Die Autoren: Anja Schrum und Ernst-Ludwig von Aster
Regie: Frank Merfort
Redaktion: Constanze Lehmann
Technik: Andreas Stoffels
Lieferstress auf der letzten Meile
30:33 Minuten
Trotz Coronakrise hoffen einige Onlinehändler und Lieferdienste weiter auf gute Geschäfte, weil viele Menschen zuhause bleiben. Auch jenseits dieser Ausnahmesituation ist der Lieferverkehr eine ökologische und logistische Herausforderung für die Innenstädte.
Berlin-Adlershof, morgens um zehn. Gary Reich kreuzt mit seinem Diesel-Transporter die vielspurige Bundesstraße. LKW, Kleintransporter und Kühlfahrzeuge schieben sich Richtung Stadtzentrum. Reich arbeitet für MBE, einen Logistikdienstleister.
"Ich habe jedes Jahr das Gefühl, die Leute werden rücksichtsloser und drängeln immer mehr, das ist schon, man merkt, dass die Leute immer mehr Stress haben."
229.560 Kilometer zeigt der Tacho des Transporters. Reichs Job: Pakete vom Kunden abholen und sie in die ganze Welt versenden. Vor allem Forschungsinstitute und Unternehmen am Wissenschaftsstandort Adlershof nutzen diesen Service.
"Gerade bei so zweispurigen Straßen ist eine Spur dann immer belegt, weil Lieferverkehr dann anhalten muss, Parkplätze sind ja keine mehr frei. Da muss man sich schon immer ziemlich durchschlängeln."
Verkehr total – der Druck auf die Logistikbranche wächst
LKW, Busse, Straßenbahn, Kleintransporter, PKW, Fahrradfahrer, Fußgänger – alles trifft hier an der Kreuzung aufeinander. Parallel dazu fährt auch noch die S-Bahn. Und am Himmel steuern Flugzeuge den nahegelegenen Flughafen Schönefeld an. Verkehr total.
"Also überall platzen alle Verkehrsträger aus allen Nähten, weil so viel durch die Weltgeschichte geschickt wird", sagt Theo Heckes, der Geschäftsführer von MBE in Adlershof. Mehr als 4,5 Milliarden Tonnen Güter werden jedes Jahr durch Deutschland gekarrt. Das entspricht etwa 80 Millionen Güterwaggons. Und dieses Transportaufkommen steigt alljährlich um rund zwei Prozent. Die Logistikbranche boomt. Die Verkehrssituation bremst.
"Und insofern ist der Druck auf neue Lösungen in der Logistik und neue Denkweisen immer größer geworden in den letzten Jahren."
Lieferverkehr steckt in der Sackgasse
Neue Lösungen in der Logistik – danach sucht auch Professor Gernot Liedtke seit Jahren. Er arbeitet am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Adlershof, leitet dort die Abteilung "Wirtschaftsverkehr". Auf Liedtkes Monitor baut sich gerade eine virtuelle Karte von Berlin auf. Oben rechts eine Uhr, am Stadtrand blinken weiße Punkte.
"Die weißen Punkte sind die Orte, an denen die Lebensmittel gelagert werden, die im Laufe des Tages jetzt nach Berlin verteilt werden sollen."
Lebensmittel für die Hauptstadt. Die Verteilzentren des Einzelhandels liegen im Umland, die Geschäfte in der ganzen Stadt.
"Die großen Lebensmittelkonzerne sind abgebildet: Wir haben den Aldi, den Lidl, Edeka und den Rewe hier."
Der Weg der Waren in Raum und Zeit – diese Daten liefern Liedtke die Grundlage für weitere Verkehrsplanungen.
Zahl kleiner Güterfahrzeuge hat sich versiebenfacht
"So, dann legen wir mal los. Die Zeit startet."
Ab morgens um vier rollen in seiner Simulation gut 100 LKW durch die Außenbezirke Richtung Zentrum. Zuerst nutzen sie die großen Magistralen. Dann biegen sie ab.
"Im Grunde sieht es aus, wie ein Ameisenhaufen. Und das ist auch das Typische vom Lieferverkehr, die fahren morgens in die Stadt rein, dann kreuzen sie durch kleine und große Straßen, stundenlang teilweise, und am Nachmittag, wir kommen langsam dem Nachmittag näher, dann fahren sie langsam über die großen Magistralen hier an den Stadtrand in die Distributionszentren."
Jeden Tag rollt die Karawane auf denselben Strecken. Ebenso wie die LKW der anderen Lebensmittelhändler, der Drogerie- und Baumärkte sowie der Möbelhäuser. Die Flotte teilt sich die Straßen mit Müllabfuhr, Bussen, Baufahrzeugen, PKW und immer mehr Kleintransportern.
"Sie können quasi sagen, dass sich von 1995 bis heute die Zahl kleiner Güterfahrzeuge versiebenfacht hat. Und das ist der Hammer. Und das sind Fahrzeuge, die fahren in der Region, die fahren in der Stadt, die legen 50 bis 150 Kilometer pro Tag zurück. Und das sind die, die man überall in der Stadt am Straßenrand halten sieht."
Unaufhaltsam rollt die Verkehrslawine in eine Sackgasse. Ökologisch und logistisch.
"Wir haben jetzt eine Debatte beispielsweise Diesel-Autos aus Berlin auszusperren. In anderen Metropolen gab es diese Debatte schon vor ein paar Jahren. Wir haben die selektive Sperrung von Straßen. Und diese politischen Drücke, es wird ja klar, dass die Industrie, hier die Logistik und die Fahrzeughersteller veränderte Rahmenbedingungen erwarten müssen. Und dadurch wird im Moment eine gewisse Dynamik in Kraft gesetzt."
Innovative Logistikkonzepte in Hamburg
Seit Jahren ist Hamburg Deutschlands Stau-Hauptstadt. Morgens brauchen Fahrzeuge im Schnitt 50 Prozent mehr Zeit als bei freier Fahrt, abends 61 Prozent. Horrorzahlen für alle, die mit Mobilität Geld verdienen wollen. Auch für Rainer Kiehl, den Logistik-Manager von UPS.
"Wir wollen den Verkehr reduzieren, wir haben aber sehr viele Pakete für den Bereich. Wie bekommen wir die Pakete in die Stadt und verringern den Verkehr? Und da blieb entweder nur eine Immobilie, die man anmieten kann, aber die können sie in der Innenstadt nicht bezahlen. Oder halt die Lösung mit einem Anhänger oder Container."
Darum steht Kiehl jetzt in einer Nebenstraße. Vor einem aufgebockten Container mit aufgemalter Stadtsilhouette. Gleich daneben belädt ein UPS-Kurier sein Lastenrad.
"Das wird mein letzter Stopp, deswegen kommt der nach unten, deswegen lade ich so ein. Und meinen ersten Stopp kann ich gleich greifen, dann muss ich nicht durchsuchen, was habe ich noch für den Kunden, ist halt praktischer so."
Umweltfreundliche Auslieferung mit Muskelkraft
Ein Kollege bugsiert mit der Sackkarre vier Pakete aus dem Container. Macht sich zu Fuß auf den Weg in die Innenstadt. Sackkarre, Lastenfahrrad plus Container. Dahinter steckt ein ausgeklügeltes Logistik-Konzept.
"Und wenn sie sich den Container anschauen, der sieht von innen aus, wie ein Zustellfahrzeug. Das gleiche Regalsystem, mit einem Ladediagramm, so dass die Container genauso beladen werden können wie die Zustellfahrzeuge. Nur, dass hier das doppelte Volumen reinpasst."
Morgens wird der Container abgestellt. 400 bis 600 Sendungen dann mit Muskelkraft und umweltfreundlich ausgeliefert. Abends wird der Container abgeholt. Und für den nächsten Tag neu beladen. Als "Hamburger Modell" machte diese Art der logistischen Nahversorgung weltweit Schlagzeilen. Ein Lastenrad ersetzt einen Transporter - das ist die Faustregel. Etliche Studien haben die Umwelteffekte untersucht, mindestens 50 Prozent CO2-Einsparung stehen in der Bilanz.
"Wir arbeiten inzwischen in über 30 Städten in Deutschland nach diesem Modell. Aber wir müssen jedes Projekt, jede Stadt wirklich neu berechnen. Und ein ganz wichtiger Punkt ist, dass wir Flächen finden, Depotflächen, die wir uns aussuchen können."
Denn die umliegende Kundenstruktur entscheidet, wo ein sogenannter "Microhub" stehen muss.
Die Straße ist das Lager der Republik
Der Container als Verladepunkt ist dabei aber nur eine Zwischenlösung, weiß der Logistiker. Im Straßenraum darf er nur zeitlich begrenzt mit einer sogenannten Sondernutzungsgenehmigung abgestellt werden. Logistikflächen in der Innenstadt aber sind rar und teuer. Von seinen insgesamt vier Containern konnte Kiehl dann auch erst zwei durch passende Lagerräume ersetzen. Der Microhub-Mangel in der Innenstadt – er ist zurzeit für den Logistiker das größte Hindernis auf der letzten Meile zum Kunden.
"Wir können keine Fahrräder ordern, weil wir keine Depots haben. Alle rufen, auch aus der Stadt: ‘Wir brauchen Depots und Lastenfahrräder wollen wir unbedingt haben.‘ Aber solange da nicht endlich was passiert, was Physisches passiert, nicht noch ein Arbeitskreis, nicht noch eine Studie, wird sich der Markt auch nicht weiterentwickeln."
In der Just-in-Time-Gesellschaft von heute ist die Straße das Lager der Republik. Das weiß auch Ingo Bauer, Leiter des Bereichs Transport und Logistik bei Pricewaterhouse Coopers, kurz PwC. In der Studie "Aufbruch auf der letzten Meile" hat die Unternehmensberatung Ende 2017 die städtische Logistik untersucht.
Der Takt der Lieferungen steigt
"Kaufhäuser haben mittlerweile 7,5 Anlieferungen pro Tag, Cafés 6,5 und Apotheken 12,5 Anlieferungen pro Tag in einer Stadt. Und daran macht sich eigentlich fest, wie kleinteilig das eigentlich geworden ist. Im Vergleich: Früher wurden Kaufhäuser zwei Mal die Woche angefahren oder drei Mal – und jetzt allein 7 Anlieferungen pro Tag."
Das spart Kosten für Miete und Lagerhaltung, vor allem in den teuren, weil begehrten Innenstadtlagen. Aber die kleinteilige Belieferung von Einzelhandel und Onlinekäufern sorgt durch viele Stopps für erheblichen Unmut. Die Folgen wurden in Wiesbaden exemplarisch untersucht.
"Dass 26 Prozent in zweiter Reihe parken und 13 Prozent auf Gehwegen und 23 Prozent eine Ladezone nutzen können. Daran sieht man wie viel das letztendlich ausmacht und das ist das, was wir in den Städten letztendlich sehen und natürlich auch irgendwo ein Ärgernis darstellt für den Verkehr in den Städten."
Die eine Lösung für die "letzte Meile" gibt es nicht, auch das macht die PwC-Studie deutlich. Sondern viele unterschiedliche Ansätze. Microhubs, Abholstationen oder eine Bündelung bei der Auslieferung.
Berater Bauer plädiert für sogenannte City-Logistik-Konzepte, bei denen Kommunen, Handel und Logistikunternehmen gemeinsam nach Lösungen suchen:
"Es gibt Stellschrauben – daran kann man überall drehen, aber die Bereitschaft dran zu drehen, muss auch überall da sein. Bei allen Beteiligten."
Kunden lehnen neue technische Zustellkonzepte ab
Auch die Wünsche der Privatkundinnen und -kunden haben die Berater und Beraterinnen in ihrer Studie ausgeleuchtet: Der Onlinebesteller möchte seine Ware schnell, zuverlässig und kostenlos geliefert bekommen. Neuen, eher technischen Lieferkonzepten steht er dagegen kritisch gegenüber: Ob Lieferdrohnen, Zustellroboter oder die Paketlieferung in den Kofferraum des eigenen Autos – mehr als zwei Drittel der Befragten lehnten diese Zustellarten ab.
"Hier sehen sie das, da ist so ein Schild: Be- und Entladen frei und das ist relativ unüberschaubar."
Mehr Parkraum für Lieferverkehr
In Berlin-Mitte deutet Marten Bosselmann aus dem geöffneten Bürofenster nach unten, auf die Dorotheenstraße. Auf einem Ladezonen-Schild prangen etliche kleine Zusatzschilder. Eigentlich sollte da ein blaues Schild mit einem Zusteller drauf stehen – frei für die Branche der Kurier-, Express-, und Paketdienste, kurz KEP.
"Und das heißt ‚Paket only‘, ‚KEP only‘ analog zum Taxistand oder zum Behindertenparkplatz und wir erwarten, dass wenn Fremde bzw. Individualverkehr auf diesen Flächen stehen, sofort abgeschleppt werden."
Denn es gibt es nicht nur viel zu wenige Ladezonen, sondern die bestehenden seien auch zu 81 Prozent fehlbelegt, sagt Bosselmann, Vorsitzender des Bundesverbandes Paket- und Expresslogistik, in dem DPD, GLS, GO, Hermes und UPS Mitglied sind. Branchenriese DHL allerdings nicht.
Gerade wurde die Straßenverkehrsordnung novelliert – doch das Wunschschild der Branche fand keine Berücksichtigung. Also werden die Paketdienstleister weiter oft in zweiter Reihe halten müssen.
"Wir haben enorme Wachstumsraten, wir haben ein deutliches Wachstum, sechs, sieben Prozent pro Jahr. Und ums im Bild darzustellen: An vier Tagen die Pakete aneinandergereiht, ergibt eine Strecke vom Nord- bis zum Südpol. Das sind ungefähr zwölf Millionen Pakete pro Tag in Deutschland."
Jetzt, gleich, sofort - Ansprüche der Kunden steigen
Rund 3,6 Milliarden Sendungen hat die Branche 2019 bewegt. Die Hälfte entfällt dabei auf den Onlinehandel, die andere Hälfte auf die Belieferung des stationären Handels bzw. der Industrie. Allerdings: Der Onlinehandel ist der Wachstumstreiber. Und die Konkurrenz hart - seitdem Onlinehändler Amazon selbst ins Liefergeschäft eingestiegen ist und in Großstädten aggressiv für eine Gratis-Zustellung innerhalb eines Tages wirbt, ist die Branche beunruhigt. Denn die Ansprüche der Kunden steigen weiter.
"Und deswegen sind neue Lösungen sinnvoll und wichtig: Paketshops, Paketstationen, Mikro-Depot-Lastenrad-Konzeptionen, sodass man möglichst dicht an den Kunden herankommt und verschiedene Varianten der Ablagemöglichkeit: In der Garage, bitte geben Sie es beim Nachbarn ab, im Laden, beim Friseur um die Ecke ab – also ein höheres Maß an Flexibilität."
Branche tut sich schwer mit der Zusammenarbeit
Wenn der Kunde läuft, läuft es für die Branche besser. Von einer verstärkten Zusammenarbeit im Logistiksektor dagegen hält der Verbandschef wenig. Gemeinsam im Innenstadtbereich lagern, getrennt ausfahren – das könnten sich die Mitglieder noch vorstellen. Viel mehr aber nicht:
"Wettbewerb ist im Paketmarkt sinnvoll, nur durch Wettbewerb erreichen sie die Kundenzufriedenheit, die wir anstreben. Wir halten von Konsolidierung nichts."
Auch den viel diskutierten Einsatz von Lieferdrohnen in der Stadt sieht der Verband nicht als Lösung für die Verkehrsprobleme - zu teuer, zu unsicher. Und dem neuesten Vorschlag aus dem Bundesverkehrsministerium – einer unterirdischen "Liefer-Offensive" – kann Bosselmann wenig abgewinnen.
"Jetzt gibt es so eine Initiative des Bundesverkehrsministers, Andi Scheuer, den ich mag, schätze, wir haben gestern gerade über das Thema gesprochen, die U-Bahn zum Beispiel – sie müssen aber sehen: Die U-Bahn gibt es nicht in allen Städten, in allen Regionen, das ist eine Lösung, über die wir schon länger nachdenken. Sie müssen nur sehen: Man hat einen Tag Zeitverlust durch den Nachtsprung und – meines Wissens – werden die U-Bahnen auch nachts gewartet."
Gratismentalität und Investitionsbedarf – das passt nicht zusammen
Die Branche wird mehr investieren müssen, um in Zukunft dem steigenden Lieferverkehr und den steigenden Umweltanforderungen gerecht zu werden, das weiß der Verbandschef. Und auch Zusteller müssen künftig besser bezahlt werden, denn schon jetzt klagt die Branche über Fahrermangel. Der Kunde aber hat sich an die Gratis-Logistikleistungen gewöhnt.
"Die sogenannte Null-Versandkosten-Mentalität bedrückt uns, das ist keine gute Entwicklung und man sollte sich immer vor Augen halten, dass wir in gute Technik investieren, in nachhaltige Antriebe investieren, in teure IT. Und natürlich auch Energie brauchen, um den Zustellprozess zu realisieren, das sollte sich jeder bewusst machen, der der Meinung ist, dass Versandkosten nichts sind bzw. nicht vorhanden sind."
Hamburg-Bergedorf zehn Uhr in der Früh. Paket um Paket zieht der Kurierfahrer aus dem Sprinter, stapelt sie auf einer Sackkarre, schiebt die vollbeladene Karre durch schwere Glastüren ins City Center Bergedorf.
"Heute wird tagesgenau, abverkaufsgenau zum Teil nachgeliefert, speziell im Textileinzelhandel, wenn dann Größen... nur noch zwei Jacken in 38... wird automatisch die Bestellung ausgelöst und dieses Produkt wird artikelgenau nachgeliefert. Das führt zu vielen kleinen täglichen Lieferverkehren und nicht mehr zu der Wochen- oder Monatslieferung."
"Heute wird tagesgenau, abverkaufsgenau zum Teil nachgeliefert, speziell im Textileinzelhandel, wenn dann Größen... nur noch zwei Jacken in 38... wird automatisch die Bestellung ausgelöst und dieses Produkt wird artikelgenau nachgeliefert. Das führt zu vielen kleinen täglichen Lieferverkehren und nicht mehr zu der Wochen- oder Monatslieferung."
Center-Manager Lutz Müller blickt aus der ersten Etage hinab auf die Ladenzeile. Beobachtet, wie der Paketbote die Ware im Schuhgeschäft ausliefert. Der Paketboom ist für Müller eine doppelte Herausforderung. Vor seinem Center drängen sich die Transporter. In seinem Center fürchten die Einzelhändler den Onlinehandel.
"Multilabel-Paketshop" des Einkaufszentrums Bergedorf
Der Manager hat reagiert. Mit einer Service-Offensive: "Ein-Treff-Punkt" heißt der Shop im ersten Stock. Am Tresen kleben die Logos von UPS, DPD und GLS. Dahinter steht Saskia Timm, die gerade eine Retourensendung entgegennimmt. Vor Timm liegen vier verschiedene Geräte, um die Pakete zu scannen.
"Wir sehen ja, welches Retouren-Label das ist, dann nehmen wir von jeweiligen KEP-Dienst das Gerät, nehmen das erst mit deren Gerät an und erstellen jeweils für den Kunden eine Quittung, damit er einen Nachweis hat."
Ob DPD, GLS oder UPS, ob bestellte Pakete abholen oder retournieren – im sogenannten "Multilabel-Paketshop" des Einkaufszentrums Bergedorf ist alles möglich. Klingt einfach. Doch die Vorbereitungen waren schwierig:
Ob DPD, GLS oder UPS, ob bestellte Pakete abholen oder retournieren – im sogenannten "Multilabel-Paketshop" des Einkaufszentrums Bergedorf ist alles möglich. Klingt einfach. Doch die Vorbereitungen waren schwierig:
"Als Auftakt habe ich natürlich alle relevanten KEP-Dienstleister angeschrieben mit einer langen Mail. Und die Firma GLS und DPD haben am nächsten Tag bei mir angerufen, die haben erkannt: Hier sind Chancen, die man gemeinsam ergreifen kann. Von der DHL habe ich ein sogenanntes Service-Ticket bekommen, das habe ich heute noch, danach kam nichts mehr."
Paketshop im Center bleibt Zuschussgeschäft
DHL war an einer Zusammenarbeit offenbar nicht interessiert. Anders die Mitbewerber. Mit ihnen hat Müller viele Gespräche geführt. In den Verhandlungen spielten nicht zuletzt Imagefragen eine Rolle, auch wettbewerbsrechtliche und versicherungstechnische Probleme. Doch am Ende stand das Konzept. In Spitzenzeiten nutzen nun bis zu 3000 Kunden pro Monat den Service im Einkaufscenter. Trotzdem bleibt der Paketshop ein Zuschussgeschäft.
"Wir haben hier ein Ladenlokal zur Verfügung gestellt, wir verzichten hier auf Miete, wir bezahlen hier das Personal, wir haben natürlich auch sehr kundenfreundliche Öffnungszeiten, das muss man sich auch ein bisschen gönnen, diesen Service, er trägt sich nicht von allein. Bei diesen Stückzahlen ist das Thema Personalkosten und Raumkosten nicht wirtschaftlich darstellbar."
Die Kosten müsse man unter "Marketing" verbuchen, sagt Lutz Müller. Eine Befragung gab ihm Recht. Etwa die Hälfte der Kunden gab an, anlässlich der Paketabholung weitere Einkäufe erledigt zu haben. Doch Müller träumt von mehr: Mehr zufriedene Kunden und Einzelhändler, weniger gestresste Paketboten und weniger Lieferverkehr. Er könnte sich vorstellen im City Center einen Microhub einzurichten, für die gesamte Bergedorfer Innenstadt.
"Ich glaube, der Multi-Label-Paketshop hier im CCB ist in Anbetracht dessen, was in der Logistik in Deutschland noch zu lösen ist, eine kleine Evolution, es ist noch keine Revolution und schon gar keine Disruption. Es ist der erste Schritt, Erfahrungen zu sammeln, Vertrauen gemeinsam zu entwickeln und dann die nächsten Schritte zu gehen."
Die tatsächlichen Kosten werden ignoriert
Über die nächsten Schritte in Sachen Lieferlogistik diskutiert Kirsten Havers unermüdlich. Sie leitet beim Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland das Projekt "Klimafreundlicher Lieferverkehr".
"Das Transportsystem bildet einfach nicht die Kosten ab, die tatsächlich entstehen. Das sind volkswirtschaftliche Kosten: Lärm, Abgase, Emissionen, Unfälle, das alles wird in keinster Weise eingepreist, das alles bildet nicht die Realität ab. Wir sind hier viel zu günstig und dadurch wird natürlich auch Verhalten beeinflusst. So lange die Preise so niedrig sind für die Transporte und natürlich auch für die Retouren, wird sich daran nichts ändern."
Der Wirtschaftsverkehr macht heute rund 30 Prozent des Verkehrsaufkommens einer Stadt aus, rechnet Havers vor.
Politik muss Anreize für klimafreundlichen Verkehr schaffen
"Ein Mobilitätssystem in der Stadt der Zukunft sieht auf jeden Fall so aus, dass es sehr viel weniger motorisierten Individualverkehr gibt und dafür zum Beispiel Lieferverkehr viel besser agieren kann. Denn Lieferverkehr hat eine Versorgungsfunktion, die ist wichtig und die müssen wir unterstützen. Die City-Maut und das Plakettensystem, das wären zwei gute Ansatzpunkte. Hier kann man Privilegierungen oder Ausnahmeregelungen für emissionsfreie Fahrzeuge einbauen."
Und so Anreize schaffen, um etwa auf emissionsarme oder -freie Fahrzeuge umzusteigen. Ein gutes Beispiel für eine funktionierende City-Maut sei London.
"Die gucken genau: Sind das Lieferfahrzeuge, sind das Privatfahrzeuge, die Emissionsklassen werden genau angeguckt und die haben deutlich die Emissionen reduzieren können in der Innenstadt."
Kommunen könnten auch hierzulande entsprechende Modelle einführen, so Havers. Aber vor Ort sei die Angst vor Klagen gegen solche Modelle groß, hat die BUND-Mitarbeiterin bei ihren Beratungen festgestellt. Deshalb müssten entsprechende gesetzliche Grundlagen geschaffen werden:
"Die Gesetzesgrundlage für eine City-Maut könnte derzeit auch schon durch die Landesgesetzgebung geschaffen werden, dazu wäre noch nicht einmal der Bund nötig, also, das wäre ein Appell an die Bundesländer, die Gesetzesgrundlage dahingehend zu verändern, dass die Kommunen in der Lage sind, eine City-Maut einzuführen."
Branche tut nur, was sie tun muss
Und die Logistik-Branche, was sagt die dazu? Havers ist optimistisch, wenn die Rahmenbedingungen stimmen und den Logistikunternehmen Zeit gelassen wird, etwa für die Umstellung ihrer Flotte.
"Interessanterweise ist die Reaktion auf Regulierungen oftmals gar nicht so negativ, denn die Branche ist sich bewusst, dass etwas passieren muss. Und die Branche – so wie das aller meistens in der Wirtschaft der Fall ist – tut aber nur das, was sie tun muss. Und sie könnten es tun. Das zumindest haben wir gehört. Die Konzepte sind in der Schublade. Es wäre theoretisch deutlich mehr möglich, als bisher getan wird, obwohl schon einiges getan wird, das muss man auch sagen. Es wäre deutlich mehr möglich."
Was möglich ist, zeigen auch andere europäische Nachbarn. In Belgien etwa die Stadt Gent. Die Verwaltung dort hat das Stadtgebiet in verschiedene Felder unterteilt, berichtet Havers.
"Und es ist nicht möglich, von einem Viertel ins andere direkt zu fahren. Man muss also immer wieder rausfahren aus der Stadt und von woanders reinfahren in die Stadt. Da denkt man jetzt vielleicht, okay, vielleicht macht das eher mehr Verkehr, tatsächlich ist es aber so, dass die Stadt Gent die Durchfahrt für Fahrräder erlaubt hat, sodass es in Gent deutlich sichtbar ist, dass Lastenräder einen Großteil der Transporte übernehmen, weil es für die Transportdienstleister viel günstiger ist, das Lastenrad quer durch die Stadt fahren zu lassen, als einen Sprinter, der erst wieder raus muss und auf der anderen Seite wieder rein."
Hamburger Wege zu weniger Stress auf der letzten Meile
Hamburg, Speicherstadt. Auf einer Etage eines alten Speichers surren Computer, laden knallbunte Sitzsäcke zum Entspannen ein, alte Kaffeesäcke dienen als Teppichläufer. Hanseatisch hip präsentiert sich "Digital Hub Logistics". Ein Gemeinschaftsunternehmen der Stadt und über 500 Unternehmen, die sich zur "Logistik-Initiative Hamburg" zusammengeschlossen haben. "SMILE" heißt das Projekt, das nach neuen Wegen für die Lieferung auf der letzten Meile sucht. Mehr als 40 junge Unternehmen tüfteln im Digital Hub an Logistiklösungen.
"Ein Projekt, was sich auch sehr bewährt hat, ist das Projekt ‚Pakadoo‘, wo Arbeitgeber sich anmelden können und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gestatten, dass sie ihre Pakete zum Arbeitgeber liefern lassen, um das Paket von dort mit nach Hause zu nehmen, sodass man während der Arbeitszeit keine Zustellversuche hat und damit eben einen unnützen Zustellversuch."
Auch Lutz Birke kann sich seine Pakete an den Arbeitsplatz liefern lassen. Der Betriebswirtschaftler leitet in der Wirtschaftsbehörde das Amt für "Hafen und Innovation". Ob der Einsatz von Paketrobotern, Drohnen oder der Bau unterirdischer Transportröhren - an innovativen Ideen mangelt es nicht in der Hansestadt. An Finanzierungsmöglichkeiten schon. Daher konzentriert sich Birkes Behörde bei der Entwicklung einer Logistikstrategie auf das Naheliegende.
"Insgesamt glauben wir, dass wir perspektivisch zwischen 200 und 250 solcher Microhubs in Hamburg brauchen, um signifikant Verkehr von der Straße zu nehmen. Und haben jetzt auch mittlerweile mit der Hamburgischen Wirtschaftsförderung eine Plattform für Flächenimmobilien aufgesetzt, wo unterschiedlichste Personen, aber auch Unternehmer Flächen melden können, von denen sie meinen, dort könnte man einen Microhub aufbauen."
Gesucht: Lagerflächen in der Innenstadt
Die Frag der Lagerflächen ist zurzeit die große Unbekannte in der Logistikplanung. Ob Mitnutzung von Parkhäusern oder Einkaufszentren – eine Vielzahl von Immobilien wird derzeit auf ihre Eignung geprüft. Vereinzelt wird sogar für den Neubau von mehrstöckigen Lagerhäusern in der Innenstadt plädiert. Parallel dazu installiert die Stadt, zusammen mit einigen KEP-Unternehmen an einigen U- und S-Bahnhöfen sowie Fernverkehrsstationen neue Abholstationen, die sogenannte Hamburg-Box.
In Zukunft werden Logistikanforderungen von vorneherein bei der Stadtplanung berücksichtigt, versichert Birke. Die Platzfrage stellt sich für ihn aber auch auf der Straße.
"Wenn ich gerade im Bereich ‚Letzte Meile‘ mehr Päckchen und Pakete mit Lastenrädern ausliefern will, dann muss ich für diese Fortbewegungsmittel mehr Straßenraum zur Verfügung stellen. Und wenn dieser Straßenraum begrenzt ist, dann ist es zwangsläufig, dass ich jemandem etwas wegnehme und das geht dann im bestehenden Straßenraum eher gegenüber dem Individualverkehr."
Als Nächstes wollen die Hamburger sogenannte "smarte" Ladezonen testen. Versenkbare Poller sollen Parkflächen nur für Logistik-Fahrzeuge sichern. Weniger Raum für Privat-PKW. Mehr Platz für Lieferfahrzeuge. Auch das ist Teil der Hamburger Logistikstrategie.
In Berlin-Adlershof rollt Gary Reich mit seinem Transporter zurück auf den Firmenparkplatz. Ab dem Sommer wird er in die Pedale treten. Sein Chef hat ein Lastenrad bestellt. Und wird einen Transporter abschaffen.
"Gerade in so einer Großstadt, da ist es natürlich ein Verkehrsmittel, was total Sinn macht, weil, es soll ja auch noch für die Leute attraktiv sein, die hier noch leben. Und wenn natürlich alles voller Autos ist, macht ja keinen Sinn."
Politik muss Steuerungsinstrumente nutzen
Wenige hundert Meter weiter startet Gernot Liedkte am Institut für Verkehrsforschung eine neue Simulation - eine City-Maut auf Knopfdruck. Auf dem Monitor bewegen sich LKW in Form kleiner Pfeile ins Berliner Stadtzentrum.
"Und man sieht, dass wir das ganze System mal mit einer Maut belegen. Zum Beispiel einen Innenstadteinfahrtsmaut, also wenn man unter dem S-Bahn-Ring durchfährt mit einem Lieferfahrzeug, dann wären 20 Euro fällig. Oder mit einer kilometerabhängigen Maut."
Die Auswirkungen auf den Verkehr sind sofort sichtbar. In Außenbezirken nimmt der Lieferverkehr teilweise zu. Unterm Strich aber wird das Stadtzentrum entlastet. Routenoptimierung über den Preis. Eine einfache und wirksame Steuerung des Wirtschaftsverkehrs.
"Die Politik hat einen sehr großen Spielraum durch steuernde Preise, ich glaube, das Thema City-Maut sollte man noch einmal völlig unideologisch in Deutschland diskutieren. Das hat Chancen, nachhaltige Entwicklung in Deutschland zu unterstützen. Die Lösung, die die Logistiker selbst finden, wie gesagt, sollen die selbst finden, die sind sehr kreativ."
Nur die Leitplanken für eine zukünftige Entwicklung müssen her. Von der Begünstigung emissionsarmer Antriebssysteme, über die Verteuerung von Retouren, bis hin zur Maut – es gibt viele Möglichkeiten, den Innenstadtverkehr zu entlasten und in eine umweltverträglichere Richtung zu lenken. Und auch der Verbraucher kann mitsteuern, sagt Kirsten Havers vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland:
"Das allererste Gebot beim Bestellen ist: keine Expresslieferung. Denn Expresslieferungen sind der Tod jeder Effizienz. Also wenn ich ein Paket bestelle und es soll am besten heute noch da sein, dann wird dieses Paket irgendwo in Deutschland verladen. Das wird so schnell wie möglich in das Lager x gebracht und von dort in das Lager y und von dort dann an meine Haustür. Wie gesagt, das sind oft kleine Fahrzeuge, oft sind da drei Pakete drin, das ist umweltseitig und verkehrsseitig ein Wahnsinn."