Joachim Hake (Jg. 1963), studierte Theologie und ist Direktor der Katholischen Akademie in Berlin. Sein Hauptinteresse gilt dem Verhältnis von Christentum und Moderne, Kultur und Theologie sowie Kultur und Politik. 2014 ernannte ihn Papst Franziskus zum Consultor im Päpstlichen Rat für Kultur. 2020 erschien sein Band mit Notaten: "Trost und Staunen" (Eos Verlag).
Trost im Lesen und Schreiben finden
03:59 Minuten
Die Mutter stirbt jung, der Sohn sucht Trost: im Tagebuchschreiben, im Lesen, im Glauben. 20 Jahre später beginnt er, jeden Morgen ihm wichtige Textstellen aus Büchern abzuschreiben. Autor und Theologe Joachim Hake auf der Suche nach Halt und Erkenntnis.
Was ist Trost? Ich weiß es nicht. Ich habe lediglich eine Ahnung davon, wie Trost anfängt. Aber was Trost letztlich ist, das weiß ich nicht, weiß ich noch nicht. Vielleicht fängt Trost immer nur an.
Elias Canetti schreibt: "Das Benennen ist der große und ernste Trost des Menschen." Der Not einen Namen geben, sagen, was ist, ungeschönt, damit fängt der Trost an. Und Trost hat mit Staunen zu tun.
Im Mai 1996 ist meine Mutter an Krebs gestorben. Sie wurde nur 58 Jahre alt. Zusammen mit meinem Vater habe ich sie acht Monate bis zu ihrem Tod zu Hause gepflegt. In meiner Erinnerung haben sich einige Szenen eingeprägt, die ich bis heute nicht vergessen kann:
Im Mai 1996 ist meine Mutter an Krebs gestorben. Sie wurde nur 58 Jahre alt. Zusammen mit meinem Vater habe ich sie acht Monate bis zu ihrem Tod zu Hause gepflegt. In meiner Erinnerung haben sich einige Szenen eingeprägt, die ich bis heute nicht vergessen kann:
"Ich sehe aus wie ein Wrack", sagt sie …
"Ja, du siehst aus wie ein Wrack", sage ich.
Und Monate später sagt meine Mutter: "Ich werde sterben".
"Ja, du wirst sterben. Aber wir sind bei Dir".
"Ja, du siehst aus wie ein Wrack", sage ich.
Und Monate später sagt meine Mutter: "Ich werde sterben".
"Ja, du wirst sterben. Aber wir sind bei Dir".
Sehr genau erinnere ich mich, wie sich meine Mutter nach diesem Gespräch auf die Seite drehte und beruhigt weiterschlief.
Die Pflege der Mutter als Beginn eines Tagebuchrituals
Mit dem ersten Tag der Pflege meiner Mutter habe ich im Oktober 1995 angefangen, Tagebuch zu führen. Das mache ich bis heute. Seit mehr als acht Jahren beginnt mein Tag nun zusätzlich mit dem Kopieren von Texten. Nicht mit der Hand, sondern am Computer schreibe ich aus Büchern ab, die ich oft Jahre zuvor und oft mehrmals gelesen habe.
Die Stellen habe ich irgendwann mit einem Bleistift markiert, und so verbringe ich die erste Stunde des Tages mit dem Wiederlesen und Exzerpieren aus Tagebüchern, philosophischen Meditationen, Romanfragmenten, geistlichen Texten und Gedichten, vornehmlich mit jenen Stellen, von denen ich annehme, dass sie dem Leben näher sind als andere.
Außerdem mache ich mir tägliche Notizen. Abschriften mischen sich mit eigenen Aufzeichnungen. Aus diesen Notizen sind im Laufe der letzten Jahre zwei Notizbücher entstanden.
Den Zusammenhang von Lesen und Leben ergründen
Warum mache ich das jeden Tag?
Ich möchte dem Zusammenhang von Lesen und Leben mehr und mehr auf die Spur kommen, und ich möchte genauer wissen, was Trost ist. Als Christ bewege ich mich in den Spuren des Glaubens meiner Mutter und meines Vaters. Meine Mutter hat aus diesem Glauben auch in ihrer Krankheit und in ihrem Sterben Kraft gezogen wie mein Vater, als er ihr zur Seite stand.
Die Frage nach dem Trost aber ist damit für mich nicht abschließend beantwortet. Der Lyriker Harald Hartung schreibt: Aufzeichnungen sind "Halme für ein Nest, das keine Gestalt annehmen will". 1995 habe ich angefangen, Tagebuch zu führen. Ich musste gegen die bleierne und stumpfe Traurigkeit anschreiben, und gegen die Hilflosigkeit.
Erinnerung an meine Mutter
Die Tagebuchaufzeichnungen über das Sterben meiner Mutter habe ich später eigene Notizen beigefügt. Diese Aufzeichnungen sind für mich ein solches Nest, von dem ich mir wünsche, dass es die Erinnerung an meine Mutter behütet, und mich auch.
Seit acht Jahren schreibe ich nun morgens ab, und auf diese freie Stunde möchte ich nicht mehr verzichten. Diese Notizen sind Resonanzen von etwas, das anderswo gedacht und formuliert wurde.
Dabei stellt sich gelegentlich ein Trost ein: In der Fülle der Welt liegt eine merkwürdige Großzügigkeit, die mich immer wieder ein wenig mehr erfreut, als in Angst und Schrecken versetzt.