Warum läuten die Glocken, Frau Markus?
Die Autorin Carmen-Francesca Banciu mit rumänischen Wurzeln verbrachte im Herbst 2014 einige Woche in einem kleinen siebenbürgischen Dorf. Für den Originalton berichtet sie von den Einwohnern und den Spuren der Vergangenheit.
Heute nachmittag läuten die Glocken in der Kirchenburg. Erst hört man die kleine Glocke. Scharf. Eintönig. Obsessiv wiederholend. Sie soll die Leute aus der Gemeinde benachrichtigen. Sie sollen sich für das Ereignis vorbereiten.
Bald darauf läuten die drei großen Glocken. Ihre schweren Töne schwingen in einer Klangspirale.
Warum läuten heute die Glocken, Frau Markus?
Frau Markus ist die sächsische Seele des Dorfes. Was immer man über das Dorf wissen möchte, kann man von ihr erfahren. Sie ist die lebende Dorfchronik.
Frau Markus hat vieles erlebt. Und überlebt. Die Zeit des Krieges. Die Zeit des Kommunismus. Den Verlust ihres Hofes. Die Auswanderung. Den Tod ihres Mannes. Die Auflösung der sächsischen Gemeinden. Den Verlust der Heimat.
Heimat ist für sie immer noch Katzendorf. Gleich nach der Wende ist sie aus Deutschland wieder gekommen. Hat sich ihr Haus zurückgekauft. Und sich ihren Hof hergerichtet.
Jeden Frühling kommt sie hierher. Bleibt bis zum Winteranfang. Dann kehrt sie nach Deutschland zurück.
Wozu soll ich noch kommen. Sag sie jedes Jahr. Die Sachsen sind weg oder tot. Was soll ich da. Und doch kommt sie jedes Jahr wieder. Und doch hält sie fest an ihrem Haus mit Giebel und hohem Tor. An den Pferden im Stall. An dem Garten. An dem langgestreckten Hof. An den tintenschwarzen Trauben, mit dicker Haut, die vor der Veranda hängen.
Sogar an ihrer Freundschaft mit den Roma-Kindern aus dem Dorf hält sie fest. Um die kleine Lore ist sie besonders besorgt. Kommt mit vollbepackten Koffern im Frühling. Damit Lore für den nächsten Winter Stiefel und Schuhe und einen Mantel hat. Damit die kleine Lore in die Schule gehen kann. Was wird aus den Kindern, wenn wir nicht helfen. Sagt sie.
Achthundert Jahre waren wir hier, sagt Frau Markus. Aber jetzt ist alles vorbei.
Und doch kann sie sich nicht damit abfinden.
Heute am Nachmittag läuten die Glocken im Dorf. Frau Markus hat die Tore der Kirchenburg geöffnet. Obwohl es hier keinen mehr gibt, den dies noch etwas angeht. Sie hat die Tore der Kirche aufgeschlossen. Damit Mosesz, Ionutz und György die Glocken ziehen.
Frau Markus. Kerzengerade. Selbstbewusst. Ist die Hüterin der sächsischen Sitten.
Sie sorgt, dass der alte Brauch eingehalten wird. Für jeden Sachsen aus dem Dorf der in der Welt gestorben ist, lässt sie die Glocken läuten.
Wenn die Glocken ermüden, belohnt sie die Glöckner mit Kaffee. Mit Schnaps. Und selbstgebackenem Kuchen.
Wer wird eines Tages an ihrer Stelle die Glöckner bestellen. Für sie den Kuchen backen. Und den Tzuica ausgeben. Wer wird ihr wünschen: Sanft möge die Erde auf Ihr ruhen!
Warum läuten die Glocken, Frau Markus.
Just in diesem Augenblick wird ein Katzendorfer begraben. Und für Frau Markus? Wer wird die Glocken für Frau Markus läuten?
Die Autorin Carmen-Francesca Banciu ist in Rumänien aufgewachsen und lebt inzwischen seit mehr als 20 Jahren in Deutschland. Im vergangenen Herbst ist Carmen Francesca Banciu wieder für einige Wochen nach Rumänien zurückgekehrt, in den kleinen siebenbürgischen Ort Katzendorf.