Traum vom Land, wo die Zitronen blühen
Italien gilt vielen Nordeuropäern als Land der Sehnsucht. Und das nicht erst seit Kurzem: Der Süden als Projektionsfläche ist eine Konstante in der Kulturgeschichte. Auch wegen Schriftstellern wie Ferdinando Galiani, der im 18. Jahrhundert den freien Esprit Italiens verkörperte.
Maike Albath: Herzlich willkommen. "Unser Herz zeigt nach dem Süden." Das schrieb Siegmund Freud Anfang des 20. Jahrhunderts auf einer Postkarte und stellte sich damit in eine lange Tradition von italiensüchtigen Nordeuropäern. Was der Begründer der Psychoanalyse empfand, ist eine Konstante in der Kulturgeschichte. Passend zur dunklen Jahreszeit wollen wir heute am zweiten Weihnachtsfeiertag über die Anziehungskraft der südlichen Himmelsrichtung diskutieren. Außerdem stellen wir Ihnen einen bemerkenswerten Philosophen vor, der den freien, spitzfindigen Esprit des Südens verkörpert, den Neapolitaner Ferdinando Galiani.
Zwei Gäste sind dazu ins Studio gekommen: der Bremer Professor für kritische Literaturgeschichte Dieter Richter. Er hat gerade ein neues Buch vorgelegt mit dem Titel "Der Süden. Geschichte einer Himmelsrichtung". Guten Tag, Herr Richter.
Dieter Richter: Ja, schönen guten Tag.
Albath: Mit dabei ist außerdem der Verleger Wolfgang Hörner. Er hat vor wenigen Monaten den Galiani-Verlag gegründet, der nach dem Philosophen Ferdinando Galiani benannt ist. Und er hat außerdem einen Band mit Briefen und Lästereien Galianis herausgegeben. "Nachrichten vom Vesuv" heißt das Buch. Guten Tag, Herr Hörner.
Wolfgang Hörner: Guten Tag.
Albath: Herr Hörner, wie sind Sie denn auf diesen Ferdinando Galiani gestoßen?
Hörner: Ich muss gestehen, dass es bei der Namenswahl vorher auch andere Überlegungen gab, die aber alle ausgeschieden waren. Wir wollten so ein bisschen einen literarischen oder geisteswissenschaftlichen Helden zum Namenspatron nehmen und haben uns vorgestellt, wie die Leute im Buchladen stehen und nach "Mon-teig-ne" fragen oder nach "Di-de-rott". Und wir dachten, das geht alles gar nicht. Oder nach "Ster-ne". Dann fiel mir ein, dass ich eben Galiani sehr liebe und ihn für einen wunderbaren Denker und auch Dichter halte, meinte aber, den kennt nun doch keiner, worauf meine Partnerin Esther Kormann im Verlag meinte: "Macht nichts, der Name ist so toll, den müssen wir nehmen".
Albath: Und auf diese Weise lernen ihn jetzt viele Leser kennen. Was sind denn das überhaupt für Texte? Und was für ein Denker ist Galiani, Dieter Richter?
Richter: Galiani ist eine sehr vielschichtige Person. Er ist auf der einen Seite Philosoph. Er ist Briefeschreiber. Er ist von Haus aus das, was wir heute einen Nationalökonomen nennen würden. Heute würde man von einem Wirtschaftswissenschaftler sprechen. Er hat zum Beispiel ein Buch über den Kornhandel geschrieben. Und er hat auch etwas über den Ausbruch des Vesuv geschrieben, was mich natürlich besonders interessiert, weil ich den Vesuv sehr liebe, und eine ganze Reihe von anderen Schriften noch – ein Universalgelehrter, ein Typ von Mensch also, der für das 18. Jahrhundert nicht ganz untypisch gewesen ist, obwohl in einer sehr eigentümlichen, besonders intelligenten Zuspitzung.
Albath: Stellt denn Galiani unser Bild vom 18. Jahrhundert auch ein bisschen auf den Kopf? Ich war verblüfft, wie einfallsreich er ist und vor allem wie respektlos. Er ist ja ein Lästermaul ohnegleichen. Das kann man aus den Briefen besonders gut ablesen. Wolfgang Hörner, was zeichnet ihn aus, in Ihren Augen?
Hörner: Na, ich glaube nicht, dass er das Bild auf den Kopf stellt. Ich finde, er ist eine wunderbare Verkörperung dessen, was für mich die schönsten der Geister des 18. Jahrhunderts sind. Er ist eben einer, der wirklich sehr respektlos denkt und schreibt, aber nicht nur respektlos, sondern dabei gleichzeitig tief. Er ist so einer, der immer die Sache quer andenkt. Da gab es ja auch andere, eben Lichtenberg meinetwegen oder Laurence Sterne. Er war uns deshalb so lieb, weil er eben so vielseitig ist, aber auch dass, "wie" er schreibt, immer genauso wichtig ist wie das "Was". Also, er ist ein glänzender Stilist. Er hat wunderbare Einfälle und er ist von einer Originalität, die selten ist.
Zudem, finde ich, kann man so ein bisschen zu Recht sagen, er ist so die 18.-Jahrhundert-Variante Montaignes. Er nimmt sich nicht aus von seinen Überlegungen. Er war ein Gnom. Er war ziemlich klein. Man spottete immer über ihn. Und er ist dann frei genug zu sagen: "All das gehört auch zu mir, auch dass ich klein bin" – er war, glaube ich, auch ganz schön eitel -, "auch dass ich eitel bin. Auch die schlechten Seiten gehören zu mir". Und er treibt sein Spiel nicht nur mit Anderen, auch mit sich selbst. Das fand ich eine sehr schöne Haltung.
Albath: Es gibt auch etliche Äußerungen zu seinen fehlenden Zähnen. Darüber lästert er ja auch immer. Also, er nimmt sich nicht aus. Er war ja in Paris zwischen 1759 und 1769, Dieter Richter, und musste dann nach Neapel zurückkehren. Und dann sagt er über Neapel: "Man hat mich in die Bastille gesteckt." Also, dort fühlte er sich gefangen. Was steckt da dahinter?
Richter: Er ist nach Paris geschickt worden als Legationssekretär. Wir sind ja in einer Zeit, in der das Königreich Neapel ein eigenes selbstständiges Königreich ist und deswegen eine diplomatische Vertretung in Paris hat. Und Galiani wird Botschaftssekretär in Paris. Das ist für ihn die Erfüllung des Lebensglücks. Das, was Sie vorhin vom Süden gesagt haben, wohin die Sehnsucht zeige, war bei Galiani genau umgekehrt. Seine Kompassnadel der Sehnsucht zeigte nach Norden. Er wollte nach Paris. In Paris blüht er auf. Er genießt das Leben. Er ist im beständigen Kontakt. Er muss ja auch wöchentlich Briefe, also diplomatische Rapporte abgeben. Er beschäftigt sich mit den Ausgrabungen von Pompeji und Herculaneum noch von Paris aus, schreibt seinem Minister: "Wann erscheinen endlich die Fundberichte, hier wollen alle Leute Ausgrabungsergebnisse von Pompeji und Herculaneum sehen?". Also, er ist in seinem Metier. Er blüht dort auf und dann wird er nach einigen Jahren abberufen wegen einer, wie ich aus dem Buch von Herrn Hörner gelernt habe, wohl unklaren Angelegenheit, die auch in diesem Buch nicht näher ausgeführt wird. Wahrscheinlich verhüllt sie sich noch immer ein bisschen im Dunkeln.
Hörner: Eine diplomatische Panne. Er hatte da was ausgeplaudert, was er als Diplomat nicht hätte ausplaudern dürfen. Die Zusammenhänge sind sehr verwickelt. Und dann musste eben sein Arbeitgeber mehr oder weniger entscheiden, halte ich jetzt meinen Kopf dafür hin oder muss es der machen, der es gemacht hat? Und das war dann so. Galiani musste innerhalb von vier Tagen, also wirklich blitzartig, Paris verlassen, wurde dann allerdings in Neapel dafür mit Posten bedacht, mit Geldern bedacht. Also, man hat's ihm leicht gemacht. Aber trotzdem hat er gelitten, schrecklich darunter gelitten.
Albath: Das geht auch aus allen seinen Briefen hervor. Dieter Richter, Sie sind ja ein großer Spezialist für Neapel. Ich dachte immer, dass Neapel in dieser Zeit eine wirklich europäische Metropole gewesen sei. Wieso leidet Galiani dann so sehr darunter, dorthin wieder zurückkehren zu müssen?
Richter: Das ist schon richtig, Neapel ist die drittgrößte Stadt Europas im 18. Jahrhundert – neben London und Paris. Als dann Galiani nach Neapel zurückgerufen wird, sind wir in einer politischen Umbruchszeit. Es kommt Ferdinand IV. – das ist der noch jugendliche und ziemlich bescheuerte Sohn von Karl III. – an die Regierung, ein ausgesprochen unfähiger Regent. Da ist also dann gegen Ende des 18. Jahrhunderts natürlich ein riesiger Unterschied. Da entwickelt sich Paris zur revolutionären Stadt hin und in Neapel ist es genau das Gegenteil. 1799: Die Parthenopäische Republik, die unter dem Einfluss der Franzosen zustande kommt, wird von eben diesem König Ferdinand im Blut erstickt. Hunderte von Aristokraten, Bürgern, sozusagen die gesamte Intelligenz der Stadt wird ausgelöscht.
Albath: Was erfahren wir denn aus diesen Briefen über Neapel und Galianis Situation in der Zeit? Was wird deutlich von seinem Geist?
Hörner: Ich befürchte mal, über Neapel erfahren wir gar nicht so schrecklich viel. Er jammert drüber. Er stellt das dar, als sei es das hinterletzte Provinznest, was es ganz bestimmt nicht war. Aber er macht das natürlich, um seinem Schmerz über den Verlust von Paris Ausdruck zu verleihen. Und da ist es ja auch nicht so, dass er nach Paris kam und das sofort wunderbar fand. Er fand den Hof auch öde und langweilig. Er kam da eben mit den Enzyklopädisten in Berührung. Das war es, was in ihm diese Explosion ausgelöst hat, die Gespräche, die er hatte über Gott und die Welt, wirklich. Und solche Gespräche führt er in diesen Briefen. Es geht um alles Mögliche. Es geht um Gott. Es geht um die Welt. Es geht um Amerika. Es geht um Ökonomie. Es geht um seine ausfallenden Zähne und das Verhältnis zum eigenen Körper. Es geht um Katzen und das Verhältnis zu Tieren. Er springt in den Briefen wahnsinnig schnell hin und her, hat aber eben diese – ich glaube – wirklich seltene Gabe, ganze Weltprobleme auf einer halben Seite in einer sehr originellen Art und Weise zusammenzufassen und ihnen noch einen eigenen Dreh zu geben. Man findet also, würde ich mal sagen, in diesen Briefen eigentlich die gesamte Welt und alles das, was damals die Leute bewegte und was uns heute zum Teil auch noch bewegt. – Wie geht man mit großen Krisen um? Wie geht man mit Finanzkrisen um? – ein großes Thema dort eben in Frankreich und heute auch wieder. Sie finden dort also zu allem was.
Albath: Also, ein sehr lebendiges Zeitpanorama. Noch ein Wort zu den stilistischen Eigenarten, Dieter Richter.
Richter: Zu den stilistischen Eigenarten? Ich glaube, er ist vor allem ein Briefeschreiber. Und sein Stil ist kommunikativ. Das ist ja auch typisch für das 18. Jahrhundert, was wir heute in der wissenschaftlichen Prosa überhaupt nicht mehr kennen würden, dass einer ein wissenschaftliches Werk schreibt und er tut es in Gesprächsform. Er hat im Grunde auch in seiner Art des Schreibens ein Gegenüber vor sich, an das er sich wendet, mit dem er diskutiert. Das ist eigentlich das, was man Esprit oder Feinsinn oder geistreich nennen könnte, was ja nicht nur einfach stilistische Formeln sind, sondern was auch voraussetzt, da ist jemand, mit dem mache ich einen Schlagabtausch. Es ist häufig wirklich ein Schlagabtausch. Er nimmt die Argumente auf. Er gibt sie zurück. Es ist ein Pingpong-Spiel. Wenn Sie jetzt unsere Wissenschaft nehmen, die meisten wissenschaftlichen Veröffentlichungen sind ja öde und langweilig, weil sie trocken sind, weil man sich damit vor der wissenschaftlichen Welt qualifizieren muss. Hier haben wir noch einen Autor, der mit einem Gegenüber diskutiert, debattiert. Und das geht in seinen Stil ein, speziell in diese Form der Dialoge, in denen er auch seine wissenschaftlichen Werke schreibt.
Albath: Also, ein sehr lebendiges Erzählen von großen Problemen. Wie stand es mit dieser Ansicht, die er zu den nationalökonomischen Problemen vertreten hat? Kann man da ein Wort drüber verlieren, Wolfgang Hörner? Sie haben es ja in Auszügen in Ihrem Band auch enthalten. Was hat er da für eine Einschätzung?
Hörner: Er ist kein Mann der Systematik. Er ist ein sehr kluger, analytischer, scharfsinniger Denker, aber er sagt: "Jedes System, das von Menschen erdacht wird, steht immer im historischen und in einem gesellschaftlichen Zusammenhang. Auch alle finanziellen Dinge stehen in so einem Zusammenhang, weshalb es vollkommen unsinnig ist, an einem System des Systems wegen festzuhalten". Es heißt mal irgendwo: "Wasser ist für den Verdurstenden in der Wüste lebenswichtig. Aber für den, der sich an der Schiffsplanke festklammert, todbringend." Galiani ist auch ein großer Meister des Bonmots, muss man wirklich sagen. Es gibt Sätze bei ihm: "Der Mensch ist ein absurdes Tier" ist so ein Satz von ihm, wo natürlich auch ein ganzes Weltbild aufscheint.
Aber ihm war eben wichtig, dass man Situationen immer ganz situativ anguckt und bewertet. Und er sagt, es ist natürlich alles auch sehr davon abhängig, wie Leute reagieren auf gewisse Dinge. Er hat sozusagen so eine Art von Angebot- und Nachfragegesetz schon gefunden und entwickelt. Und er hat immer eine große psychologische Komponente drin.
Albath: Und seine Schriften waren sehr folgenreich. Sie wurden in ganz Europa gelesen und haben für Aufmerksamkeit, für große Aufregung gesorgt. Es gibt so ein Bonmot von ihm, das möchte ich noch zitieren: "Die Welt ist ein Bratspieß. Wir glauben ihn zu drehen, aber er dreht uns." Das bringt Galiani, glaube ich, gut auf den Punkt.
Wir sprachen über Ferdinando Galiani: "Nachrichten vom Vesuv", erschienen im Galiani-Verlag Berlin. Galiani stammt aus dem Süden und Himmelsrichtungen sind kulturgeschichtlich besetzte Sphären. Das steht im Mittelpunkt des neuen Buches von Dieter Richter. Der Süden war aber, habe ich aus Ihrem Buch gelernt, nicht immer ein Ort der Verheißung. Wie ist es dann dazu gekommen, dass er so ein Versprechen wurde?
Richter: Absolut nicht, der Süden ist vor allem im Mittelalter der dunkle, der unbekannte Süden gewesen. Schwarz war die Farbe des Bösen, des Teufels. Und nach mittelalterlicher sowohl Geografie als auch Theologie besteht die Erde aus drei großen Landmassen: Europa, Asien und Afrika. Und nach der Bibel, die Sintflut hat ja alle Menschen vernichtet, woher kommen also die neuen Bewohner? Sie kommen alle von den drei Söhnen Noahs. Und da gibt es zwei wohlgeratene, zwei gute Söhne, und einen bösen Schlingel. Er hat nämlich seinen Vater mal nackt gesehen, als er betrunken im Zelt gelegen hat. Und daraufhin hat Noah diesen Herrn Ham verflucht. Und die Hamiten, also die Nachkommen dieses Ham, leben im Süden. Und der Süden gilt als die böse – nicht der Süden, aber Afrika gilt als das Land mit einer fluchbeladenen Bevölkerung. Das ist die früheste und die am nachhaltigsten wirkende Vorurteilsbildung gegenüber Afrika und gegenüber dem Süden. Also, da ist noch nicht "black is beautiful", sondern Schwarz ist die Farbe des Teufels und die Afrikaner sehen im Übrigen auch aus wie die Teufel. Das steht in vielen, vielen mittelalterlichen Quellen.
Albath: Aber es hat sich ja dann sehr verändert. Der Süden wurde ein Sehnsuchtsraum, auch ein Ort von Utopien. Was passierte da, Wolfgang Hörner?
Hörner: Ich glaube, was mich an diesem Buch fasziniert hat, war ja auch, dass es offensichtlich so eine Art Ost-Süd-Verschiebung gab – das wusste ich vorher nicht – der Paradiesvorstellungen, was sicherlich damit zu tun hatte, dass die Zentren des Lebens weiter in den Norden rückten. Es gab dann vielerlei Arten von Theorien, etwa Klimatheorien, die sagten, im Norden ist es immer kalt, da kann sich nichts entwickeln. Im Süden, da blüht das Leben. Da kamen eine ganze Reihe von Vorstellungen, glaube ich, zusammen, die dazu geführt haben, dass der Süden plötzlich im Mittelpunkt stand. Und ganz wichtig ist, – und das fand ich bei Ihrem Buch wunderschön – dass die großen Pilgerwege natürlich dann alle entweder nach Jerusalem gingen oder nach Santiago, also auch wieder in den Süden. Denn die, die pilgerten, kamen ja nicht aus Süditalien zum Großteil, sondern zum Großteil aus England, aus Frankreich, aus Deutschland. Und plötzlich bekam der Süden diesen Ruch des Heils-Orts.
Albath: Ja, das war ja dann auch Rom, ein Pilgerort, an dem sich schon sehr früh so etwas wie touristische Strukturen herausbildeten. Dieter Richter, was passierte da?
Richter: Es ist tatsächlich so, dass die Pilgerreisen so eine Art von touristischer Infrastruktur erfordert haben, vor allem, wenn wir Rom nehmen in den Heiligen Jahren. 1350 ist das erste Heilige Jahr gewesen. Zehntausende von Pilgern überqueren die Alpen, müssen in Rom verköstigt werden. Man muss Unterkunft für sie finden. Da bildet sich eine Logistik heraus, wie wir sie später im Tourismus mit den Großereignissen finden.
Es bildet sich aber noch mehr heraus. Darum geht es auch in meinem Buch. Es bildet sich diese Orientierung hin zum Süden heraus. Warum diese Orientierung nach Italien? Warum beispielsweise nicht nach Spanien? Warum nicht nach Griechenland? Das hat zum einen mit dem Pilgerweg nach Rom zu tun. Und zum anderen hat's mit dem zu tun, was man Grand Tour nennt, also diese Reisebewegung von Aristokraten, adeligen Bürgern. Da gibt es eine feste Route. Die führt von London aus, geht dann durch Mitteleuropa und geht dann über die Schweiz nach Italien. Und Rom beziehungsweise Neapel ist das letzte Ziel dieser Grand Tour, einer Art von weltlicher Pilgerreise, kann man sagen. Und von daher diese starke Orientierung auf Italien, als das klassische Land des Südens.
Albath: Dieter Richter erzählt ja auch von den Wirkungen, die der Süden gehabt hat, oder den Vermutungen, die man annahm, dass dieser Süden wirken könnte auf die Leute, die sich dort länger aufhielten. Es gibt eine Geschichte über die Soldaten von Hannibal, die dann plötzlich unter der südlichen Sonne erschlaffen. Was erfahren wir denn noch aus dem Befund Dieter Richters über die Mentalitäten, Wolfgang Hörner?
Hörner: Vielleicht noch eine Anmerkung zu gerade eben. Ich glaube, dass natürlich auch ein ganz wichtiger Punkt ist, warum der Süden der Sehnsuchtsort wurde. Das kommt bei Ihnen vor, vielleicht nicht ganz so stark, dass man natürlich in Europa die eigenen Wurzeln wiederentdeckt, nämlich eben die Römer und die Griechen, die ja lange Zeit verschüttet waren. Dann entdeckt man das wieder. Und so ist, glaube ich, der Süden auch der historische und der geistige Sehnsuchtsort, nach dem man sich dann wieder orientiert. Und vielleicht kommt daher dann auch, dass erst spät Griechenland, nachdem es versucht, von den Türken frei zu werden, ja plötzlich auch Griechenland ein großer Sehnsuchtsort wird, während vorher das besetztes Gebiet war. Da konnte man gar nicht richtig hin. Vielleicht hat also auch das etwas damit zu tun.
Diese Klimatheorien sind natürlich wunderbar. Ich glaube zum Teil selber dran, ehrlich gesagt, nämlich dass an Orten, an denen es einfach unerträglich heiß ist, - nicht unerträglich heiß, da, wo es sehr heiß ist, - da blüht es und gedeiht es sozusagen von selbst. Es wächst einem alles in den Mund. Man muss nicht mühsam der Erde die Fruchtfolgen abringen. Und andererseits ist es einfach so heiß, dass man nur noch den Schatten sucht und nichts mehr macht. Ich hatte mal so eine ähnliche Theorie und fand sie hier noch viel wunderbarer ausgestaltet bei Ihnen im Buch. Es wandern natürlich dann die Zentren der Zivilisation weiter nach Norden in dem Moment, wo man diese Natur ein bisschen bändigen kann, wo man heizen kann, besser bauen kann. Während der Süden, der wirklich harte Süden, einfach der Ort der Trägheit ist. Eine ganz wunderbare Vorstellung, die ich vorher nicht kannte, auch schon der Portugiesen war ja: Wenn man nach Afrika fährt und mit dem Schiff versucht, Afrika zu umrunden, kommt man irgendwann nicht weiter – einerseits, weil es so heiß ist, dass da alles kocht, und andererseits, weil da ein zähes "Lebermeer" ist, in dem man einfach stecken bleibt.
Albath: Nun war die Reise in Richtung Süden auch so was wie eine Metapher für ein besseres Leben. Dann ist es ganz selbstverständlich, dass es auch zu Enttäuschungen kam. Sie erzählen, Dieter Richter, von einem Reiseband eines gewissen Gustav Nicolai im 19. Jahrhundert, 1835 erschienen. War das so eine Art der Desillusionierung, die da passierte? Was steht in diesem Buch?
Richter: Also, dieses Reisebuch von Gustav Nicolai, 1834 erschienen, trägt den wunderbaren Titel: "Italien, wie es wirklich ist. Eine Warnungsstimme für alle, die sich dahin sehnen". Und ich suche schon seit langer Zeit einen Verleger, der mutig genug ist, dieses Anti-Italienbuch mal wieder neu herauszubringen. Denn wo viel geschwärmt wird, wird auch viel gestänkert. Und Gustav Nicolai wollte dieser ganzen Italienschwärmerei etwas entgegensetzen. Er sagt, die Deutschen sind einfach verführt durch Goethes "Italienische Reise", durch Eichendorff, durch Tieck, durch die ganze romantische Literatur. Und "Italien selber ist scheußlich". Er macht eine Reise, die führt ihn auf der klassischen Route der Grand Tour tatsächlich bis Neapel. Und überall, wo er hinkommt: Man isst nur Kartoffeln, es gibt keine Palmen, es gibt überall betrügerische Herbergswirte und Läuse und Flöhe. Und wenn er gar nix mehr auszusetzen findet, dann ist das Wetter schlecht.
Dieses Buch ist deswegen interessant: Sie haben am Anfang gesagt, wir schwärmen alle vom Süden, und Sie haben Siegmund Freud zitiert. Ich sehe es ein bisschen anders. Wir haben, was Italien betrifft, ein sehr ambivalentes Verhältnis zu diesem Land. Und Siegmund Freud hat zwar davon gesprochen, dass es ihn nach Süden zieht, nach Italien zieht, aber wenn Sie seine Postkarten lesen, die er aus Neapel geschrieben hat, da stehen so Sachen drin: "Es ist wunderbar, aber hier geht es zu wie in einem Affenkäfig. Die Neapolitaner sind wie Afrikaner, wie Wilde". Er lässt kein Vorurteil aus. Und dann hält er es nicht mehr aus. Und wohin zieht er sich zurück? – Nach Pompeji und nach Sorrent. Da kann er, der große archäologische Dilettant, die Ausgrabungen genießen. Da kann er glücklich sein.
Das ist sehr typisch, dieses Auseinandernehmen unserer Bilder und unserer Ideen vom Süden, wie wir sie auch heute noch finden. Und dieses Auseinandernehmen kann sich einmal entweder im Kopf vollziehen, so wie ich es gerade bei Freud gesagt habe, oder es kann tatsächlich topografisch passieren. Da ist auf der einen Seite das gute, das schöne Italien, das ist die Toskana. Und dann gibt es natürlich das Neapel von Roberto Saviano, dessen Buch nicht umsonst in Deutschland mehr Erfolg hat als in Italien, das müssen Sie sich mal vorstellen, weil es wiederum das bestätigt, was wir an Vorurteilen, Klischees, falschen und vielleicht nicht nur ganz falschen Bildern im Kopf haben – also, eine ambivalente, eine durchaus gespaltene Vorstellung. So ist das.
Albath: Und Freud hat, muss man dazu sagen, auch sehr entzückte Postkarten aus Rom und aus der Toskana geschrieben. Das war dann wieder das gute Italien. Es gibt ja so bestimmte Zuschreibungen, die Italien in dieser Zeit im 18. und im 19. Jahrhundert erfährt. Da ist eine zum Beispiel, dass es dort eine "Weiber-Galanterie" gäbe. Auf welche Klischees und Vorstellungen stößt man denn noch in diesem Band von Dieter Richter, Wolfgang Hörner?
Hörner: Das ist so eine Vorstellung, die allerdings früher auch schon immer mit dem Süden verbunden war, wie man ja in dem Buch lernen kann, wo man dann auch nach Afrika ging und eben auch – je weiter man nach Süden kommt, desto freizügiger wird es anscheinend – im 18. Jahrhundert dann mit Cook zum Beispiel in die Südsee, auf die Südseeinseln. Und auch da wird ein El Dorado geschildert an freizügigen Damen. Einer der Matrosen Cooks stürzt sich tatsächlich vom Boot und schwimmt zurück. Er will nicht mehr in den Norden.
Albath: Es gibt auch einen Priester, der dann eine Nacht mit einer Tahitianerin, glaube ich, verbringt, nachdem er versucht hat, sich über Tugenden und über den Sinn von Monogamie und solchen Dingen auseinanderzusetzen. Und dann streckt auch er die Waffen.
Hörner: Da muss man allerdings mal wieder einen ganz kurzen Schlenker zu Galiani machen, der zwar ja Abbé Galiani zu Recht genannt wird, weil er zeitlebens davon lebte, dass er Pfründegelder bekam. Deshalb durfte er nicht heiraten. Aber Galiani war auch hier vollkommen anders, sehr freizügig – mehrere Kinder verteilt über Paris, deren er sich nicht schämt. Also, es war nicht nur so, dass man im Norden keusch und protestantisch war, aber da ist die Idee, im Süden ist alles noch viel freizügiger.
Albath: Sie deuten ja am Ende Ihres Buches auch an, Dieter Richter, dass sich möglicherweise jetzt die Dinge verschieben könnten, also, aus Gründen, die auf der Hand liegen, wirtschaftlichen zum Teil, aber auch aus den Klimakatastrophen, die sich jetzt für die südliche Halbkugel andeuten. Könnte es sein, dass auch der Norden zu einem Sehnsuchtsraum wird? Oder ist er das schon längst?
Richter: Der Norden ist längst zu einem Sehnsuchtsraum geworden, und zwar für die Menschen, die im Süden leben. Das haben wir einmal auf der globalen Achse zwischen Afrika und Europa. Wir träumen vom Süden, vom sonnigen Süden. Und diejenigen, die in Afrika in diesem sogenannten sonnigen Süden leben, die wollen in den Norden. Es wollten noch nie so viele Menschen das Mittelmeer in süd-nördlicher Richtung passieren. Inzwischen werden sie leider alle abgefangen durch Berlusconis Polizeiboote. Und wöchentlich oder monatlich ertrinken Menschen dort. Die gleiche Situation haben wir an der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze, innerhalb Italiens natürlich auch. Es gibt eine hundert Jahre alte Emigrationsbewegung aus Süditalien, aus Kalabrien – einerseits nach Norditalien oder dann nach Europa.
Das ist ja das Verrückte. Wir träumen vom Süden, aber umgekehrt gibt es den ähnlichen Traum von Menschen, die in die reichen Länder wollen. Denn Nord-Süd-Achse ist ja heute vor allem im Ökonomischen gesehen eine Achse, die sich zwischen reichen, entwickelten Ländern im Norden und armen, verhungernden Länder im Süden auftut.
Albath: Welches war Ihnen, Wolfgang Hörner, denn das sympathischere Bild vom Süden? Das des dekadenten Südens, der so seine Schattenseiten hat, oder doch dieser Sehnsuchtstraum, in den wir uns ja alle als Deutsche einreihen?
Hörner: Ich halte es ein bisschen mit Galiani und finde, die Gesamtheit dessen ist das wirklich Interessante. Von ihm kommt dieser wunderbare Satz, er sei ja "gleichzeitig ein großer Philosoph und ein schmutziger Witz". Da seien "zwei verschiedene Seelen in ihm zusammengeknetet, obwohl sie insgesamt nicht mal den Raum eines Ganzen ausfüllten". Ich finde, genau dieses Verständnis sollte man auch auf so was anwenden. Das Spannende ist natürlich auch, man geht da hin – nach Neapel, sagen wir mal, oder gar nach Afrika – und hat natürlich auch ein Gefühl der Bedrohung im Hintergrund, weil da was vollkommen Unbekanntes ist. Das gehört genauso dazu, wie das schöne gute Wetter, das gute Essen und der Wein.
Albath: Und außerdem stärkt die Begegnung mit dem Süden unsere Erkenntniskraft für den Norden, denke ich.
Wir sprachen über das neue Buch von Dieter Richter. "Der Süden" heißt es, "Geschichte einer Himmelsrichtung", erschienen im Wagenbach Verlag. Und jetzt haben wir zum Ende unserer Sendung noch Zeit für Buchempfehlungen unserer beiden Gäste. Dieter Richter, was möchten Sie empfehlen?
Richter: Ich kann nur das empfehlen, was ich selber gelesen beziehungsweise in der Hand hatte. Das ist einmal ein wunderbarer Roman von Urs Widmer. "Herr Adamson" heißt er. Den habe ich gerade mit großer Begeisterung gelesen. Ich sage nur ein Stichwort: Ein kleiner Junge schließt Freundschaft mit einem Toten. Mehr will ich dazu nicht sagen.
Die zweite Buchempfehlung aus dem Mare Verlag. Das kann man eigentlich nicht richtig lesen, sondern nur durchblättern. Das heißt "Atlas der abgelegenen Inseln", und der Untertitel: "50 Inseln, die ich nie betreten habe und nie betreten werde", von Judith Schalansky, ein vollkommen verrücktes Buch, was aber auch zeigt, dass unsere Erde so entdeckt noch gar nicht ist, wie wir uns das immer einbilden. Es ist tatsächlich ein Atlas mit genauen Verzeichnungen und Beschreibungen von 50 abgelegenen Inseln. Das sind meine beiden Empfehlungen.
Albath: Das erste Buch, das von Dieter Richter empfohlen wurde, ist im Diogenes Verlag erschienen. Und Wolfgang Hörner, was hat Sie gerade beschäftigt? Welchem Buch wünschen Sie viele Leser?
Hörner: Ich muss wirklich sagen: Gerade während dieser Sendung fiel mir ein, dass ich jetzt doch ein Buch empfehlen muss, das schon ein bisschen älter ist, nämlich Olaus Magnus: "Die Wunder des Nordens". Das ist ein Mensch, ein Katholik, der durch die Reformation aus Stockholm, Uppsala, vertrieben worden ist und in Italien, in Rom sein Leben fristen musste. Und sozusagen so, wie Galiani von Neapel aus den Sehnsuchtsraum Paris beschreibt, macht er eine riesige Enzyklopädie des Nordens. Die ist im Eichborn Verlag mal in Auszügen und zart von Reinhard Kaiser, der das ja so wunderbar kann, in ein verständlicheres Deutsch gebracht worden. Und der beschreibt tatsächlich, wie Skandinavien funktioniert, ein damals vollkommen unbekannter Raum für die Menschen.
Albath: Also, über fremde Kontinente im Süden und im Norden und über die Fantasien, die das auslöst, haben wir diskutiert. Zu Gast waren Dieter Richter und Wolfgang Hörner. Vielen Dank.
Zwei Gäste sind dazu ins Studio gekommen: der Bremer Professor für kritische Literaturgeschichte Dieter Richter. Er hat gerade ein neues Buch vorgelegt mit dem Titel "Der Süden. Geschichte einer Himmelsrichtung". Guten Tag, Herr Richter.
Dieter Richter: Ja, schönen guten Tag.
Albath: Mit dabei ist außerdem der Verleger Wolfgang Hörner. Er hat vor wenigen Monaten den Galiani-Verlag gegründet, der nach dem Philosophen Ferdinando Galiani benannt ist. Und er hat außerdem einen Band mit Briefen und Lästereien Galianis herausgegeben. "Nachrichten vom Vesuv" heißt das Buch. Guten Tag, Herr Hörner.
Wolfgang Hörner: Guten Tag.
Albath: Herr Hörner, wie sind Sie denn auf diesen Ferdinando Galiani gestoßen?
Hörner: Ich muss gestehen, dass es bei der Namenswahl vorher auch andere Überlegungen gab, die aber alle ausgeschieden waren. Wir wollten so ein bisschen einen literarischen oder geisteswissenschaftlichen Helden zum Namenspatron nehmen und haben uns vorgestellt, wie die Leute im Buchladen stehen und nach "Mon-teig-ne" fragen oder nach "Di-de-rott". Und wir dachten, das geht alles gar nicht. Oder nach "Ster-ne". Dann fiel mir ein, dass ich eben Galiani sehr liebe und ihn für einen wunderbaren Denker und auch Dichter halte, meinte aber, den kennt nun doch keiner, worauf meine Partnerin Esther Kormann im Verlag meinte: "Macht nichts, der Name ist so toll, den müssen wir nehmen".
Albath: Und auf diese Weise lernen ihn jetzt viele Leser kennen. Was sind denn das überhaupt für Texte? Und was für ein Denker ist Galiani, Dieter Richter?
Richter: Galiani ist eine sehr vielschichtige Person. Er ist auf der einen Seite Philosoph. Er ist Briefeschreiber. Er ist von Haus aus das, was wir heute einen Nationalökonomen nennen würden. Heute würde man von einem Wirtschaftswissenschaftler sprechen. Er hat zum Beispiel ein Buch über den Kornhandel geschrieben. Und er hat auch etwas über den Ausbruch des Vesuv geschrieben, was mich natürlich besonders interessiert, weil ich den Vesuv sehr liebe, und eine ganze Reihe von anderen Schriften noch – ein Universalgelehrter, ein Typ von Mensch also, der für das 18. Jahrhundert nicht ganz untypisch gewesen ist, obwohl in einer sehr eigentümlichen, besonders intelligenten Zuspitzung.
Albath: Stellt denn Galiani unser Bild vom 18. Jahrhundert auch ein bisschen auf den Kopf? Ich war verblüfft, wie einfallsreich er ist und vor allem wie respektlos. Er ist ja ein Lästermaul ohnegleichen. Das kann man aus den Briefen besonders gut ablesen. Wolfgang Hörner, was zeichnet ihn aus, in Ihren Augen?
Hörner: Na, ich glaube nicht, dass er das Bild auf den Kopf stellt. Ich finde, er ist eine wunderbare Verkörperung dessen, was für mich die schönsten der Geister des 18. Jahrhunderts sind. Er ist eben einer, der wirklich sehr respektlos denkt und schreibt, aber nicht nur respektlos, sondern dabei gleichzeitig tief. Er ist so einer, der immer die Sache quer andenkt. Da gab es ja auch andere, eben Lichtenberg meinetwegen oder Laurence Sterne. Er war uns deshalb so lieb, weil er eben so vielseitig ist, aber auch dass, "wie" er schreibt, immer genauso wichtig ist wie das "Was". Also, er ist ein glänzender Stilist. Er hat wunderbare Einfälle und er ist von einer Originalität, die selten ist.
Zudem, finde ich, kann man so ein bisschen zu Recht sagen, er ist so die 18.-Jahrhundert-Variante Montaignes. Er nimmt sich nicht aus von seinen Überlegungen. Er war ein Gnom. Er war ziemlich klein. Man spottete immer über ihn. Und er ist dann frei genug zu sagen: "All das gehört auch zu mir, auch dass ich klein bin" – er war, glaube ich, auch ganz schön eitel -, "auch dass ich eitel bin. Auch die schlechten Seiten gehören zu mir". Und er treibt sein Spiel nicht nur mit Anderen, auch mit sich selbst. Das fand ich eine sehr schöne Haltung.
Albath: Es gibt auch etliche Äußerungen zu seinen fehlenden Zähnen. Darüber lästert er ja auch immer. Also, er nimmt sich nicht aus. Er war ja in Paris zwischen 1759 und 1769, Dieter Richter, und musste dann nach Neapel zurückkehren. Und dann sagt er über Neapel: "Man hat mich in die Bastille gesteckt." Also, dort fühlte er sich gefangen. Was steckt da dahinter?
Richter: Er ist nach Paris geschickt worden als Legationssekretär. Wir sind ja in einer Zeit, in der das Königreich Neapel ein eigenes selbstständiges Königreich ist und deswegen eine diplomatische Vertretung in Paris hat. Und Galiani wird Botschaftssekretär in Paris. Das ist für ihn die Erfüllung des Lebensglücks. Das, was Sie vorhin vom Süden gesagt haben, wohin die Sehnsucht zeige, war bei Galiani genau umgekehrt. Seine Kompassnadel der Sehnsucht zeigte nach Norden. Er wollte nach Paris. In Paris blüht er auf. Er genießt das Leben. Er ist im beständigen Kontakt. Er muss ja auch wöchentlich Briefe, also diplomatische Rapporte abgeben. Er beschäftigt sich mit den Ausgrabungen von Pompeji und Herculaneum noch von Paris aus, schreibt seinem Minister: "Wann erscheinen endlich die Fundberichte, hier wollen alle Leute Ausgrabungsergebnisse von Pompeji und Herculaneum sehen?". Also, er ist in seinem Metier. Er blüht dort auf und dann wird er nach einigen Jahren abberufen wegen einer, wie ich aus dem Buch von Herrn Hörner gelernt habe, wohl unklaren Angelegenheit, die auch in diesem Buch nicht näher ausgeführt wird. Wahrscheinlich verhüllt sie sich noch immer ein bisschen im Dunkeln.
Hörner: Eine diplomatische Panne. Er hatte da was ausgeplaudert, was er als Diplomat nicht hätte ausplaudern dürfen. Die Zusammenhänge sind sehr verwickelt. Und dann musste eben sein Arbeitgeber mehr oder weniger entscheiden, halte ich jetzt meinen Kopf dafür hin oder muss es der machen, der es gemacht hat? Und das war dann so. Galiani musste innerhalb von vier Tagen, also wirklich blitzartig, Paris verlassen, wurde dann allerdings in Neapel dafür mit Posten bedacht, mit Geldern bedacht. Also, man hat's ihm leicht gemacht. Aber trotzdem hat er gelitten, schrecklich darunter gelitten.
Albath: Das geht auch aus allen seinen Briefen hervor. Dieter Richter, Sie sind ja ein großer Spezialist für Neapel. Ich dachte immer, dass Neapel in dieser Zeit eine wirklich europäische Metropole gewesen sei. Wieso leidet Galiani dann so sehr darunter, dorthin wieder zurückkehren zu müssen?
Richter: Das ist schon richtig, Neapel ist die drittgrößte Stadt Europas im 18. Jahrhundert – neben London und Paris. Als dann Galiani nach Neapel zurückgerufen wird, sind wir in einer politischen Umbruchszeit. Es kommt Ferdinand IV. – das ist der noch jugendliche und ziemlich bescheuerte Sohn von Karl III. – an die Regierung, ein ausgesprochen unfähiger Regent. Da ist also dann gegen Ende des 18. Jahrhunderts natürlich ein riesiger Unterschied. Da entwickelt sich Paris zur revolutionären Stadt hin und in Neapel ist es genau das Gegenteil. 1799: Die Parthenopäische Republik, die unter dem Einfluss der Franzosen zustande kommt, wird von eben diesem König Ferdinand im Blut erstickt. Hunderte von Aristokraten, Bürgern, sozusagen die gesamte Intelligenz der Stadt wird ausgelöscht.
Albath: Was erfahren wir denn aus diesen Briefen über Neapel und Galianis Situation in der Zeit? Was wird deutlich von seinem Geist?
Hörner: Ich befürchte mal, über Neapel erfahren wir gar nicht so schrecklich viel. Er jammert drüber. Er stellt das dar, als sei es das hinterletzte Provinznest, was es ganz bestimmt nicht war. Aber er macht das natürlich, um seinem Schmerz über den Verlust von Paris Ausdruck zu verleihen. Und da ist es ja auch nicht so, dass er nach Paris kam und das sofort wunderbar fand. Er fand den Hof auch öde und langweilig. Er kam da eben mit den Enzyklopädisten in Berührung. Das war es, was in ihm diese Explosion ausgelöst hat, die Gespräche, die er hatte über Gott und die Welt, wirklich. Und solche Gespräche führt er in diesen Briefen. Es geht um alles Mögliche. Es geht um Gott. Es geht um die Welt. Es geht um Amerika. Es geht um Ökonomie. Es geht um seine ausfallenden Zähne und das Verhältnis zum eigenen Körper. Es geht um Katzen und das Verhältnis zu Tieren. Er springt in den Briefen wahnsinnig schnell hin und her, hat aber eben diese – ich glaube – wirklich seltene Gabe, ganze Weltprobleme auf einer halben Seite in einer sehr originellen Art und Weise zusammenzufassen und ihnen noch einen eigenen Dreh zu geben. Man findet also, würde ich mal sagen, in diesen Briefen eigentlich die gesamte Welt und alles das, was damals die Leute bewegte und was uns heute zum Teil auch noch bewegt. – Wie geht man mit großen Krisen um? Wie geht man mit Finanzkrisen um? – ein großes Thema dort eben in Frankreich und heute auch wieder. Sie finden dort also zu allem was.
Albath: Also, ein sehr lebendiges Zeitpanorama. Noch ein Wort zu den stilistischen Eigenarten, Dieter Richter.
Richter: Zu den stilistischen Eigenarten? Ich glaube, er ist vor allem ein Briefeschreiber. Und sein Stil ist kommunikativ. Das ist ja auch typisch für das 18. Jahrhundert, was wir heute in der wissenschaftlichen Prosa überhaupt nicht mehr kennen würden, dass einer ein wissenschaftliches Werk schreibt und er tut es in Gesprächsform. Er hat im Grunde auch in seiner Art des Schreibens ein Gegenüber vor sich, an das er sich wendet, mit dem er diskutiert. Das ist eigentlich das, was man Esprit oder Feinsinn oder geistreich nennen könnte, was ja nicht nur einfach stilistische Formeln sind, sondern was auch voraussetzt, da ist jemand, mit dem mache ich einen Schlagabtausch. Es ist häufig wirklich ein Schlagabtausch. Er nimmt die Argumente auf. Er gibt sie zurück. Es ist ein Pingpong-Spiel. Wenn Sie jetzt unsere Wissenschaft nehmen, die meisten wissenschaftlichen Veröffentlichungen sind ja öde und langweilig, weil sie trocken sind, weil man sich damit vor der wissenschaftlichen Welt qualifizieren muss. Hier haben wir noch einen Autor, der mit einem Gegenüber diskutiert, debattiert. Und das geht in seinen Stil ein, speziell in diese Form der Dialoge, in denen er auch seine wissenschaftlichen Werke schreibt.
Albath: Also, ein sehr lebendiges Erzählen von großen Problemen. Wie stand es mit dieser Ansicht, die er zu den nationalökonomischen Problemen vertreten hat? Kann man da ein Wort drüber verlieren, Wolfgang Hörner? Sie haben es ja in Auszügen in Ihrem Band auch enthalten. Was hat er da für eine Einschätzung?
Hörner: Er ist kein Mann der Systematik. Er ist ein sehr kluger, analytischer, scharfsinniger Denker, aber er sagt: "Jedes System, das von Menschen erdacht wird, steht immer im historischen und in einem gesellschaftlichen Zusammenhang. Auch alle finanziellen Dinge stehen in so einem Zusammenhang, weshalb es vollkommen unsinnig ist, an einem System des Systems wegen festzuhalten". Es heißt mal irgendwo: "Wasser ist für den Verdurstenden in der Wüste lebenswichtig. Aber für den, der sich an der Schiffsplanke festklammert, todbringend." Galiani ist auch ein großer Meister des Bonmots, muss man wirklich sagen. Es gibt Sätze bei ihm: "Der Mensch ist ein absurdes Tier" ist so ein Satz von ihm, wo natürlich auch ein ganzes Weltbild aufscheint.
Aber ihm war eben wichtig, dass man Situationen immer ganz situativ anguckt und bewertet. Und er sagt, es ist natürlich alles auch sehr davon abhängig, wie Leute reagieren auf gewisse Dinge. Er hat sozusagen so eine Art von Angebot- und Nachfragegesetz schon gefunden und entwickelt. Und er hat immer eine große psychologische Komponente drin.
Albath: Und seine Schriften waren sehr folgenreich. Sie wurden in ganz Europa gelesen und haben für Aufmerksamkeit, für große Aufregung gesorgt. Es gibt so ein Bonmot von ihm, das möchte ich noch zitieren: "Die Welt ist ein Bratspieß. Wir glauben ihn zu drehen, aber er dreht uns." Das bringt Galiani, glaube ich, gut auf den Punkt.
Wir sprachen über Ferdinando Galiani: "Nachrichten vom Vesuv", erschienen im Galiani-Verlag Berlin. Galiani stammt aus dem Süden und Himmelsrichtungen sind kulturgeschichtlich besetzte Sphären. Das steht im Mittelpunkt des neuen Buches von Dieter Richter. Der Süden war aber, habe ich aus Ihrem Buch gelernt, nicht immer ein Ort der Verheißung. Wie ist es dann dazu gekommen, dass er so ein Versprechen wurde?
Richter: Absolut nicht, der Süden ist vor allem im Mittelalter der dunkle, der unbekannte Süden gewesen. Schwarz war die Farbe des Bösen, des Teufels. Und nach mittelalterlicher sowohl Geografie als auch Theologie besteht die Erde aus drei großen Landmassen: Europa, Asien und Afrika. Und nach der Bibel, die Sintflut hat ja alle Menschen vernichtet, woher kommen also die neuen Bewohner? Sie kommen alle von den drei Söhnen Noahs. Und da gibt es zwei wohlgeratene, zwei gute Söhne, und einen bösen Schlingel. Er hat nämlich seinen Vater mal nackt gesehen, als er betrunken im Zelt gelegen hat. Und daraufhin hat Noah diesen Herrn Ham verflucht. Und die Hamiten, also die Nachkommen dieses Ham, leben im Süden. Und der Süden gilt als die böse – nicht der Süden, aber Afrika gilt als das Land mit einer fluchbeladenen Bevölkerung. Das ist die früheste und die am nachhaltigsten wirkende Vorurteilsbildung gegenüber Afrika und gegenüber dem Süden. Also, da ist noch nicht "black is beautiful", sondern Schwarz ist die Farbe des Teufels und die Afrikaner sehen im Übrigen auch aus wie die Teufel. Das steht in vielen, vielen mittelalterlichen Quellen.
Albath: Aber es hat sich ja dann sehr verändert. Der Süden wurde ein Sehnsuchtsraum, auch ein Ort von Utopien. Was passierte da, Wolfgang Hörner?
Hörner: Ich glaube, was mich an diesem Buch fasziniert hat, war ja auch, dass es offensichtlich so eine Art Ost-Süd-Verschiebung gab – das wusste ich vorher nicht – der Paradiesvorstellungen, was sicherlich damit zu tun hatte, dass die Zentren des Lebens weiter in den Norden rückten. Es gab dann vielerlei Arten von Theorien, etwa Klimatheorien, die sagten, im Norden ist es immer kalt, da kann sich nichts entwickeln. Im Süden, da blüht das Leben. Da kamen eine ganze Reihe von Vorstellungen, glaube ich, zusammen, die dazu geführt haben, dass der Süden plötzlich im Mittelpunkt stand. Und ganz wichtig ist, – und das fand ich bei Ihrem Buch wunderschön – dass die großen Pilgerwege natürlich dann alle entweder nach Jerusalem gingen oder nach Santiago, also auch wieder in den Süden. Denn die, die pilgerten, kamen ja nicht aus Süditalien zum Großteil, sondern zum Großteil aus England, aus Frankreich, aus Deutschland. Und plötzlich bekam der Süden diesen Ruch des Heils-Orts.
Albath: Ja, das war ja dann auch Rom, ein Pilgerort, an dem sich schon sehr früh so etwas wie touristische Strukturen herausbildeten. Dieter Richter, was passierte da?
Richter: Es ist tatsächlich so, dass die Pilgerreisen so eine Art von touristischer Infrastruktur erfordert haben, vor allem, wenn wir Rom nehmen in den Heiligen Jahren. 1350 ist das erste Heilige Jahr gewesen. Zehntausende von Pilgern überqueren die Alpen, müssen in Rom verköstigt werden. Man muss Unterkunft für sie finden. Da bildet sich eine Logistik heraus, wie wir sie später im Tourismus mit den Großereignissen finden.
Es bildet sich aber noch mehr heraus. Darum geht es auch in meinem Buch. Es bildet sich diese Orientierung hin zum Süden heraus. Warum diese Orientierung nach Italien? Warum beispielsweise nicht nach Spanien? Warum nicht nach Griechenland? Das hat zum einen mit dem Pilgerweg nach Rom zu tun. Und zum anderen hat's mit dem zu tun, was man Grand Tour nennt, also diese Reisebewegung von Aristokraten, adeligen Bürgern. Da gibt es eine feste Route. Die führt von London aus, geht dann durch Mitteleuropa und geht dann über die Schweiz nach Italien. Und Rom beziehungsweise Neapel ist das letzte Ziel dieser Grand Tour, einer Art von weltlicher Pilgerreise, kann man sagen. Und von daher diese starke Orientierung auf Italien, als das klassische Land des Südens.
Albath: Dieter Richter erzählt ja auch von den Wirkungen, die der Süden gehabt hat, oder den Vermutungen, die man annahm, dass dieser Süden wirken könnte auf die Leute, die sich dort länger aufhielten. Es gibt eine Geschichte über die Soldaten von Hannibal, die dann plötzlich unter der südlichen Sonne erschlaffen. Was erfahren wir denn noch aus dem Befund Dieter Richters über die Mentalitäten, Wolfgang Hörner?
Hörner: Vielleicht noch eine Anmerkung zu gerade eben. Ich glaube, dass natürlich auch ein ganz wichtiger Punkt ist, warum der Süden der Sehnsuchtsort wurde. Das kommt bei Ihnen vor, vielleicht nicht ganz so stark, dass man natürlich in Europa die eigenen Wurzeln wiederentdeckt, nämlich eben die Römer und die Griechen, die ja lange Zeit verschüttet waren. Dann entdeckt man das wieder. Und so ist, glaube ich, der Süden auch der historische und der geistige Sehnsuchtsort, nach dem man sich dann wieder orientiert. Und vielleicht kommt daher dann auch, dass erst spät Griechenland, nachdem es versucht, von den Türken frei zu werden, ja plötzlich auch Griechenland ein großer Sehnsuchtsort wird, während vorher das besetztes Gebiet war. Da konnte man gar nicht richtig hin. Vielleicht hat also auch das etwas damit zu tun.
Diese Klimatheorien sind natürlich wunderbar. Ich glaube zum Teil selber dran, ehrlich gesagt, nämlich dass an Orten, an denen es einfach unerträglich heiß ist, - nicht unerträglich heiß, da, wo es sehr heiß ist, - da blüht es und gedeiht es sozusagen von selbst. Es wächst einem alles in den Mund. Man muss nicht mühsam der Erde die Fruchtfolgen abringen. Und andererseits ist es einfach so heiß, dass man nur noch den Schatten sucht und nichts mehr macht. Ich hatte mal so eine ähnliche Theorie und fand sie hier noch viel wunderbarer ausgestaltet bei Ihnen im Buch. Es wandern natürlich dann die Zentren der Zivilisation weiter nach Norden in dem Moment, wo man diese Natur ein bisschen bändigen kann, wo man heizen kann, besser bauen kann. Während der Süden, der wirklich harte Süden, einfach der Ort der Trägheit ist. Eine ganz wunderbare Vorstellung, die ich vorher nicht kannte, auch schon der Portugiesen war ja: Wenn man nach Afrika fährt und mit dem Schiff versucht, Afrika zu umrunden, kommt man irgendwann nicht weiter – einerseits, weil es so heiß ist, dass da alles kocht, und andererseits, weil da ein zähes "Lebermeer" ist, in dem man einfach stecken bleibt.
Albath: Nun war die Reise in Richtung Süden auch so was wie eine Metapher für ein besseres Leben. Dann ist es ganz selbstverständlich, dass es auch zu Enttäuschungen kam. Sie erzählen, Dieter Richter, von einem Reiseband eines gewissen Gustav Nicolai im 19. Jahrhundert, 1835 erschienen. War das so eine Art der Desillusionierung, die da passierte? Was steht in diesem Buch?
Richter: Also, dieses Reisebuch von Gustav Nicolai, 1834 erschienen, trägt den wunderbaren Titel: "Italien, wie es wirklich ist. Eine Warnungsstimme für alle, die sich dahin sehnen". Und ich suche schon seit langer Zeit einen Verleger, der mutig genug ist, dieses Anti-Italienbuch mal wieder neu herauszubringen. Denn wo viel geschwärmt wird, wird auch viel gestänkert. Und Gustav Nicolai wollte dieser ganzen Italienschwärmerei etwas entgegensetzen. Er sagt, die Deutschen sind einfach verführt durch Goethes "Italienische Reise", durch Eichendorff, durch Tieck, durch die ganze romantische Literatur. Und "Italien selber ist scheußlich". Er macht eine Reise, die führt ihn auf der klassischen Route der Grand Tour tatsächlich bis Neapel. Und überall, wo er hinkommt: Man isst nur Kartoffeln, es gibt keine Palmen, es gibt überall betrügerische Herbergswirte und Läuse und Flöhe. Und wenn er gar nix mehr auszusetzen findet, dann ist das Wetter schlecht.
Dieses Buch ist deswegen interessant: Sie haben am Anfang gesagt, wir schwärmen alle vom Süden, und Sie haben Siegmund Freud zitiert. Ich sehe es ein bisschen anders. Wir haben, was Italien betrifft, ein sehr ambivalentes Verhältnis zu diesem Land. Und Siegmund Freud hat zwar davon gesprochen, dass es ihn nach Süden zieht, nach Italien zieht, aber wenn Sie seine Postkarten lesen, die er aus Neapel geschrieben hat, da stehen so Sachen drin: "Es ist wunderbar, aber hier geht es zu wie in einem Affenkäfig. Die Neapolitaner sind wie Afrikaner, wie Wilde". Er lässt kein Vorurteil aus. Und dann hält er es nicht mehr aus. Und wohin zieht er sich zurück? – Nach Pompeji und nach Sorrent. Da kann er, der große archäologische Dilettant, die Ausgrabungen genießen. Da kann er glücklich sein.
Das ist sehr typisch, dieses Auseinandernehmen unserer Bilder und unserer Ideen vom Süden, wie wir sie auch heute noch finden. Und dieses Auseinandernehmen kann sich einmal entweder im Kopf vollziehen, so wie ich es gerade bei Freud gesagt habe, oder es kann tatsächlich topografisch passieren. Da ist auf der einen Seite das gute, das schöne Italien, das ist die Toskana. Und dann gibt es natürlich das Neapel von Roberto Saviano, dessen Buch nicht umsonst in Deutschland mehr Erfolg hat als in Italien, das müssen Sie sich mal vorstellen, weil es wiederum das bestätigt, was wir an Vorurteilen, Klischees, falschen und vielleicht nicht nur ganz falschen Bildern im Kopf haben – also, eine ambivalente, eine durchaus gespaltene Vorstellung. So ist das.
Albath: Und Freud hat, muss man dazu sagen, auch sehr entzückte Postkarten aus Rom und aus der Toskana geschrieben. Das war dann wieder das gute Italien. Es gibt ja so bestimmte Zuschreibungen, die Italien in dieser Zeit im 18. und im 19. Jahrhundert erfährt. Da ist eine zum Beispiel, dass es dort eine "Weiber-Galanterie" gäbe. Auf welche Klischees und Vorstellungen stößt man denn noch in diesem Band von Dieter Richter, Wolfgang Hörner?
Hörner: Das ist so eine Vorstellung, die allerdings früher auch schon immer mit dem Süden verbunden war, wie man ja in dem Buch lernen kann, wo man dann auch nach Afrika ging und eben auch – je weiter man nach Süden kommt, desto freizügiger wird es anscheinend – im 18. Jahrhundert dann mit Cook zum Beispiel in die Südsee, auf die Südseeinseln. Und auch da wird ein El Dorado geschildert an freizügigen Damen. Einer der Matrosen Cooks stürzt sich tatsächlich vom Boot und schwimmt zurück. Er will nicht mehr in den Norden.
Albath: Es gibt auch einen Priester, der dann eine Nacht mit einer Tahitianerin, glaube ich, verbringt, nachdem er versucht hat, sich über Tugenden und über den Sinn von Monogamie und solchen Dingen auseinanderzusetzen. Und dann streckt auch er die Waffen.
Hörner: Da muss man allerdings mal wieder einen ganz kurzen Schlenker zu Galiani machen, der zwar ja Abbé Galiani zu Recht genannt wird, weil er zeitlebens davon lebte, dass er Pfründegelder bekam. Deshalb durfte er nicht heiraten. Aber Galiani war auch hier vollkommen anders, sehr freizügig – mehrere Kinder verteilt über Paris, deren er sich nicht schämt. Also, es war nicht nur so, dass man im Norden keusch und protestantisch war, aber da ist die Idee, im Süden ist alles noch viel freizügiger.
Albath: Sie deuten ja am Ende Ihres Buches auch an, Dieter Richter, dass sich möglicherweise jetzt die Dinge verschieben könnten, also, aus Gründen, die auf der Hand liegen, wirtschaftlichen zum Teil, aber auch aus den Klimakatastrophen, die sich jetzt für die südliche Halbkugel andeuten. Könnte es sein, dass auch der Norden zu einem Sehnsuchtsraum wird? Oder ist er das schon längst?
Richter: Der Norden ist längst zu einem Sehnsuchtsraum geworden, und zwar für die Menschen, die im Süden leben. Das haben wir einmal auf der globalen Achse zwischen Afrika und Europa. Wir träumen vom Süden, vom sonnigen Süden. Und diejenigen, die in Afrika in diesem sogenannten sonnigen Süden leben, die wollen in den Norden. Es wollten noch nie so viele Menschen das Mittelmeer in süd-nördlicher Richtung passieren. Inzwischen werden sie leider alle abgefangen durch Berlusconis Polizeiboote. Und wöchentlich oder monatlich ertrinken Menschen dort. Die gleiche Situation haben wir an der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze, innerhalb Italiens natürlich auch. Es gibt eine hundert Jahre alte Emigrationsbewegung aus Süditalien, aus Kalabrien – einerseits nach Norditalien oder dann nach Europa.
Das ist ja das Verrückte. Wir träumen vom Süden, aber umgekehrt gibt es den ähnlichen Traum von Menschen, die in die reichen Länder wollen. Denn Nord-Süd-Achse ist ja heute vor allem im Ökonomischen gesehen eine Achse, die sich zwischen reichen, entwickelten Ländern im Norden und armen, verhungernden Länder im Süden auftut.
Albath: Welches war Ihnen, Wolfgang Hörner, denn das sympathischere Bild vom Süden? Das des dekadenten Südens, der so seine Schattenseiten hat, oder doch dieser Sehnsuchtstraum, in den wir uns ja alle als Deutsche einreihen?
Hörner: Ich halte es ein bisschen mit Galiani und finde, die Gesamtheit dessen ist das wirklich Interessante. Von ihm kommt dieser wunderbare Satz, er sei ja "gleichzeitig ein großer Philosoph und ein schmutziger Witz". Da seien "zwei verschiedene Seelen in ihm zusammengeknetet, obwohl sie insgesamt nicht mal den Raum eines Ganzen ausfüllten". Ich finde, genau dieses Verständnis sollte man auch auf so was anwenden. Das Spannende ist natürlich auch, man geht da hin – nach Neapel, sagen wir mal, oder gar nach Afrika – und hat natürlich auch ein Gefühl der Bedrohung im Hintergrund, weil da was vollkommen Unbekanntes ist. Das gehört genauso dazu, wie das schöne gute Wetter, das gute Essen und der Wein.
Albath: Und außerdem stärkt die Begegnung mit dem Süden unsere Erkenntniskraft für den Norden, denke ich.
Wir sprachen über das neue Buch von Dieter Richter. "Der Süden" heißt es, "Geschichte einer Himmelsrichtung", erschienen im Wagenbach Verlag. Und jetzt haben wir zum Ende unserer Sendung noch Zeit für Buchempfehlungen unserer beiden Gäste. Dieter Richter, was möchten Sie empfehlen?
Richter: Ich kann nur das empfehlen, was ich selber gelesen beziehungsweise in der Hand hatte. Das ist einmal ein wunderbarer Roman von Urs Widmer. "Herr Adamson" heißt er. Den habe ich gerade mit großer Begeisterung gelesen. Ich sage nur ein Stichwort: Ein kleiner Junge schließt Freundschaft mit einem Toten. Mehr will ich dazu nicht sagen.
Die zweite Buchempfehlung aus dem Mare Verlag. Das kann man eigentlich nicht richtig lesen, sondern nur durchblättern. Das heißt "Atlas der abgelegenen Inseln", und der Untertitel: "50 Inseln, die ich nie betreten habe und nie betreten werde", von Judith Schalansky, ein vollkommen verrücktes Buch, was aber auch zeigt, dass unsere Erde so entdeckt noch gar nicht ist, wie wir uns das immer einbilden. Es ist tatsächlich ein Atlas mit genauen Verzeichnungen und Beschreibungen von 50 abgelegenen Inseln. Das sind meine beiden Empfehlungen.
Albath: Das erste Buch, das von Dieter Richter empfohlen wurde, ist im Diogenes Verlag erschienen. Und Wolfgang Hörner, was hat Sie gerade beschäftigt? Welchem Buch wünschen Sie viele Leser?
Hörner: Ich muss wirklich sagen: Gerade während dieser Sendung fiel mir ein, dass ich jetzt doch ein Buch empfehlen muss, das schon ein bisschen älter ist, nämlich Olaus Magnus: "Die Wunder des Nordens". Das ist ein Mensch, ein Katholik, der durch die Reformation aus Stockholm, Uppsala, vertrieben worden ist und in Italien, in Rom sein Leben fristen musste. Und sozusagen so, wie Galiani von Neapel aus den Sehnsuchtsraum Paris beschreibt, macht er eine riesige Enzyklopädie des Nordens. Die ist im Eichborn Verlag mal in Auszügen und zart von Reinhard Kaiser, der das ja so wunderbar kann, in ein verständlicheres Deutsch gebracht worden. Und der beschreibt tatsächlich, wie Skandinavien funktioniert, ein damals vollkommen unbekannter Raum für die Menschen.
Albath: Also, über fremde Kontinente im Süden und im Norden und über die Fantasien, die das auslöst, haben wir diskutiert. Zu Gast waren Dieter Richter und Wolfgang Hörner. Vielen Dank.