Krieg in der Ukraine
Für ukrainische Kriegsflüchtlinge sind die freiwilligen Helfer und Helferinnen am Berliner Hauptbahnhof mit die ersten Ansprechpartner. © IMAGO/Stefan Trappe
Wie spricht man angemessen mit traumatisierten Menschen?
06:46 Minuten
Viele der geflüchteten Menschen aus der Ukraine haben Traumatisches erlebt. Ehrenamtliche Helfer und Helferinnen sind diesen Erzählungen nicht immer gewachsen. Sie benötigen oft auch selbst Unterstützung beim richtigen Umgang mit den Menschen.
Berlin Hauptbahnhof, ein Nachmittag Ende April. Gerade ist es ruhig im Ankunftsbereich für die Geflüchteten aus der Ukraine. In den ersten Tagen nach dem russischen Angriff kamen hier jeden Tag rund 10.000 Menschen an – oft herrschte Chaos.
Notfallseelsorger Hans Zimmermann kommt seither einmal pro Woche zum Bahnhof – als eine Art mobiler Supervisor, ein Helfer für die Helfer. Er zeigt den Gang entlang. An dessen Ende informieren Freiwillige über Anschlusszüge, verteilen Fahrkarten.
Eine von ihnen: Natalia. Die 32-jährige Fotografin ist vor Jahren aus der Ukraine nach Berlin gekommen – und seit einigen Tagen eine von etwa hundert Freiwilligen, die hier zwischen vier und acht Stunden täglich Geflüchtete in Empfang nehmen, Essen verteilen, Auskünfte geben. Ein gutes Gefühl, sagt sie, aber die Stunden hinterlassen auch bei den Helfern Spuren.
„Wenn ich eine Mutter sehe, mit ganz kleinen Kindern, mit ganz vielen Koffern, die sie superschnell gepackt haben, das berührt mich wahnsinnig. Ich bin selbst Mama, ich habe ein kleines Kind", sagt Natalia und beginnt zu weinen. „Wenn ich mir jetzt vorstelle, dass ich jetzt fliehen muss und meinen Mann verlassen muss, dann ist das schon belastend“.
"Da ist ein großer Bedarf an Orientierung"
Was macht man, wenn man als Helfer nachfragt, für wie viele Erwachsene Tickets gebraucht werden und das Gegenüber daraufhin in Tränen ausbricht? Wenn jemand, gerade angekommen, zurück in die Ukraine will? Völlig orientierungslos ist? Oder – wenn jemand gar nicht mehr spricht?
„Und hier kommen jetzt natürlich die Anfragen an uns", berichtet Kerstin Lammer. Sie ist Leitende Dekanin des evangelischen Militärdekanats in Berlin – und hat als Professorin für Praktische Theologie zur Wirksamkeit von Seelsorge geforscht.
„Beispielsweise haben wir viele haupt- und ehrenamtliche Helfende in den Begrüßungszentren – und die merken dann eben auch: Die Betroffenen haben Leib und Leben gerettet, aber sind seelisch schwer belastet. Da ist ein großer Bedarf an Orientierung: Wie gehen wir mit diesen Leuten um, die mit so schrecklichen Erlebnissen und Bildern zu uns kommen? Und was können wir falsch machen?“
Wie geht man richtig mit traumatisierten Menschen um?
Wer als Privatperson spontan hilft, weiß in der Regel wenig über den richtigen Umgang mit psychisch stark belasteten, vielleicht traumatisierten Menschen. Aber auch Seelsorger aus kirchlichen oder staatlichen Organisationen und Verbänden geraten hier oft an ihre Grenzen, sagt Kerstin Lammer. Zwar seien sie in der Regel im Umgang mit Belastungssituationen geschult. Allerdings: Bei Traumatisierungen helfen die Interventionen oft nicht weiter, die üblicherweise in den Ausbildungen vermittelt werden.
„Da geht es darum, vorwiegend erinnern und erzählen zu lassen und dann immer schön auf die Gefühle fokussieren und spiegeln, was man aufgenommen hat. Und gerade diese Dinge sind bei traumatisierten Menschen ganz schädlich. Weil sie sie dazu anregen, immer tiefer in das Erleben der schrecklichen Szenen, die sie verfolgen, einzusteigen.“
Ohnmachtsgefühle können erneut hervorgerufen werden
Traumatisierende Erlebnisse können so eher verstärkt, Ohnmachtsgefühle erneut hervorgerufen werden. Besteht ein begründeter Verdacht, dass man es mit einer traumatisierten Person zu tun hat, sollte man stattdessen versuchen, deren Ressourcen zu aktivieren:
„Zum Beispiel – zu bestätigen: Du hast deine Kinder gerettet, du hast dich gerettet! Wie hast du das geschafft? Danach zu fragen! Nach dem, was man konnte und kann, und daraus auch eine Zuversicht entwickeln zu helfen: Ich werde auch die weiteren Herausforderungen bewältigen können.“
Als Handreichung hat Kerstin Lammer Video-Tutorials zum richtigen Umgang mit traumatisierten Personen ins Netz gestellt. Denn dieses Wissen dient zugleich der psychischen Gesundheit der Helfenden.
„Traumatisierung kann nicht nur entstehen durch direkte Betroffenheit von Katastrophen, Unfällen, Gewalterleben. Sondern auch, wenn man zu viel davon mittelbar miterlebt. Da sprechen wir von der sogenannten sekundären Traumatisierung. Wenn ich das hundertmal in einer Woche miterlebe, was andere Schreckliches durchlitten haben, kann es sich auf mich auswirken.“
Die Verantwortung der Aufnahmegesellschaft
Dass auch die Verfassung der Aufnahmegesellschaft, ihr Umgang mit Geflüchteten, einen Einfluss darauf hat, ob es nach Fluchterfahrungen zu Traumatisierungen kommt – darauf weist die interkulturelle Psychiatrie schon seit Jahren hin. Wer dort, wo er Sicherheit sucht, keine findet – etwa, weil er Ablehnung erfährt oder befürchten muss, bald wieder abgeschoben zu werden, prägt möglicherweise erst deshalb Traumasymptome aus, sagt lrike Kluge, Professorin für Integrations- und Migrationsforschung an der Charité Berlin.
„Da gibt es schon ganz interessante Studien, die sagen: Wenn ich psychisch sehr stabil bin, dann kann mein psychischer Apparat potenziell Gewalt aushalten. Wenn ich aber dann in meinem Aufnahme-Kontext zum Beispiel feststelle: Hier ist nie wieder herstellbar, was ich verloren habe – dann ist die Situation nach dem potenziell traumatisierenden Ereignis viel relevanter für die Symptomatik.“
Was passiert bei einem nächsten Krieg?
Wie mit potenziell traumatisierten Geflüchteten umgegangen wird, sagt deshalb immer auch etwas über die Gesellschaft aus, in die sie kommen: Für die Flüchtlinge aus der Ukraine gibt es kostenlose Züge, sie genießen Freizügigkeit, und im Umgang mit möglicherweise traumatisierenden Erlebnissen liegt der Fokus auf den Ressourcen. Aus psychologischer Sicht richtig und notwendig. Aber:
„Wenn jetzt ein Krieg oder eine Krisensituation wieder in einem anderen Kontext wäre – deswegen komme ich auf die Drittstaatsangehörigen – wo unsere eigene, auch politische und biografisch persönliche Involviertheit uns nicht so in die Verantwortung nehmen würde – wären wir in der Lage, das genau wieder so zu tun? Und ich würde sehr polemisch sagen: vermutlich nicht.“