag beschlossen, im Mai 2012. Das war eine lange Diskussion zur Fortschreibung des Transplantationsgesetzes mit dem Ziel, Organspenden in Deutschland zu erhöhen. Ich persönlich befürworte die persönliche Entscheidung und bin dagegen, dass der Staat für uns entscheidet durch eine sogenannte Widerspruchslösung. Aber ich, aus ethischer Sicht, habe eine Pflicht zur Entscheidung formuliert, zusammen mit vielen anderen Mitgliedern des Deutschen Ethikrates, aber die Politik hat sich dazu nicht durchringen können, weil dann solche Argumente kommen wie: Muss ich nicht die Freiheit haben, mich überhaupt mit einem solchen Thema zu beschäftigen. Das ist zwar auf der einen Seite richtig, aber ein kranker Mensch hat die Freiheit nicht, ein Angehöriger auf der Intensivstation, der die Frage gestellt bekommt, hat diese Freiheit nicht. Also ich glaube nach wie vor, wir sollten zu einer Pflicht zur Entscheidung kommen.
Welty: Welche Maßnahmen nach dem Skandal halten Sie für erfolgreich, und auf welche, die nützen würden, warten Sie noch?
Nagel: Also wir haben eine ganze Reihe von wichtigen Maßnahmen getroffen. Auch die Politik hat sich wirklich engagiert, das muss man anerkennen. Insbesondere die Erhöhung der Transparenz bei der Wartelistenführung, das eingeführte Sechs-Augen-Prinzip, also drei Ärztinnen und Ärzte gucken darauf, wer wann wie gemeldet wird und wer welches Organ bekommt. Das sind Sicherheitsmaßnahmen, die eingeführt worden sind, die auf jeden Fall den Missbrauch, von dem wir hier gesprochen haben, vermeiden für heute und für die Zukunft. Das, was diskutiert werden muss, ist noch die Frage, ob es Fehlanreize gibt, die dazu führen oder geführt haben, dass man sich fehlverhalten hat. Dazu gehört die Frage, muss es weniger oder sollte es weniger Transplantationszentren geben, und wie macht man es generell mit der Finanzierung der Transplantation durch die Krankenkassen.
Welty: Im August beginnt der Prozess gegen den Göttinger Arzt, über dessen Motivation viel spekuliert worden ist. Was würden Sie geben, um die Schlagzeile zu verhindern, die da lautet: "Gott in Weiß entscheidet über Leben und Tod"?
Nagel: Diese Schlagzeile werde ich nicht verhindern können. Ich glaube, wir müssen als Transplantationsmediziner damit leben, dass wir eine lange Wegstrecke vor uns haben, für das Vertrauen in unser medizinisches Handeln zu werben. Das werde ich, das werden viele andere weiter tun, und es gibt gar keine Alternative, als dass wir am Ende hoffentlich diese Schlagzeile durch gute und wichtige und relevantere Schlagzeilen, nämlich das Retten von Menschenleben dann auch tatsächlich überkommen.
Welty: Sagt Eckhard Nagel, Ärztlicher Direktor am Uni-Klinikum Essen und Mitglied im Deutschen Ethikrat, genau ein Jahr nach Beginn des Göttinger Organspendeskandals. Ich danke sehr für dieses Gespräch!
Nagel: Bitteschön, Frau Welty.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Eckhard Nagel: Das, was wir hören zumindest aus Göttingen, ist – ja, man kann es vielleicht auch als Super-GAU der Transplantationsmedizin sich vorstellen. Sie brauchen eine kriminelle Energie von besonderer Art und Weise, um das tatsächlich zu machen. Und davor ist leider kein System geschützt, dass, wenn jemand es wirklich absichtlich betrügen will, dass er dann auch betrügen kann.
Welty: Wie sieht es also heute aus, genau ein Jahr danach? Und genau das kann ich ihn heute fragen, genau ein Jahr danach. Guten Morgen, Herr Nagel!
Nagel: Guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Jetzt spendet kein Mensch mehr sein Organ, das war ja die große Befürchtung, die im Raum stand, und tatsächlich wurden so wenig Organe gespendet wie seit zehn Jahren nicht. Wie hat sich das bei Ihnen in Essen ausgewirkt?
Nagel: Gut, es hat sich nicht nur bei uns in Essen, sondern in ganz Deutschland ausgewirkt. Ich bin ja gerade auf dem Iderhof, das ist die Sonderkrankenanstalt für Kinder vor und nach Organtransplantation, und auch da kann man merken, wir haben einfach im letzten Jahr weniger Kinder und Jugendliche transplantiert. Und der Umkehrschluss ist ganz einfach, es sind mehr Kinder und Jugendliche, es sind mehr Patienten auf der Warteliste gestorben in Deutschland im letzten Jahr.
Welty: Hat sich der Umgang mit dem Thema Organspende insgesamt verändert, einfach auch, weil das Thema im Fokus stand, wenn auch in einem negativen? Aber nichts ist ja bekanntlich so schlecht, dass es nicht auch für irgendwas gut ist.
Nagel: Das gilt, glaube ich, für das Thema Organtransplantation und Organspende nicht. Wir haben einen Trend dahingehend, dass alles, was mit diesem Thema zusammenhängt, seien es auch noch so unzureichende Erkenntnisse, negativ gewertet wird. Ich kann jedenfalls feststellen, dass, wenn ich mit Menschen auf der Straße in verschiedenen Veranstaltungen oder aber auch in der Universitätsklinik spreche, dass man einfach eine grundlegend große Sorge hat, hier ist etwas nicht in Ordnung, und das hat sich auch trotz aller vielfältigen Maßnahmen zur Verbesserung nicht geändert.
Welty: Welche Befürchtungen werden da geäußert?
Nagel: Ein wesentlicher Punkt kommt immer wieder, dass letztendlich Geld im Spiel ist, wenn es um die Zuteilung von Organen geht. Obwohl der Organtransplantationsskandal, der ja kein Spende-, sondern ein Verteilungsskandal ist, obwohl in diesem Zusammenhang bei allen Untersuchungen nicht herausgekommen ist, dass Geld im Spiel war, haben die Leute doch das Gefühl, hier muss irgendeine Art von krimineller Energie auch dazu führen, dass Menschen verdienen. Und da wir wissen, dass im Ausland, insbesondere in Asien es einen Organhandel gibt, glauben die Leute eben auch daran, dass so etwas hier nicht ausgeschlossen ist.
Welty: Viel diskutiert worden ist ja nach Göttingen auch über das Kriterium des Hirntods. Da konnte einem bei mancher Berichterstattung schon angst und bange werden. Wirkt das vielleicht noch schwerer als das Fehlverhalten einiger Ärzte?
Nagel: Ich glaube, dieses Thema muss man völlig trennen von dem, was wir diskutieren. Das ist ein Thema, das beschäftigt die Menschen immer schon, seitdem es die Transplantation gibt. Und es gibt einige wenige, die hier ein Problem sehen, Problem dahingehend, dass die Eindeutigkeit des Hirntods in Frage gestellt wird. Das ist medizinisch völlig klar und völlig eindeutig und steht überhaupt nicht zur Diskussion. Aber das Unwohlsein natürlich mit der Frage, wann bin ich wirklich tot, dieses Unwohlsein kann immer wieder genährt werden durch Zweifel. Und deshalb hört man das, was Sie gerade zitiert haben, aber es ist in sich falsch.
Welty: Wie gehen Sie dann damit um im Gespräch?
Nagel: Also ich glaube, man muss immer wieder darauf hinweisen, wie die Situation ist, das heißt, dass es klare und eindeutige Kriterien gibt, wie man den Tod feststellen kann, nicht nur den Hirntod, sondern auch den Herztod, dass in den letzten 40 Jahren die medizinischen Untersuchungsmöglichkeiten sich deutlich verbessert haben, dass wir heute über die Hirnfunktion viel mehr wissen als bei der Definition des Hirntodes, und dass trotzdem sich keine neuen Erkenntnisse ergeben haben, dass der Hirntod wirklich ein sicheres Todeszeichen für den Menschen ist.
Welty: Die Menschen sollen ja zumindest darüber nachdenken, ob sie Organe spenden wollen oder nicht, und sie werden deswegen von ihrer Krankenkasse angeschrieben, ohne dass sie sich entscheiden müssen. Das klingt, mit Verlaub, nach einer typisch deutschen Kompromisslösung, die nichts bringt und viel kostet.
Nagel: Also diese Kompromisslösung war ja vor den Ereignissen in Göttingen schon vom Deutschen Bundestag beschlossen, im Mai 2012. Das war eine lange Diskussion zur Fortschreibung des Transplantationsgesetzes mit dem Ziel, Organspenden in Deutschland zu erhöhen. Ich persönlich befürworte die persönliche Entscheidung und bin dagegen, dass der Staat für uns entscheidet durch eine sogenannte Widerspruchslösung. Aber ich, aus ethischer Sicht, habe eine Pflicht zur Entscheidung formuliert, zusammen mit vielen anderen Mitgliedern des Deutschen Ethikrates, aber die Politik hat sich dazu nicht durchringen können, weil dann solche Argumente kommen wie: Muss ich nicht die Freiheit haben, mich überhaupt mit einem solchen Thema zu beschäftigen. Das ist zwar auf der einen Seite richtig, aber ein kranker Mensch hat die Freiheit nicht, ein Angehöriger auf der Intensivstation, der die Frage gestellt bekommt, hat diese Freiheit nicht. Also ich glaube nach wie vor, wir sollten zu einer Pflicht zur Entscheidung kommen.
Welty: Welche Maßnahmen nach dem Skandal halten Sie für erfolgreich, und auf welche, die nützen würden, warten Sie noch?
Nagel: Also wir haben eine ganze Reihe von wichtigen Maßnahmen getroffen. Auch die Politik hat sich wirklich engagiert, das muss man anerkennen. Insbesondere die Erhöhung der Transparenz bei der Wartelistenführung, das eingeführte Sechs-Augen-Prinzip, also drei Ärztinnen und Ärzte gucken darauf, wer wann wie gemeldet wird und wer welches Organ bekommt. Das sind Sicherheitsmaßnahmen, die eingeführt worden sind, die auf jeden Fall den Missbrauch, von dem wir hier gesprochen haben, vermeiden für heute und für die Zukunft. Das, was diskutiert werden muss, ist noch die Frage, ob es Fehlanreize gibt, die dazu führen oder geführt haben, dass man sich fehlverhalten hat. Dazu gehört die Frage, muss es weniger oder sollte es weniger Transplantationszentren geben, und wie macht man es generell mit der Finanzierung der Transplantation durch die Krankenkassen.
Welty: Im August beginnt der Prozess gegen den Göttinger Arzt, über dessen Motivation viel spekuliert worden ist. Was würden Sie geben, um die Schlagzeile zu verhindern, die da lautet: "Gott in Weiß entscheidet über Leben und Tod"?
Nagel: Diese Schlagzeile werde ich nicht verhindern können. Ich glaube, wir müssen als Transplantationsmediziner damit leben, dass wir eine lange Wegstrecke vor uns haben, für das Vertrauen in unser medizinisches Handeln zu werben. Das werde ich, das werden viele andere weiter tun, und es gibt gar keine Alternative, als dass wir am Ende hoffentlich diese Schlagzeile durch gute und wichtige und relevantere Schlagzeilen, nämlich das Retten von Menschenleben dann auch tatsächlich überkommen.
Welty: Sagt Eckhard Nagel, Ärztlicher Direktor am Uni-Klinikum Essen und Mitglied im Deutschen Ethikrat, genau ein Jahr nach Beginn des Göttinger Organspendeskandals. Ich danke sehr für dieses Gespräch!
Nagel: Bitteschön, Frau Welty.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.