Trauriges Märchen im Skiparadies

Von Anke Leweke |
In ihrem Film "Winterdieb" heftet sich Regisseurin Ursula Meier an die Fersen eines kleinen Jungen, der in einem Schweizer Skigebiet die Gäste beklaut. Die einfühlsame Kamera verschreibt sich ganz der Wahrnehmung des Kindes und gibt dem kleinen Einzelkämpfer und Selbstversorger die Aufmerksamkeit, die ihm im Leben fehlt.
Schon sein Gang zeigt, dass er nicht dazu gehört. Der kleine Held dieses Films geht gegen den Strom. Alle gehen Richtung Berghang und schnallen sich die Skier für die nächste Abfahrt an. Simon hingegen gehört nicht zu dieser Welt aus Spaß und Wintersport. Er bedient sich aber an ihr. Er ist ein Dieb. In ihrer Kindheit begegnete die Regisseurin Ursula Meier einem solchen Jungen. Jetzt, in ihrem zweiten Kinofilm, begibt sie sich auf seine Pfade.

"Ich bin am Fuße des Schweizer Jura aufgewachsen, und eines Tages hat unser Skilehrer uns, einer Gruppe von Kindern, einen kleinen Jungen gezeigt, der ganz alleine war. Er zeigte auf ihn: 'Nehmt euch in acht, das ist ein kleiner Dieb. Passt auf eure Sachen, auf euer Geld auf.' Dieser Junge war eine Art Paria in dieser Welt. Das hat meine Fantasie bis heute sehr beschäftigt, denn ich habe nie das Gesicht dieses Jungen gesehen. Mich hat es gereizt, mir in einem Film auszumalen, wer er war, wie er lebte. Ich habe nur in Erinnerung, dass er sehr einsam wirkte."

Ursula Meier erkundet diese Welt in der eigenen Welt - aus Simons Perspektive. Mit seinem Blick verwandelt sich das Skiparadies in ein Terrain zum Beutemachen. Wie ein Jäger pirscht er sich an die Skier und Rucksäcke vor den Restaurants und Cafes, wenn keiner hinschaut, greift er zu, dann taucht er in der Menge unter. Das Ski-Outfit liefert ihm dabei die perfekte Tarnung. Wenn er nach getaner Arbeit wieder unten im Tal angekommen ist, legt er dieses Kostüm ab und geht in sein reales Leben hinein. Was ist los mit diesem Kind?

"Er ist sehr beunruhigt und kompensiert seine Beunruhigung durch Geld. Wenn er die Skier verkauft hat und sich das Geld in die Taschen stopft, wenn er die Scheine zählt, dann beruhigt ihn das. Denn die Bindung an seine Schwester hält er durch Geld und Geschenke aufrecht. Er glaubt, man könne sich im Leben erheben. Ganz buchstäblich durch die Gondel, mit der er ins Skigebiet aufsteigt. Aber auch sozial und finanziell. Er kauft den Zugang zu dieser Welt, aber auch den Zugang zu seiner Schwester wie ein kleiner Kapitalist."

Die Kamera gibt dem kleinen Einzelkämpfer und Selbstversorger die Aufmerksamkeit, die ihm im Leben fehlt. Mit diesem Anteil nehmenden Blick kommt Ursula Meier ihrem Helden näher als mit psychologischen Erklärungen. Immer wieder sieht man Simon allein in der Wohnung sitzen, auf die junge Frau wartend, die er Schwester nennt. Ist sie endlich da, spielt er sich als ihr Beschützer und Ernährer auf, präsentiert stolz seine Beute. Neigt sich der Vorrat an Geld und Lebensmitteln dem Ende zu, fährt er vom Tal wieder nach oben in sein Revier. So nimmt der Film uns mit in eine Landschaft, deren Gipfel nie zu sehen sind, weil der Held keinen Blick dafür hat. Und auch die Kamera interessiert sich nicht für die pittoreske Bergkulisse, sondern für das, was dahinter und darunter liegt:

"Ich wollte gegen die Klischees angehen. Das Tal, in dem die beiden leben, sollte nicht zu trist aussehen. Daher habe ich mit der Kamerafrau Agnès Godard eine Kamerasprache entwickelt, mit Farben, mit Blautönen, die den Figuren etwas Märchenhaftes geben so wie den Fabeln bei Hans Christian Andersen. Ich wollte keinen Sozialrealismus. Den Bereich des Oben hingegen habe ich ganz anders gezeigt: Keine pittoresken Berge, keine weißen Gipfel, sondern wir sind in die Toiletten, in die Küchen der Saisonarbeiter gegangen. Ich habe also gegen das Erscheinungsbild dieser Skistation angefilmt."


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