Trauma, Schönheit und Doppelmoral
Nach einem langen Krieg schlossen Frankreich und die algerische Front de Libération Nationale 1962 einen Waffenstillstand. Der in Berlin lebende Journalist Tarik Ahmia begab sich auf die Spuren seines algerischen Vaters, der im Untergrund gegen die französische Kolonialherrschaft kämpfte.
Joachim Scholl: Am 18. März 1962, am kommenden Sonntag vor 50 Jahren, schlossen die französische Regierung und die Front de Libération Nationale (FLN), die algerische Widerstandsbewegung, einen Waffenstillstand. Damit endete der Algerienkrieg nach acht Jahren grausamster Schlächterei mit Hunderttausenden von Toten. Einer der Protagonisten jener FLN, des Widerstands, war der Journalist Rezki Ahmia. Auch er entging nur knapp dem Tod, lebte später mit seiner deutschen Frau in Deutschland – 2003 ist Rezki Ahmia gestorben.
Jetzt hat sich sein Sohn Tarik aufgemacht nach Algerien, um dort der Geschichte seines Vaters nachzuspüren. Tarik Ahmia ist ein geschätzter Kollege von uns hier im Deutschlandradio Kultur – und jetzt im Studio, ich grüße Sie!
Tarik Ahmia: Hallo, Herr Scholl.
Joachim Scholl: Sie arbeiten derzeit an einem Film, der "Die Asche meines Vaters" heißen soll. Als er starb, hat er sich gewünscht, dass man seine Asche in der Bucht von Algier verstreuen soll – konnten Sie ihm diesen Wunsch erfüllen?
Tarik Ahmia: Letztlich ja, aber nur unter sehr, sehr großen Schwierigkeiten. Als er starb, war uns nicht bewusst, was für einen Kultur-Clash wir auslösen würden mit diesem Wunsch, seine Asche in der Bucht von Algier zu verstreuen. Für meine Mutter, meine Schwester und mich war dieser Wunsch vollkommen natürlich. Wir wussten, wie sehr er seine Heimat liebte, wir hatten eine Ahnung, was er während des Algerienkrieges erlebte, welche Folter er dort unter den Franzosen durchmachen musste. Mein Vater war nicht religiös, er verabscheute jede Art von religiöser Tümelei. Von daher war das für uns kein Problem.
Die Schwierigkeiten fingen aber schon am Abend seines Todes an. Als wir seinen Bruder anriefen, um ihn davon zu unterrichten, von diesem letzten Wunsch. Der fiel fast in Ohnmacht, sagte nur: "Seid ihr verrückt?!" und legte vor Schreck auf. Zwei Stunden später hatte er sich berappelt und dann rief er nochmal an und sagte, eine Verbrennung käme überhaupt nicht in Frage, das sei unislamisch, eine Verbrennung sei im Islam mit dem Fegefeuer gleichzusetzen. Außerdem war er sehr um seinen Ruf in der Nachbarschaft besorgt.
Die Sache mit dem Fegefeuer war uns nicht klar, hat uns aber überhaupt nicht davon abgehalten, diesen Plan weiterzuverfolgen. Zunächst sprachen wir mit der algerischen Botschaft. Dort sagte man uns erst ganz freundlich und dann immer bestimmter: "No way, das geht überhaupt nicht, diesen Wunsch zu realisieren in einem islamischen Land."
Drei Monate Verhandlungen dauerte es und dann bot man uns einen faulen Kompromiss an: Wir könnten die Urne in einem Sarg nach Algier fliegen und dort auf einem Friedhof bestatten. Das war für uns überhaupt keine Option. Andererseits hatten wir keinen Plan B. Schließlich, um das kurz zu Ende zu bringen, hatte meine Mutter die Erlösung. Nach einiger Zeit sagte sie: "Wir nehmen die Urne, fahren nach Marseille, nehmen die Fähre nach Algier und lassen dort die Asche zu Wasser." Am Ende haben wir das genauso gemacht.
Joachim Scholl: Und niemand hat es mitbekommen. Wie viel wussten Sie, Tarik Ahmia, bis dahin von der politischen Biographie Ihres Vaters? Sie haben es schon kurz angesprochen: Sie ahnten, was damals passierte. Wurde in Ihrer Familie über Algerien und den Krieg eigentlich gesprochen?
Tarik Ahmia: Der Algerienkrieg war in unserer Familie ein Tabu. Ich wusste, dass mein Vater während des Krieges kurz vor dem Abitur die Schule abgebrochen hatte, um in den Widerstand zu gehen. Ich wusste, dass er irgendwann gefoltert wurde, mit einem Selbstmordversuch dem versuchte zu entgehen, von den Franzosen in Abwesenheit zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Aber er selber wollte darüber nie sprechen. Seine Familie war für ihn sein zweites Leben, das er von seinem ersten Leben vollkommen abschirmte.
Joachim Scholl: Was hat Sie dann veranlasst, auf Spurensuche zu gehen – was wollten Sie wissen?
Tarik Ahmia: Natürlich wollte ich etwas über die Geschichte meines Vaters erfahren. Aber auch dieses Urnen-Erlebnis hat bei mir auch noch Jahre danach einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen: Ich konnte nicht verstehen, wie ein Land einem Menschen, der fast für dieses Land gestorben wäre, so einen Wunsch überhaupt verweigern kann? Ich war einfach wütend auf diese Mentalität, auf diese heuchlerische Moral. Ich wollte auch wissen, wieso ein Land, das einst so hoffnungsvoll in die Unabhängigkeit ging, heute so verkorkst ist.
Joachim Scholl: Da kommen wir gleich drauf. Aber nochmal zurück: 50 Jahre sind nun diese Geschehnisse her. Was konnten Sie denn in Algerien über Ihren Vater und seine Rolle noch herausfinden, konnten Sie Weggefährten, Zeitzeugen sprechen?
Tarik Ahmia: Ja, ich bin mit einem befreundeten Kameramann nach Algerien geflogen. Wir haben dort Weggefährten getroffen und deren Erzählungen waren für mich sehr verblüffend. Ich habe erfahren, dass mein Vater Ende der 50er-Jahre in geheimer Mission von der Untergrundregierung der FLN als neuer Chef des Widerstandes nach Algier geschickt wurde, weil zu diesem Zeitpunkt der Widerstand komplett am Boden lag. Die Franzosen hatten alles beseitigt. Dort sollte mein Vater neue Netzwerke, Waffendepots, Nachschubwege usw. organisieren.
Monatelang arbeitete er konspirativ daran. Die Franzosen hatten aber ihre Spitzel und schließlich wurde er verraten. Das französische Militär verhaftete ihn und sein Umfeld von zirka 20 Leuten und schließlich in einer Foltervilla im Stadtzentrum von Algier wurde er über drei Monate dort festgehalten in einer winzigen Zelle.
Joachim Scholl: Der Krieg hat auch Frankreich gespalten, es gab große Proteste, öffentliche, viele bedeutende Intellektuelle wie Albert Camus oder Jean-Paul Sartre kritisierten die französische Politik auf die schärfste Weise. Und gerade Sartres Einfluss wurde auch für Ihren Vater wichtig, ja, man kann sagen, ohne Jean-Paul Sartre, säßen Sie, Tarik Ahmia, heute gar nicht hier.
Tarik Ahmia: Das ist sogar ziemlich wahrscheinlich. Ohne Sartre und die französische Zivilgesellschaft hätten weder mein Vater noch ich diese Geschichte überlebt. Mein Vater hatte, soweit ich weiß, eben erfahren habe, in dieser Foltervilla eigentlich schon mit seinem Leben abgeschlossen, als Jean-Paul Sartre in Frankreich die Bevölkerung aufrief, die Kriegsverbrechen der französischen Armee in Algerien nicht länger zu dulden. Und er forderte die Bürger dazu auf, Komitees zu bilden und in Algier, in Algerien vor Ort diesen Folterhinweisen nachzugehen. Die Geschichte endete letztlich so, dass mein Vater gefunden wurde, freikam und sofort von der FLN nach Marokko ausgeschleust wurde.
Joachim Scholl: Vor 50 Jahren endete der Algerien-Krieg, Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Tarik Ahmia. Der Journalist recherchiert die Geschichte seines algerischen Vaters, der im Widerstand aktiv war. Sie waren nun längere Zeit im modernen Algerien unterwegs, Tarik Ahmia, und Sie haben vorhin schon erwähnt: Ja, ich war wütend und ich wollte wissen, warum dieses Land so verkorkst ist... Wie haben Sie das Land dann erlebt in diesen drei Monaten?
Tarik Ahmia: Eigentlich ist Algerien ein wunderschönes Land, voller Reichtümer - menschlicher und natürlicher. Es ist Europa zugewandt. Es hat sehr viele Bodenschätze. Es könnte eigentlich alles toll sein. Auch Algier selbst ist eine eigentlich wunderschöne Stadt voller Jugendstil-Bauten, aber total heruntergekommen. Die Stadt platzt aus allen Nähten. Während meiner Reise habe ich insgesamt ein Land im Stillstand erlebt, das durch Krieg, Kolonialisierung, aber auch durch die Religion zum Stillstand gekommen ist. Ich glaube, ein großes Problem ist, dass die Algerier bis heute nicht wissen, wer sie eigentlich sind.
Dazu muss man wissen, dass Algerien in seiner Geschichte immer von Kolonialherren beherrscht war. Auch der Islam ist ein Ergebnis der Kolonialisierung durch die Araber im 7. Jahrhundert. Nach den Arabern kamen die Türken, dann die Franzosen, die aus Algerien einen Apartheidsstaat machten. Dann schließlich die Unabhängigkeit – da gab es plötzlich keine fremden Herren mehr. Aber das nutzte ein Teil der algerischen Armee aus, um die Macht bis heute an sich zu ziehen.
Diese Identitätsfrage hat bis heute auch immer wieder zu Konflikten geführt. Dabei gibt es eine algerische Identität, die habe ich da entdeckt und auch für mich entdeckt: Für mich sind das die Berber. Die haben ihre eigene Kultur, ihre eigene Sprache. Die Berber sind sozusagen die Urbevölkerung, die da immer für ihre Freiheit gekämpft haben und bis heute mehr oder weniger unterdrückt werden. Seit dieser Unabhängigkeit haben die Mächtigen aber immer wieder mit verschiedenen Identitäten experimentiert.
Erst wurde Algerien zur "sozialistischen Volksrepublik". 20 Jahre später wurde eine konsequente Arabisierung betrieben, sogar das Sprechen von Französisch stand unter Strafe. Und dann das Tollste: in den 80er-Jahren beschloss die Regierung, einen arabischen Dialekt in diesem Land einzuführen, der in Algerien überhaupt nicht gesprochen wurde. Deshalb hatte man die grandiose Idee, "Sprachlehrer" aus Pakistan und Saudi-Arabien in das Land zu importieren, zu Tausenden von den dortigen Koranschulen. Und "überraschenderweise" gab es zwei Jahre später ein "Islamistenproblem". In der Folge gab es Anfang der 90er-Jahre einen Bürgerkrieg, der zehn Jahre dauerte und 200.000 Menschen das Leben kostete.
Joachim Scholl: Welchen Einfluss haben eigentlich die Ereignisse jetzt in Tunesien, Libyen, Ägypten, auch Marokko auf Algerien? Gibt es da also Wirkungen? Wie steht es um einen möglichen "arabischen Frühling" in Algerien?
Tarik Ahmia: Den "arabischen Frühling" gab es in Algerien schon 1988, nur wurde der gnadenlos zusammengeschossen. Heute sind die Algerier immer noch von diesem Bürgerkrieg traumatisiert und wollen einfach kein weiteres Blutvergießen. Was sie wollen, ist eine Chance, ein normales, bürgerliches Leben. Einen Job, eine Wohnung und eine Familie. Der Alltag wird aber dort bestimmt von einer Doppelmoral, wo einerseits islamische Regeln den Alltag regeln und dominieren und andererseits hinter verschlossenen Türen alle Freiheiten gelebt werden.
Ich glaube, aus europäischer Sicht wäre es ein Fehler, diese Länder diesem islamischen Glauben und diesem islamischen Einfluss sich selbst zu überlassen. Aber solange es keine andere Perspektive gibt, wird der Islam dort immer mehr an Boden gewinnen. Ich fände es letztlich aus europäischer Sicht sinnvoll, wenn Europa alles daran setzen würde, in den arabischen Ländern die zivilgesellschaftlichen Kräfte zu stärken. Alles ist gut, was die Pressefreiheit stärkt, was die Reisechancen nach Europa verbessert, was die wirtschaftliche Zusammenarbeit stärkt, ohne dass es den Eliten, sondern tatsächlich der Bevölkerung zu Gute kommt.
Und letztlich ist diese aufgeklärte, selbstbewusste bürgerliche Mittelschicht in Algerien und in anderen arabischen Ländern unverzichtbar, um die mächtigen Eliten in diesen Ländern langfristig abzulösen.
Joachim Scholl: Algerien 50 Jahre nach dem Ende des Kolonialkriegs – das war Tarik Ahmia, der Journalist und Sohn des Untergrundkämpfers Rezki Ahmia. Er war in seiner Heimat auf den Spuren von dessen Geschichte. Ich danke Ihnen für den Besuch, Herr Ahmia, und das Gespräch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Jetzt hat sich sein Sohn Tarik aufgemacht nach Algerien, um dort der Geschichte seines Vaters nachzuspüren. Tarik Ahmia ist ein geschätzter Kollege von uns hier im Deutschlandradio Kultur – und jetzt im Studio, ich grüße Sie!
Tarik Ahmia: Hallo, Herr Scholl.
Joachim Scholl: Sie arbeiten derzeit an einem Film, der "Die Asche meines Vaters" heißen soll. Als er starb, hat er sich gewünscht, dass man seine Asche in der Bucht von Algier verstreuen soll – konnten Sie ihm diesen Wunsch erfüllen?
Tarik Ahmia: Letztlich ja, aber nur unter sehr, sehr großen Schwierigkeiten. Als er starb, war uns nicht bewusst, was für einen Kultur-Clash wir auslösen würden mit diesem Wunsch, seine Asche in der Bucht von Algier zu verstreuen. Für meine Mutter, meine Schwester und mich war dieser Wunsch vollkommen natürlich. Wir wussten, wie sehr er seine Heimat liebte, wir hatten eine Ahnung, was er während des Algerienkrieges erlebte, welche Folter er dort unter den Franzosen durchmachen musste. Mein Vater war nicht religiös, er verabscheute jede Art von religiöser Tümelei. Von daher war das für uns kein Problem.
Die Schwierigkeiten fingen aber schon am Abend seines Todes an. Als wir seinen Bruder anriefen, um ihn davon zu unterrichten, von diesem letzten Wunsch. Der fiel fast in Ohnmacht, sagte nur: "Seid ihr verrückt?!" und legte vor Schreck auf. Zwei Stunden später hatte er sich berappelt und dann rief er nochmal an und sagte, eine Verbrennung käme überhaupt nicht in Frage, das sei unislamisch, eine Verbrennung sei im Islam mit dem Fegefeuer gleichzusetzen. Außerdem war er sehr um seinen Ruf in der Nachbarschaft besorgt.
Die Sache mit dem Fegefeuer war uns nicht klar, hat uns aber überhaupt nicht davon abgehalten, diesen Plan weiterzuverfolgen. Zunächst sprachen wir mit der algerischen Botschaft. Dort sagte man uns erst ganz freundlich und dann immer bestimmter: "No way, das geht überhaupt nicht, diesen Wunsch zu realisieren in einem islamischen Land."
Drei Monate Verhandlungen dauerte es und dann bot man uns einen faulen Kompromiss an: Wir könnten die Urne in einem Sarg nach Algier fliegen und dort auf einem Friedhof bestatten. Das war für uns überhaupt keine Option. Andererseits hatten wir keinen Plan B. Schließlich, um das kurz zu Ende zu bringen, hatte meine Mutter die Erlösung. Nach einiger Zeit sagte sie: "Wir nehmen die Urne, fahren nach Marseille, nehmen die Fähre nach Algier und lassen dort die Asche zu Wasser." Am Ende haben wir das genauso gemacht.
Joachim Scholl: Und niemand hat es mitbekommen. Wie viel wussten Sie, Tarik Ahmia, bis dahin von der politischen Biographie Ihres Vaters? Sie haben es schon kurz angesprochen: Sie ahnten, was damals passierte. Wurde in Ihrer Familie über Algerien und den Krieg eigentlich gesprochen?
Tarik Ahmia: Der Algerienkrieg war in unserer Familie ein Tabu. Ich wusste, dass mein Vater während des Krieges kurz vor dem Abitur die Schule abgebrochen hatte, um in den Widerstand zu gehen. Ich wusste, dass er irgendwann gefoltert wurde, mit einem Selbstmordversuch dem versuchte zu entgehen, von den Franzosen in Abwesenheit zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Aber er selber wollte darüber nie sprechen. Seine Familie war für ihn sein zweites Leben, das er von seinem ersten Leben vollkommen abschirmte.
Joachim Scholl: Was hat Sie dann veranlasst, auf Spurensuche zu gehen – was wollten Sie wissen?
Tarik Ahmia: Natürlich wollte ich etwas über die Geschichte meines Vaters erfahren. Aber auch dieses Urnen-Erlebnis hat bei mir auch noch Jahre danach einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen: Ich konnte nicht verstehen, wie ein Land einem Menschen, der fast für dieses Land gestorben wäre, so einen Wunsch überhaupt verweigern kann? Ich war einfach wütend auf diese Mentalität, auf diese heuchlerische Moral. Ich wollte auch wissen, wieso ein Land, das einst so hoffnungsvoll in die Unabhängigkeit ging, heute so verkorkst ist.
Joachim Scholl: Da kommen wir gleich drauf. Aber nochmal zurück: 50 Jahre sind nun diese Geschehnisse her. Was konnten Sie denn in Algerien über Ihren Vater und seine Rolle noch herausfinden, konnten Sie Weggefährten, Zeitzeugen sprechen?
Tarik Ahmia: Ja, ich bin mit einem befreundeten Kameramann nach Algerien geflogen. Wir haben dort Weggefährten getroffen und deren Erzählungen waren für mich sehr verblüffend. Ich habe erfahren, dass mein Vater Ende der 50er-Jahre in geheimer Mission von der Untergrundregierung der FLN als neuer Chef des Widerstandes nach Algier geschickt wurde, weil zu diesem Zeitpunkt der Widerstand komplett am Boden lag. Die Franzosen hatten alles beseitigt. Dort sollte mein Vater neue Netzwerke, Waffendepots, Nachschubwege usw. organisieren.
Monatelang arbeitete er konspirativ daran. Die Franzosen hatten aber ihre Spitzel und schließlich wurde er verraten. Das französische Militär verhaftete ihn und sein Umfeld von zirka 20 Leuten und schließlich in einer Foltervilla im Stadtzentrum von Algier wurde er über drei Monate dort festgehalten in einer winzigen Zelle.
Joachim Scholl: Der Krieg hat auch Frankreich gespalten, es gab große Proteste, öffentliche, viele bedeutende Intellektuelle wie Albert Camus oder Jean-Paul Sartre kritisierten die französische Politik auf die schärfste Weise. Und gerade Sartres Einfluss wurde auch für Ihren Vater wichtig, ja, man kann sagen, ohne Jean-Paul Sartre, säßen Sie, Tarik Ahmia, heute gar nicht hier.
Tarik Ahmia: Das ist sogar ziemlich wahrscheinlich. Ohne Sartre und die französische Zivilgesellschaft hätten weder mein Vater noch ich diese Geschichte überlebt. Mein Vater hatte, soweit ich weiß, eben erfahren habe, in dieser Foltervilla eigentlich schon mit seinem Leben abgeschlossen, als Jean-Paul Sartre in Frankreich die Bevölkerung aufrief, die Kriegsverbrechen der französischen Armee in Algerien nicht länger zu dulden. Und er forderte die Bürger dazu auf, Komitees zu bilden und in Algier, in Algerien vor Ort diesen Folterhinweisen nachzugehen. Die Geschichte endete letztlich so, dass mein Vater gefunden wurde, freikam und sofort von der FLN nach Marokko ausgeschleust wurde.
Joachim Scholl: Vor 50 Jahren endete der Algerien-Krieg, Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Tarik Ahmia. Der Journalist recherchiert die Geschichte seines algerischen Vaters, der im Widerstand aktiv war. Sie waren nun längere Zeit im modernen Algerien unterwegs, Tarik Ahmia, und Sie haben vorhin schon erwähnt: Ja, ich war wütend und ich wollte wissen, warum dieses Land so verkorkst ist... Wie haben Sie das Land dann erlebt in diesen drei Monaten?
Tarik Ahmia: Eigentlich ist Algerien ein wunderschönes Land, voller Reichtümer - menschlicher und natürlicher. Es ist Europa zugewandt. Es hat sehr viele Bodenschätze. Es könnte eigentlich alles toll sein. Auch Algier selbst ist eine eigentlich wunderschöne Stadt voller Jugendstil-Bauten, aber total heruntergekommen. Die Stadt platzt aus allen Nähten. Während meiner Reise habe ich insgesamt ein Land im Stillstand erlebt, das durch Krieg, Kolonialisierung, aber auch durch die Religion zum Stillstand gekommen ist. Ich glaube, ein großes Problem ist, dass die Algerier bis heute nicht wissen, wer sie eigentlich sind.
Dazu muss man wissen, dass Algerien in seiner Geschichte immer von Kolonialherren beherrscht war. Auch der Islam ist ein Ergebnis der Kolonialisierung durch die Araber im 7. Jahrhundert. Nach den Arabern kamen die Türken, dann die Franzosen, die aus Algerien einen Apartheidsstaat machten. Dann schließlich die Unabhängigkeit – da gab es plötzlich keine fremden Herren mehr. Aber das nutzte ein Teil der algerischen Armee aus, um die Macht bis heute an sich zu ziehen.
Diese Identitätsfrage hat bis heute auch immer wieder zu Konflikten geführt. Dabei gibt es eine algerische Identität, die habe ich da entdeckt und auch für mich entdeckt: Für mich sind das die Berber. Die haben ihre eigene Kultur, ihre eigene Sprache. Die Berber sind sozusagen die Urbevölkerung, die da immer für ihre Freiheit gekämpft haben und bis heute mehr oder weniger unterdrückt werden. Seit dieser Unabhängigkeit haben die Mächtigen aber immer wieder mit verschiedenen Identitäten experimentiert.
Erst wurde Algerien zur "sozialistischen Volksrepublik". 20 Jahre später wurde eine konsequente Arabisierung betrieben, sogar das Sprechen von Französisch stand unter Strafe. Und dann das Tollste: in den 80er-Jahren beschloss die Regierung, einen arabischen Dialekt in diesem Land einzuführen, der in Algerien überhaupt nicht gesprochen wurde. Deshalb hatte man die grandiose Idee, "Sprachlehrer" aus Pakistan und Saudi-Arabien in das Land zu importieren, zu Tausenden von den dortigen Koranschulen. Und "überraschenderweise" gab es zwei Jahre später ein "Islamistenproblem". In der Folge gab es Anfang der 90er-Jahre einen Bürgerkrieg, der zehn Jahre dauerte und 200.000 Menschen das Leben kostete.
Joachim Scholl: Welchen Einfluss haben eigentlich die Ereignisse jetzt in Tunesien, Libyen, Ägypten, auch Marokko auf Algerien? Gibt es da also Wirkungen? Wie steht es um einen möglichen "arabischen Frühling" in Algerien?
Tarik Ahmia: Den "arabischen Frühling" gab es in Algerien schon 1988, nur wurde der gnadenlos zusammengeschossen. Heute sind die Algerier immer noch von diesem Bürgerkrieg traumatisiert und wollen einfach kein weiteres Blutvergießen. Was sie wollen, ist eine Chance, ein normales, bürgerliches Leben. Einen Job, eine Wohnung und eine Familie. Der Alltag wird aber dort bestimmt von einer Doppelmoral, wo einerseits islamische Regeln den Alltag regeln und dominieren und andererseits hinter verschlossenen Türen alle Freiheiten gelebt werden.
Ich glaube, aus europäischer Sicht wäre es ein Fehler, diese Länder diesem islamischen Glauben und diesem islamischen Einfluss sich selbst zu überlassen. Aber solange es keine andere Perspektive gibt, wird der Islam dort immer mehr an Boden gewinnen. Ich fände es letztlich aus europäischer Sicht sinnvoll, wenn Europa alles daran setzen würde, in den arabischen Ländern die zivilgesellschaftlichen Kräfte zu stärken. Alles ist gut, was die Pressefreiheit stärkt, was die Reisechancen nach Europa verbessert, was die wirtschaftliche Zusammenarbeit stärkt, ohne dass es den Eliten, sondern tatsächlich der Bevölkerung zu Gute kommt.
Und letztlich ist diese aufgeklärte, selbstbewusste bürgerliche Mittelschicht in Algerien und in anderen arabischen Ländern unverzichtbar, um die mächtigen Eliten in diesen Ländern langfristig abzulösen.
Joachim Scholl: Algerien 50 Jahre nach dem Ende des Kolonialkriegs – das war Tarik Ahmia, der Journalist und Sohn des Untergrundkämpfers Rezki Ahmia. Er war in seiner Heimat auf den Spuren von dessen Geschichte. Ich danke Ihnen für den Besuch, Herr Ahmia, und das Gespräch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.