Traumaforscher Andreas Maercker

Über Stasiverhöre und die Bedeutung von Flashbacks

35:00 Minuten
Porträtfoto eines weißen Mannes mit grauen Haaren, er trägt ein dunkelblaues Jackett und darunter ein hellblaues Hemd und schaut direkt in die Kamera. Es handelt sich um Andreas Maercker.
Andreas Maercker forscht derzeit auch zu kulturellen Unterschieden psychischer Störungen, etwa von Traumata. © privat
Moderation: Ulrike Timm |
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Der Psychologe Andreas Maercker ist einer der führenden Wissenschaftler der Traumaforschung. In seinem neuen Buch geht es um die psychologischen Taktiken der Stasi, denen er als politischer Häftling selbst ausgesetzt war.
Verhaftung, Verhöre und überfüllte Zellen, das alles kennt Andreas Maercker nicht nur aus Filmen und Erzählungen, sondern hat er selbst erlebt. Seine Forschung, besonders sein jüngstes Buch: "Psychologie als Instrument der SED-Diktatur", hänge deshalb auch mit der eigenen Geschichte zusammen, bestätigt der Psychologieprofessor von der Universität Zürich.
In welchem Maße psychologisches Wissen durch das Ministerium für Staatssicherheit genutzt wurde und Psychologinnen und Psychologen instrumentalisiert wurden, das wollte Maercker, zusammen mit dem Historiker Jens Gieseke, erfahren.

Guantanamo als Anstoß

Die Untersuchungen seien auch durch die Berichte aus Guantanamo angestoßen worden. Hier sollen, neben dem US-Militär, auch Psychologinnen und Psychologen an Folter beteiligt gewesen sein.
Er habe gedacht, da müssten sie doch mal schauen, inwieweit deutsche Psychologinnen und Psychologen auch mitgemacht hätten. "Es gab bei der Stasi, die hatte eine Hochschule in Potsdam-Golm, eine Psychologieabteilung. Und diese Geheimdienstpsychologie, die haben wir genau durchleuchtet."

"Eigenartige Form der Wissenschaft"

Maercker bescheinigt den meisten Psychologinnen und Psychologen "ethisch und moralisch gute Arbeit". Es sei nicht etwa so gewesen, dass die Stasi in der Klinik oder der Praxis anrief und nach geeigneten Methoden fragte, "das kann man ausschließen".
Die Psychologie sei nicht Ideengeberin dafür gewesen, was die Stasi gemacht hat, sagt der Psychologe.
"Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass das meiste aus der Praxis kam. Da kamen die Vernehmer, die hatten schon in dem Beruf gearbeitet, und die haben dann von ihren Erfahrungen erzählt. Und dann wurde gesagt: `Die Methode läuft gut, die läuft weniger gut.` Und die Psychologen haben sie dann darin bestätigt, haben das eingebaut in ihre Theorien. Also es war eher ein Wissenstransfer von der Praxis zur Psychologie. Es war eine eigenartige Form der Wissenschaft."

Mit zwölf Mann in der Zelle

1988 saß Andreas Maercker als politischer Häftling im Gefängnis, erlebte in der Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen deren Verhörmethoden hautnah. Zuvor war sein Fluchtversuch in den Westen gescheitert. Maercker wurde zu zwei Jahren Haft verurteilt, teilte dann mit zwölf Inhaftierten eine Zelle, wurde später von der Bundesrepublik "freigekauft".
An die beengte Zelle kann sich der heute 61-Jährige noch gut erinnern:
"Man lag wie in Ehebetten. Das heißt, da war auch noch ganz, ganz wenig Intimität. Allerdings hat das auch dazu geführt, dass man sehr vertrauensvolle Gespräche führen konnte. In meinem Fall war das auch mit kriminellen Mitgefangenen. Ich habe erlebt, wie auch kriminelle Mitgefangene, Menschen die es schwer hatten in ihrer Entwicklung, wie man mit denen auskommen kann. Also es war eine gemischte Erfahrung. Ich wurde allerdings auch als der Doc angesehen. Das heißt, die haben mich nicht mit allem so belästigt."

Vom Philosophieunterricht zum Traumaexperten

Maercker hatte zuvor Medizin und Psychologie studiert, 1986 an der Humboldt-Universität Berlin promoviert. Während der Studienzeit besuchte er auch den Philosophieunterricht bei Wolfgang Harich. Auch der Intellektuelle saß für einige Jahre in Haft.
In den 1990er Jahren entwickelt sich der Psychologe mehr und mehr zum Spezialisten für posttraumatische Belastungsstörungen. Seit 2005 leitet er an der Uni Zürich die Abteilung "Allgemeine Psychotherapie und Schwerpunkte Trauma, Altersprobleme und Online-Behandlung". Sieben Jahre, bis 2018, stand der Forscher der WHO-Arbeitsgruppe zur "Neuklassifikation der Trauma- und Stress-bezogenen Störungen" vor.
Obwohl in der Traumaforschung noch immer viele Fragen offen seien, würde man heute viele Aspekte sehr besser verstehen und erklären können. Zum Beispiel was die so genannten Flashbacks, also plötzlich auftretenden Erinnerungen, betrifft:
"Man kann ein traumatisches Ereignis nicht an dem Ereignis selbst festmachen, sondern daran, was für psychische Veränderungen bleiben. Und im Kern dieser Veränderungen stehen die Flashbacks. Die belastenden Erinnerungen, in denen man sich wieder in der Situation wähnt. Also Menschen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, die in bestimmten Momenten denken, jetzt passiert das wieder."

Kulturelle Unterschiede psychischer Störungen

Durch die Zusammenarbeit mit der Weltgesundheitsorganisation geht Maercker seit einigen Jahren auch der Frage nach, ob sich psychischen Störungen in unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten unterscheiden.
Maercker spricht dabei von "Kulturvarianten". Man habe es hier mit einem "gemeinsamen Kern" zu tun, zu diesem zähle man die Flashbacks.
"Aber die werden in manchen Kulturen gar nicht als Bilder erlebt, sondern eher als Schmerz. Nehmen wir mal den Fall, dass jemand neben sich erschossen wurde. Da würde ein Mensch mit einem europäischen Hintergrund die Flashbacks insbesondere als Bilder haben. Und in anderen Kulturen, ich denke da zum Beispiel an Zentralafrika, da haben die Menschen eher den Eindruck, sie können nicht mehr atmen."

Überaktivität nach Traumatisierungen

Auch über die Therapien von Traumata habe man viel hinzugelernt, sagt Maercker. Über die unterschiedlichen Ansätze ließe sich abendfüllend erzählen. Missverständnisse gebe es vor allem an einer Stelle, so der Forscher.
"Es gibt eine gewisse Überaktivität nach Traumatisierungen. Manchmal schreien zum Beispiel auch Politiker danach: `Die müssen jetzt gleich psychologische Hilfe bekommen.` Da hat sich herausgestellt, dass das nicht intensiv sein sollte. Wir sind dann eher dazu da, die Menschen abzuschirmen. Zum Beispiel, dass die Presse nicht gleich auf sie zukommt und alles wieder fürchterlich aufwühlt."
(ful)

Andreas Maercker, Jens Gieseke (Hrsg.): "Psychologie als Instrument der SED-Diktatur. Theorien – Praktiken – Akteure – Opfer"
Hogrefe, Göttingen 2021
264 Seiten, 37 Euro

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