Ein Veteran kämpft sich zurück ins Leben
Bereits seit vier Jahren leidet der Afghanistan-Veteran Enrico an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Daran konnten auch mehrere Therapien nichts ändern. Aber Enrico will sein altes Leben wieder. Dafür probiert er auch Wege aus, die ihm bis vor Kurzem absurd erschienen.
Wie immer prüft Enrico mehrmals, ob er sein Auto auch wirklich abgeschlossen hat. Dann geht er die Straße hinunter, an einem Friedhof vorbei, bis zum Bundeswehrkrankenhaus.
Es ist es ein milder Frühlingstag in Berlin. Die ersten Bäume blühen. Café -Besitzer haben Tische und Stühle auf den Gehweg gestellt. Gäste strecken ihre bleichen Gesichter in die Mittagssonne. Enrico hat keinen Blick für die Szenerie – er wirkt gehetzt, müde. Wie immer hat ihn die Fahrt von seinem mecklenburgischen Dorf in die Großstadt angestrengt. Seit vier Jahren muss sich Enrico, der seinen Nachnamen nicht nennen möchte, einmal im Monat im Krankenhaus vorstellen:
"Jetzt sind sie dabei, das für die Patienten besser zu machen. Die Soldaten mehr zu fördern, die Soldaten mehr zu integrieren ... aber in der Vergangenheit hat es nun mal den Anschein erweckt, dass der Soldat der Bundeswehr ein Austauschteil oder ein austauschbares Ersatzteil ist, was, so wie es kaputt ist, ausgetauscht und weggeworfen wird."
Ein hartes Urteil, dass der 36-jährige Zeitsoldat da über seinen Arbeitgeber fällt. Es fällt so hart aus, weil die Bundeswehr ihn ausgerechnet im Stich lässt, als er ganz unten ist, 2010 mehrere Monate in der Psychiatrie verbringt. In diesem Zeitraum läuft seine Dienstzeit aus, Enrico verliert jeden Anspruch auf Hilfe. Erst als er danach vor Gericht zieht und das Verfahren gewinnt, stellt ihn sein alter Arbeitgeber wieder ein und übernimmt auch die Kosten für seine Behandlung.
"Wir müssen rein."
"Das ist die FU 6. Das ist die, wie sagt man ... psychiatrische Abteilung der Bundeswehr."
"Dieses Gespräch mit dem Doktor ist ein stündliches Gespräch. Er hat halt bloß eine Stunde Zeit."
Im Treppenhaus schaut Enrico durch die Fenstertür auf den engen Flur der Station.
"Hier ist alles voll."
"Trauma-Sprechstunde ist immer gut besucht"
Auf beiden Seiten des Flurs sitzen dicht an dicht junge Männer, die Enrico ähnlich sehen - mit ihren massigen Körpern, den kahlgeschorenen Köpfen und den ernsten Gesichtern.
Einer der Veteranen sitzt im Rollstuhl. Ab und zu versucht er mit einer Hand sein stark zitterndes, linkes Bein festzuhalten.
Enricos behandelnder Arzt kommt die Treppen hinauf.
Manuel Koch: "Ja, guten Tag. Ich muss noch kurz in die Rettungsstelle, bin in fünf Minuten da. Ich habe heute Hintergrunddienst. Wir sehen uns gleich. Ja?"
Enrico: "Ja, weil ich würde mich ungern dahin setzen, weil ....
Koch: "Ist voll."
Enrico: "Voller als sonst. Warum?"
Koch: "Ja, ist so viel Andrang heute. Wir haben ja heute Trauma-Sprechstunde ... ist immer gut besucht."
Und schon muss der Arzt wieder weg.
Enrico ist noch immer gestresst:
"Die Fahrt hierher. Parkplatzsuche. Die Person, die Menge, die Gegebenheiten ... die Bauarbeiten. ... Warten wir halt mal."
Nach einer knappen Stunde Gesprächstherapie, verlässt der Soldat das Behandlungszimmer des Psychiaters. Jetzt will er nur noch raus. Raus aus dem Krankenhaus, raus aus der lärmenden Großstadt. Kaum sitzt er in seinem silbergrauen Kombi greift er im Handschuhfach nach einem Fläschchen mit Beruhigungstropfen.
Eine gute Stunde später steht Enrico mitten auf dem platten Land. Im Süden von Berlin, zwischen Spargelfeldern und surrenden Silos. Acht Pferde galoppieren auf eine weitläufige Koppel, ab und zu starten oder landen Flugzeuge ganz in der Nähe. Claudia Swierczek:
"Was würdest du jetzt am liebsten tun? Striegeln? Ok. Dann besorge ich dir was und du kannst hier sein."
Hufe auskratzen, Füttern und Streicheln
Seit einem halben Jahr kommt Enrico regelmäßig zu Claudia Swierzek und ihren Pferden. Zum Striegeln, Hufe auskratzen, Füttern und Streicheln. Die Arme vor der kräftigen Brust verschränkt, erzählt Enrico, dass er anfangs nur wenig mit Pferden anfangen konnte:
"Die erste Begegnung ist eigentlich diese gewesen, das ich von meinem Empfinden her. Also von meinem Wohlfühlen mich den Pferden nähern sollte. Und da blieb ich vielleicht so fünf Meter vor den Pferden stehen."
Claudia: "Eher noch mehr."
Enrico: "Ich hätte zwar rangehen können. In meinem Inneren habe ich mir gesagt, wenn ich jetzt nur darauf hören würde, wäre jetzt hier die Grenze. Weiter muss nicht. Am nächsten Tag sah es schon anderes aus. Stückchen für Stückchen weiter ran. Jetzt ist es so, als ob ich quasi zu der Gruppe gehöre."
Claudia: "Geht das mit dem Flieger?"
Für einen kurzen Moment wirkt Enrico wie gelähmt, steht wie angewurzelt da. Sein Blick geht ins Leere und er ist unfähig auf Claudias Frage zu antworten.
"Das sind oftmals Geräusche, die die Soldaten und Soldatinnen an Einsatzgeschehnisse erinnern können. Das war auch eben ein kurzer Blick: Aha, hier Claudia, Sicherheit – alles gut. Das war in den Anfangszeiten unserer Arbeit anders. Und mit einigen Soldaten sind beispielsweise vorbeifahrende Mofas, oder eben Sirenen oder Hubschrauber, einfach Trigger."
Sinneseindrücke, bei denen der Soldat den Bezug zum Hier und Jetzt verliert und glaubt wieder mitten im Krieg zu sein. Immer und immer wieder durchlebt er dabei die Todesängste von damals - typisch für eine Posttraumatische Belastungsstörung, PTBS.
Bezahlt von der Veteranenhilfe, nicht von der Bundeswehr
Enrico nimmt den Eimer voller Bürsten, überquert die Koppel und geht zu einem braunen Wallach - seinem Lieblingspferd. Er striegelt es.
Claudia Swierczek: "Also was man jetzt sieht, Muskeltonus hat abgenommen. Er atmet, er ist mit dem Pferd in Kontakt. Eben haben wir auch nochmal genau gesehen, wie er ganz tief ausgeatmet hat. Jetzt berührt er das Pferd mit beiden Händen.....und wenn ich ihn jetzt fragen würde, wäre ich relativ sicher, dass er antworten könnte, dass sein Spannungszustand abgenommen hat. Und das sind beispielsweise Momente in denen die Pferde den Menschen helfen, nochmal zum Einen den eigentlichen Spannungszustand zu erkennen, zu verbalisieren und auch gleichzeitig zu sehen, was passiert wenn ich meine Anspannung, meine Energie runter regle. Weil wenn das nicht passiert wäre, wäre das Pferd weggegangen."
Claudia Swierczek arbeitet derzeit mit etwa 20 Soldaten aus ganz Deutschland. Vielen von ihnen fällt es leichter mit einem Pferd Kontakt aufzunehmen als mit einem Menschen. Bezahlt wird Enricos Pferdetherapie von der Veteranenhilfe, nicht der Bundeswehr:
"Was jetzt auch passiert ist: das Pferd hat zu uns hingeguckt. Ich gehe jetzt dahin, weil ich das Gefühl habe, es neigt sich jetzt dem Ende, der Putzakt."
Enrico möchte eine Pause machen. Er geht zum Bauwagen am Rande der Koppel.
Drinnen stehen heißer Tee, Früchte und Kekse bereit. Er setzt sich so hin, dass er durch das Fenster gut beobachten kann, was draußen passiert. Dabei hat Enrico immer die Tür - seinen Fluchtweg - im Blick. Scannen, sichern, sondieren, nennt er das. Reflexe, die er in Afghanistan verinnerlicht hat:
"Wenn man dann aber hierher zurückkommt, dann wird von einem erwartet, dass man die ganzen.... Ich sage mal, die Ausbildung, dass man die vergisst, dass man die antrainierten Verhaltensweisen quasi ablegen soll. Und das geht einfach nicht. Wenn dann plötzlich zum Beispiel die normale Feuerwehrsirene losgeht und man dann überlegt, springe ich jetzt in Deckung, gehe ich nicht. Wieso, weshalb, warum, ist Raketenangriff? Ist keiner? Was passiert jetzt gerade? Das Motorrad fährt vorbei, hat Fehlzündung, so ein älteres Modell. Man schaut sich um. Sucht die Dachkanten ab oder beobachtet die Bevölkerung, die an einem vorbeiläuft. Meidet große Ansammlungen. Fährt einkaufen. Sieht, dass da zu viele Autos parken, zu viele Menschen sind. Also fährt man die ganze Zeit im Kreis. Schaut sich vorher die Lage an, sondiert, sichert. Und ist trotzdem die ganze Zeit unter Anspannung. Wie unter Strom."
Seit Enrico aus Afghanistan zurückgekehrt ist, schläft er schlecht, leidet unter Alpträumen, hat Konzentrationsschwierigkeiten und Schweißausbrüche. Er ist weit davon entfernt, der junge, dynamische Mann zu sein, der er einst war. Über das, was er im Krieg erlebt hat, kann und will er nicht sprechen. Nur so viel: Ein Tag vor seiner Ankunft im Feldlager in Kundus zerstört eine Rakete sein Büro. Hätte er einen Tag früher dort gesessen ... Enrico winkt ab - er mag nicht daran denken.
Enrico darf nicht mit Waffen umgehen
An einem Auslandseinsatz kann der Soldat nie wieder teilnehmen. Enrico darf auch nicht mit Waffen oder Munition umgehen. Die Gefahr, dass er sich oder anderen etwas antut, sei ganz einfach zu groß. Da sind sich die Bundeswehrpsychologen in ihren Gutachten einig. Zurück in der deutschen Kaserne verrichtet der Veteran nur noch Handlangerarbeiten. Die Kameraden aus dem Einsatz fehlen ihm:
"Dieses Zusammenspiel der Kameradschaft im Einsatz ist so intensiv, weil man auch 24 Stunden aufeinander hockt, sieben Tage die Woche, dass dort schon so eine Art Familiengefühlt entwickelt wird."
Von der Kameradschaft ist nicht mehr als die Sehnsucht danach übrig geblieben - zu keinem Soldaten aus seiner damaligen Einheit hat Enrico heute noch Kontakt. Und niemand besucht ihn, als er 2010 monatelang in der Psychiatrie liegt.
Damals verlässt ihn auch seine Verlobte:
"Alleine. Das Gefühl kommt sehr häufig auf, dass man sich alleine gelassen fühlt. Dass man sich nicht beachtet fühlt oder wie auch immer. Oder nicht verstanden fühlt von der Bevölkerung auch. Weil, manchmal möchte man nichts erzählen, die anderen wollen gar nichts hören. Es ist schwierig, weil man als Soldat auch das Gefühl hat, außerhalb der Gesellschaft zu stehen. Obwohl wir ja eigentlich für die Gesellschaft - also sprich für Deutschland - dort unten tätig sind."
Enrico lebt mittlerweile wieder bei seinen Eltern. Sie helfen und unterstützen ihn, wo sie nur können – auch wenn sie dagegen waren, dass er nach Afghanistan geht. Fünf Jahre nach seinem Einsatz glaubt Enrico nach wie vor an den Sinn seiner Mission. Trotz allem:
"Ich denke es würde mir bedeutend schlechter gehen, wenn ich nicht das Gefühl hätte, dort etwas bewegt zu haben. Und das hilft, es bestätigt einen, dass man doch dort unten Gutes bewirken kann."
Bevor es mit der nächsten Übung weitergeht, bekommen die Tiere Futter. Claudia Swierczek:
"Wobei haben dir denn die Pferde geholfen?"
Enrico: "Ich denke, ich stehe noch am Anfang. Aber alles in allem würde ich sagen, Vertrauen. Ne große Ecke, nicht gänzlich. Aber doch ein großes Stück. Zuversicht. Neugier."
Drei Monate später.
An einem warmen Sommertag sitzt Enrico im langen Krankenhausflur und wartet mit anderen Männern auf seinen monatlichen Termin bei Oberfeldarzt Koch:
"So, wollen Sie mal einen Moment mit reinkommen?"
"Nehmen Sie ganz vorne gemütlich Platz."
Der Arzt erzählt Enrico von einer neuen Therapie, die der Veteran ausprobieren könnte. Mit Hilfe von viel Sport, Physiotherapie und Ernährungsumstellung sollen Soldaten ihre vernachlässigten Körper auf Vordermann bringen. Denn, so meint Koch, es sind ja von Haus aus körperlich und psychisch gesunde Menschen, die in der Bundeswehr dienen:
"Es gibt Statistiken wonach die Posttraumatische Belastungsstörung als eine der Traumafolgestörungen mit über 64 Prozent tatsächlicher Heilung eine der am besten zu behandelnden Störungen oder Erkrankungen ist. So dass wir da auch guten Mutes rangehen. Wir haben auch mal untersucht, so in den Bundeswehrkrankenhäusern auch bei uns, wie vielen geht es denn nach erfolgter Traumatherapie besser - ich meine zu sagen zwischen 82 und 84 Prozent. Also das ist, wenn man sich andere psychische Störungen anguckt, eine ganz tolle Sache."
Viele gehen gar nicht erst zum Arzt
Eine Studie in Zusammenarbeit mit der TU Dresden besagt, dass zwei bis drei der Soldaten mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung aus Afghanistan zurückkehren. Das wären rund 2800 Erkrankte. Die Studie hat aber auch aufgezeigt, dass jedem zweiten nicht geholfen werden kann, weil die Männer erst gar nicht zum Arzt gehen:
"Für viele ist es sehr schwierig auch über die eigene Schamgrenze zu gehen. Gestehe ich mir das jetzt ein, als gestandener Mann, als gestandener Soldat - oder Frau auch. Habe ich jetzt eine Belastung? Man muss doch stark sein, als Soldat."
Die eigentliche Therapie findet dann unter vier Augen statt.
Als die beiden wieder aus dem Zimmer kommen, gibt der Arzt Enrico ein volles Fläschchen mit den Beruhigungstropfen, die gleichzeitig wie ein Antidepressivum wirken. Das alte war aufgebraucht.
Enrico setzt sich auf einen freien Stuhl zwischen zwei Kameraden. An den Wänden hängen Plakate mit Tipps für einen guten Schlaf: "Nach 20 Uhr sollte man nur noch leichte Kost zu sich nehmen. Verzichten Sie möglichst auf Zigaretten, Kaffee und Alkohol."
Ein junger, großer Mann mit einem vollgepackten Trekkingrucksack kommt herein. Durch die geöffnete Empfangstür hört Enrico noch, wie dieser zu seinem stationären Aufenthalt begrüßt wird. Der Arzt möchte Enrico auch immer wieder dazu überreden, doch Enrico sträubt sich noch.
Wenige Wochen später freut er sich erstmal, dass ein Platz bei der Sport-Therapie, von der ihm sein Arzt erzählt hatte, frei geworden ist.
In der Sportschule bei Münster geht es lockerer zu als in einem Krankenhaus. Die großzügige Anlage wird auch als "Club Med" der Bundeswehr bezeichnet.
Enrico und fünf Kameraden üben an diesem Morgen unter Anleitung eines Sporttherapeuten Bogenschießen. Christoph Hoffmann:
"Bogenschießen hier soll entspannend sein. Mal was Neues kennenlernen. Mal in sich gehen, sich konzentrieren - es hat viel mit Konzentration zu tun. Und dann eben halt eine gesunde Körperhaltung, weil ich nach Möglichkeit aufrecht stehen sollte. Schulterblätter zurück, Brust raus, Medaille zeigen - sagen wir ganz gerne mal dazu. Und dann eben sich schön die Zeit lassen mit einer Atmung ... Konzentration - den Geist frei bekommen. Zu den Jungs: Ja, dann geht nach vorne. Lacht. Sehr selbstständig."
"Hier fühle ich mich als Soldat unter Soldaten"
Enrico: "Hier fühle ich mich das erste Mal wieder als Soldat unter Soldaten ... das ist schön und macht Spaß. Und man wird wieder gefordert."
Als Enrico seine Pfeile aus der Zielscheibe zieht und zurück auf seine Ausgangsposition geht, fährt gerade eine Frau im schwarzen Trainingsanzug vor.
Enrico: "Das ist unsere begleitende Psychologin ... sehr nett."
Und vor allem ist es mal etwas Neues, wenn die Psychologin alle Bereiche mit begleitet. Wahnsinn!
Heidrun Gliencke: "Ja. So hat man nicht die ganze Zeit dieses Schild vor dem Kopf. Ich bin dann halt die Heidi, die da ist. Und sie wissen dann auch, sie können einfach machen, sich ausprobieren. Die Sportarten ausprobieren, auch in einem Gruppengefüge. Sich mal wieder bewegen. Weil viele von unseren Lehrgangsteilnehmern, sind ja auch viel alleine in ihrem täglichen Leben. Und hier sind sie auch wieder mal Teil einer Gruppe. Oder wie einer mal sagte: endlich mal normale Leute hier!"
Gliencke: "Dann schaue ich mir so an, wie sie sich entwickeln. Montag hat Enrico noch gar nicht gelacht. Heute kriegt er das Grinsen nicht aus dem Gesicht. Lacht.
Enrico: "Die Truppe ist so ... das passt, das macht schon viel aus."
Gliencke: "Man muss nichts erklären. Keiner muss sich hier erklären."
Ursprünglich war die "Sporttherapie nach Einsatzschädigung" - so heißt der Lehrgang - für körperlich versehrte Soldaten gedacht. Dann kamen die psychisch Erkrankten dazu.
"Der Zulauf ist schon immens. Muss man schon sagen."
"Wehrdienstbeschädigung" heißt der Fachbegriff. Hinter dem sperrigen Wort verbirgt sich etwas Existentielles für jeden versehrten Soldaten. Denn mit der Wehrdienstbeschädigung erkennt die Bundeswehr an, dass der Soldat während der Dienstzeit körperlichen oder seelischen Schaden erlitten hat. Der Grad der Wehrdienstbeschädigung bestimmt die Höhe der finanziellen Unterstützung. Wenn jemand, wie Enrico Zeitsoldat ist, muss die Bundeswehr sich um ihn kümmern. Wird er gesund oder der Grad seiner Wehrdienstbeschädigung sinkt, fliegt er aus der Truppe.
Aber welche Chancen hat Enrico mit Ende 30 auf dem freien Arbeitsmarkt einen Job zu finden? Er kennt kaum etwas anderes als die Armee. Deshalb möchte er verhindern, dass seine Wehrdienstbeschädigung herabgestuft wird - gleichzeitig möchte Enrico gesund werden. Er steckt im Dilemma. Gliencke:
"Enrico, das machst du aber schön!"
Hoffmann: "Guck mal, du kannst noch ein bisschen mehr - wenn du losgelassen hast (atmet tief) dich rausstrecken. Richtig schön ... tief einatmen ... du machst immer so den Brummbären, den Gemütlichen. Grrrrrr.
Hoffmann: "Ja, das war die letzte Runde. Aber hier schießen noch welche, also bitte nicht nach vorne laufen."
Alle zwei Wochen kommen neue Soldaten
Für den Lehrgang gibt es eine lange Warteliste, erzählt Sporttherapeut Christoph Hoffmann während er wartet, bis alle Pfeile in den Zielscheiben stecken. Alle zwei Wochen kommen neue Soldaten:
"Wir sind auf eine Langzeitbetreuung ausgerichtet. Die Lehrgangsteilnehmer kriegen auch von uns, in Form von kleinen Zielen, Hausaufgaben auf ... Das sind Ziele, die mit Sport zu tun haben. Das kann aber vielfältig sein. Das kann sein, ich möchte wieder einmal zehn Kilometer am Stück um den See herumgehen können ohne Atemnot zu bekommen. Es kann aber auch sein, ich möchte an einem Volkslauf zehn Kilometer teilnehmen oder ich möchte meinen ersten Triathlon mitmachen."
Den Lehrgang gibt es seit Anfang 2012, sagt Christoph Hoffmann und entlässt Enrico und die anderen für heute:
"Bevor wir jetzt abhauen - Rico warte nochmal ganz kurz - ... Wir haben jetzt 16:20 Uhr. Das heißt, ihr könnt euch aufschreiben: 60 Minuten Bogenschießen. So dass wir heute insgesamt auf vier Stunden reinen Sport kommen. Das ist schon sehr ordentlich. Ab fünf Stunden pro Tag spricht man von einem Hochleistungssportler."
"Das heißt, wir treffen uns morgen früh wieder um 7:45 Uhr zu unserer morgendlichen Aktivierung. Morgen greifen wir dann schon mal ein bisschen mehr an, als heute. Da gibt es noch ein paar schöne Übungsvariationen, die wir mit reinbringen werden. Wir haben 45 Sekunden Leistungsdauer von Beginn an. Die Pausen werden auch ein bisschen kürzer. Und die Musik wird noch besser als heute. Genießt den Abend, das schöne Wetter."
An diesem lauen Sommerabend sitzt Enrico frischgeduscht an einem Holztisch draußen vor der Kantine. Bevor seine Kameraden kommen, druckst er rum, will noch etwas loswerden, erzählt dann von einer Krise, die er neulich hatte. Der Auslöser: banal. Es ging wieder mal um eines der zahllosen Formulare, die der Veteran für seine Ansprüche gegenüber der Bundeswehr ausfüllen sollte. Irgendwie kam eins zum anderen. Enrico fühlte sich überfordert und fing an zu schreien, zitterte am ganzen Körper und konnte nur noch stotternd dem verdutzten Vorgesetzten Paroli bieten. Das sind dann so Tage, an denen sich der Soldat abends mit Alkohol betäubt. Um runterzukommen, wie er sagt.
Sein Arzt weiß von diesen Aussetzern, weiß auch vom Alkohol und würde Enrico gerne wieder stationär aufnehmen. Enrico:
"Es ist nicht so, dass sie dann sagen, du musst jetzt da bleiben. Sondern - und das finde ich auch gut - sie machen das Angebot, dass du da bleiben kannst. Aber das habe ich dann gleich wieder ausgeschlagen. Weil es für mich bedeutet hätte, dass ich dann gleich wieder für mehrere Tage hätte dableiben müssen."
"Für mich ist es einfacher momentan NICHT in so einem Krankenhaus zu sein."
"Ich bin noch nicht so weit"
Beim letzten Mal habe er dort die meiste Zeit mit Malen und Aschenbecher schnitzen verbracht. Fünf Monate lang.
"... andere würden vielleicht sagen: Alles klar, mache ich mit oder so ... aber ich bin noch nicht so weit, dass ich wieder ins Krankenhaus zurückgehe."
Zwei Teilnehmer des Lehrgangs setzen sich dazu. Sie rauchen und trinken Radler. Das Bier trinken wollen sich die Männer abgewöhnen. Sie möchten ihren durchtrainierten Körper zurück haben, möglichst wieder so wie vor dem Einsatz aussehen. In den Jahren danach haben sie sich gehen lassen. Rückzug aufs Sofa mit viel Fast Food.
Alle drei waren in Afghanistan und kämpfen seit Jahren mit den Nachwirkungen des Einsatzes - die Männer mit famosen Heilungserfolgen, von denen Enricos Arzt gesprochen hatte: an diesem Tisch sitzen sie nicht. Dennis:
"Die Symptome sind ja bei allen fast gleich. Wenn man hier mal so rum guckt, die ganzen anderen, die hier sitzen, wenn die alle davon keine Ahnung haben (...), denken die mit Sicherheit: Aha, ganz normale Lehrgangsteilnehmer. Viele wissen das ja auch gar nicht. Was auch ganz gut so ist, weil dann wird man nicht von jedem angesprochen: Was ist hier mit euch und bla, bla, bla ... so hat man seine Ruhe."
Christian: "Es gibt ja auch noch genügend, die das nicht verstehen. Wo du dann noch, sage ich mal ... ausgelacht ist vielleicht ein bisschen übertrieben, aber belächelt wirst."
Sie erzählen Geschichten von PTBS-Kranken, die von Kameraden als Weicheier oder Simulanten beleidigt wurden. Anders als Soldaten, die bei einem Anschlag den Unterschenkel oder den Arm verloren haben, sieht man ihnen ihre Krankheit nicht an. Gerade die Kameraden von denen sie belächelt werden, hätten oftmals die größten Probleme, meint Dennis:
"Weil viele flüchten in den Einsatz. Die kommen und gehen direkt wieder und und und. Damit sie ja da unten sind. Weil sie mit dem Umfeld hier zu Hause nicht mehr klar kommen."
Dennis ist überzeugt: wie viele Soldaten der Krieg wirklich krank gemacht hat, wird sich erst viel später zeigen, wenn alle Soldaten wieder in der Heimat sind. Seit dem Abzug der Bundeswehr gab es in Afghanistan immer wieder Selbstmordanschläge mit vielen Toten. Auf Märkten, belebten Kreuzungen und sogar auf Hochzeiten. Die Taliban nutzen das Vakuum, das die Deutschen am Hindukusch hinterlassen. Enrico und seine Kameraden sind sich nach all dem nicht mehr so sicher, ob ihr Einsatz wirklich etwas verändert hat.
Zwei Stunden später verabschieden sich die Männer ins Bett. Hier schlafen sie zum ersten Mal nach langer Zeit wieder ein paar Stunden am Stück - so erschöpft sind sie vom Bogenschießen, Velofahren, Rollstuhlbasketball.
Und vom Frühsport...
Sieben Uhr 45 – nächster Morgen.
Der kleine Gymnastikraum ist mit roten Schaummatten ausgelegt. Die Tür hat der Sporttherapeut gleich aufgelassen. Manchen tropft schon der Schweiß hinunter.
Die Männer laufen durch den Raum. Auf Kommando von Sporttherapeut Hoffmann lassen sie sich auf den Rücken fallen, um dann schnellstmöglich wieder auf die Beine zu kommen – laufen weiter und legen sich bei der nächsten Ansage auf den Bauch:
"So, das nächste Mal stehen wir zwischen Pitsch und Patsch immer ganz aufstehen. Also nicht vom Bauch auf den Rücken drehen, sondern: ich mache mal Pitsch Patsch vor: Heißt Pitsch ... aufstehen ... und Patsch ... aufstehen und weiter. Nicht am Rand laufen Jungs, kreuz und quer! ... Pitsch, Patsch, Pitsch, Patsch. ......Patsch, Putsch, Putsch."
.....aufstehen, hinlegen, aufstehen, weiter laufen und wieder hinlegen......
Enrico wirkt etwas unbeholfen. Hoffmann:
"Wir kommen in die Bauchlage."
"Wir machen das große T und wie gestern: Mit dem rechten Bein zur linken Hand."
"Na, na so Wörter! Langsam zurück.
"Und langsam lösen. Und andere Seite."
Die Köpfe, die können nicht
Nach dem Frühsport, als das Mikrofon aus ist und alle Soldaten von den Physiotherapeuten massiert worden sind, erzählt der Sporttherapeut, dass es für ihn und seine Kollegen oft schwer ist, die Kameraden mit PBTS zu motivieren - sie an ihre Leistungsgrenze zu bringen. Ihre Körper könnten noch viel mehr, aber die Köpfe, die können nicht. Enrico:
"Da war vorhin noch Sonne ... ne, ist jetzt nicht mehr so doll."
Es ist Herbst geworden. Enrico sucht auf dem Friedhof, der gleich neben dem Bundeswehrkrankenhaus liegt, einen Platz in der Sonne. Er hatte gerade wieder einen Termin bei seinem Arzt und möchte sich jetzt ausruhen. In seiner Lederjacke steckt die Anmeldung zu einem stationären Aufenthalt in der Psychiatrie. Enrico:
"Aber die haben es jetzt tatsächlich geschafft nach drei Jahren, mich erneut dazu zu kriegen, stationär irgendwas anzufangen ... Begeistert bin ich nicht ..."
Was ist passiert? Im Sommer hatte doch alles noch so gut ausgesehen ... Die Arbeit mit den Pferden, die Sport-Therapie in Münster, das zurückgewonnene Lachen, ... ein paar Wochen später aber ist der Soldat wieder in ein tiefes Loch gefallen. Enrico:
"Ich habe gemerkt, dass ich in letzter Zeit.... ja ... meine Probleme damit gelöst habe, dass ich doch dem Alkohol ein bisschen zugesprochen habe. Das ändert nun mal nichts an der Tatsache - im Gegenteil - zeigt mir nur auf, dass da Probleme vorhanden sind und die muss ich jetzt langsam lösen. Oder beginnen zu lösen."
Enrico spürt, dass er knapp fünf Jahre nach seiner Rückkehr aus Afghanistan noch lange nicht am Ende seines Therapieweges ist. Dass er sich und anderen die meiste Zeit etwas vorgemacht hat ... Sich eingerichtet hat in seiner kleinen, übersichtlichen Welt: dem Leben ohne Partnerin, seiner Krankheit, der Posttraumatischen Belastungsstörung. Mit Beruhigungstropfen und zum Schluss mit dem Alkohol.
"Aber ich merke halt, dass ich immer noch Hilfe brauche"
Ihm fällt es sichtlich schwer, diesen Rückschlag einzugestehen. Während er spricht, zerrupft er ein trockenes Blatt, das er vom Boden aufgehoben hat. Enrico:
"Aber ich merke halt, dass da Probleme sind, wenn die Situation, wenn die Trigger ausgelöst werden, dass ich immer noch Hilfe brauche, dass ich auf Medikamente zurückgreifen muss oder wie jetzt mit dem Alkohol, um dann halt runterzukommen."
Wie zum Trotz sagt er dann noch, dass er insgesamt aber stabiler geworden sei und wieder gelernt habe zu genießen. Er wirft das völlig zerrupfte Blatt weg, schließt für einen kurzen Moment die Augen und lässt die letzten Sonnenstrahlen an diesem Herbsttag auf sein Gesicht scheinen.
"'Wir. Dienen. Deutschland.' Lautet das Motto der Bundeswehr. Was aber passiert mit Soldaten, die nach ihrem Einsatz in Afghanistan die Kriegsbilder nicht mehr loswerden – auch wenn sie längst wieder zurück in Deutschland sind? Wie kommen diese auf Disziplin und Durchhalten geeichten Männer damit klar, dass der Krieg sie psychisch krank gemacht hat? Es war nicht einfach, einen Soldaten zu finden, der mir diese Fragen beantwortet. Dann traf ich Enrico."