"Eine krumme Gurke sieht eben natürlicher aus"
Vor 150 Jahren waren krumme Möhren das Normale, jetzt ist es plötzlich das Besondere. Jetzt entdecken sogar Supermärkte urwüchsiges Gemüse wieder für sich. Der Kulturwissenschaftler Dirk Hohnsträter sieht dahinter nicht nur nachhaltige, sondern auch ökonomische Interessen.
Dieter Kassel: Wenn Sie vor so ungefähr 20 Minuten schon zugehört haben, dann geht Ihnen vermutlich die Frage nicht aus dem Kopf, was eigentlich "FFV-10" ist. Ich habe es gesagt, es ist gar nicht mal so leicht zu googeln, ich sage es Ihnen einfach: Es ist tatsächlich eine Verordnung, die besagt, dass Möhren von frischem Aussehen und gerade geformt sein müssen, um als Ware der Extraklasse zu gelten. Und nein, es war diesmal nicht die EU, auch nicht die Verbraucherzentrale oder ein Bio-Label – das ist tatsächlich eine UN-Verordnung, eine allerdings, die man in Deutschland, glaube ich, gar nicht braucht, bisher nicht, weil Verbraucher bisher meistens sowieso nichts gekauft hätten, was nicht genauso aussieht. Und vielleicht braucht man sie manchmal bald aus einem anderen Grund nicht mehr, nämlich weil Verbraucher das gar nicht mehr so wollen.
Ein Jahr, nachdem bereits der Discounter Penny mit seiner Aktion "Biohelden" begonnen hat, nicht-perfektes Gemüse anzubieten, zieht jetzt auch Aldi-Süd nach mit einem Programm namens "Krumme Dinger". Und über den Trend zu vom Leben gezeichneten Früchten wollen wir deshalb jetzt mit Dirk Hohnsträter reden. Er ist der Leiter der Forschungsstelle Konsumkultur an der Universität Hildesheim. Herr Hohnsträter, schönen guten Morgen erstmal!
Dirk Hohnsträter: Guten Morgen!
Kassel: Ehrlich gesagt, seit ich auf der Welt bin, erzählen mir alle, die ich kenne, ach, ich brauche das gar nicht, bei mir kann das Gemüse krumm sein und Erde an den Kartoffeln. War das immer schon wahr, oder hat sich tatsächlich das Verbraucherbewusstsein geändert in letzter Zeit?
Steigendes Ökologisches Bewusstsein
Hohnsträter: Ich denke schon, dass der Trend zu diesem urwüchsigen oder irgendwie nicht so stark normierten Gemüse ein Trend ist, der noch nicht so alt ist. Man muss ja sehen, dass mit der Industrialisierung und auch mit der Industrialisierung der Landwirtschaft, die ja jetzt schon sehr lange zurückliegt – die Industrialisierung war ja schon im 19. Jahrhundert –, sich halt so ein Schönheitsideal durchgesetzt hat, das eben zur Glätte, zur normierten, geraden Form oder so geht. Und das hat sich durchaus geändert, natürlich vor dem Hintergrund von ökologischem Bewusstsein. Da sieht dann eben eine krumme Gurke urwüchsiger, natürlicher aus, und das ist dann wieder attraktiv.
Kassel: Aber heißt das, dass wirklich Verbraucher auch bei den Discountern, bei normalen Lebensmittelläden jenseits des reinen Bio-Bereichs bewusster einkaufen, dass sie nachhaltiger einkaufen, wirklich was Gutes tun wollen mit ihrem Einkauf?
Hohnsträter: Ich finde es erstmal interessant, dass Discounter überhaupt Bioprodukte anbieten oder jetzt eben auch diese nicht ganz so stark normierten Gemüse anbieten. Das zeigt ja schon, dass, was man gewisses Mainstreaming nennt, dass eben nicht nur in der Nische, im Bioladen oder im kleinen Tante-Emma-Laden um die Ecke solches Gemüse angeboten wird oder solche Produkte, sondern eben auch beim Discounter. Das ist erst mal interessant. Wie bewusst die Verbraucher das dann nachfragen, das ist natürlich schwer zu sagen. Zumindest scheint es eine gewisse Stimmung zu geben, die es begünstigt, solche Produkte anzubieten, und dass sie die dann eben auch loswerden.
Kassel: Fällt das auch so ein bisschen rein in diesen generellen Natur- und Landtrend? Zeitschriften wie "Landlust" – und es gibt inzwischen ganz viele ähnliche – sind sehr erfolgreich. Menschen haben zum Teil, gerade in den Städten, auch etwas sehr romantische Vorstellungen vom Landleben. Ist es nicht auch ein bisschen das, dass Leute sagen, so eine Möhre sieht ja viel echter aus, wenn sie krumm und dreckig ist?
Urwüchsige Möhre als Zeichen des Authentischen
Hohnsträter: Auf jeden Fall. Ich denke, dass die Möhre in dem Fall zunächst mal ja ein Symbol ist. Als Kulturwissenschaftler würden wir sagen, wir lesen die Möhre, so wie man ein Gedicht oder einen Roman liest, quasi als Zeichen, und sagen, die hat eine bestimmte Bedeutung. Und diese Bedeutung, die diese Möhre ausstrahlt, ist eben die der Urwüchsigkeit, des, salopp gesagt, Zurück-zur-Natur, des Ländlichen, des Authentischen vielleicht auch. Und das muss jetzt noch gar nicht bedeuten, dass diese Möhre gesünder ist oder irgendwie besser ist, sondern die ist einfach attraktiv aus ästhetischen Gründen, weil sie so aussieht, wie sie aussieht, nämlich irgendwie natürlicher.
Kassel: Hat das auch was mit sozialen Entwicklungen, die vielleicht nicht mehr unmittelbar was mit Lebensmitteln zu tun haben, zu tun? Ich meine, das ist ja auch eine Abgrenzung, wenn ich sage, also guckt, bei mir in der Küche, da sind echte Möhren, da sind echte Kartoffeln, da ist auch keine H-Milch – damit symbolisiere ich ja auch meine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe.
Hohnsträter: Auf jeden Fall. Wir nennen das den Distinktionswert einer Ware. Das ist etwas, was man auch schon sehr lange natürlich kennt, dass bestimmte Produkte ein bestimmtes Image haben, ein bestimmtes Prestige ausstrahlen und damit natürlich auch eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ermöglichen oder ausdrücken. Und da würde ich sagen, ist das jetzt eben so, dass bestimmte Produkte eine Zugehörigkeit zu der Gruppe derer, die, sagen wir mal, sich kümmern um die Natur, die dafür irgendwie eine Sensibilität haben, die vielleicht auch einfach auf eine weniger industriell geprägte Art und Weise leben wollen.
Kassel: Einen Vorteil hat es ja, wenn nicht-perfektes Gemüse verkauft wird, in welchem Laden auch immer: Es muss nicht weggeschmissen werden oder im Tierfutter oder sonst wo landen. Weil, gegeben hat es das immer. Es war nur teilweise unverkäuflich in Märkten in Mitteleuropa. Ist das auch so ein neues Verbraucherbewusstsein, dass man nicht nur daran denkt, was man kauft, sondern auch daran denkt, welchen Müll man provoziert, wenn man zu viel kauft oder das falsche kauft?
"Man kann was verkaufen, was man sonst wegwerfen musste"
Hohnsträter: Mag auch mitspielen. Ich bin mir nicht so sicher, ob jemand, der jetzt in einen Discountermarkt geht und Gemüse kauft, gleich so weit denkt, also praktisch die ganze Wertschöpfungskette von der Produktion bis hin eben zur Entsorgung mitdenkt und möglicherweise auch das, was an Überschüssen produziert wird und weggeworfen wird und so weiter. Das schwingt sicherlich auch mit. Ob das dann immer so präsent ist jeweils vor Ort, beim Kauf, das weiß ich nicht, aber das ist natürlich sicherlich auch eine Seite davon. Und im Übrigen natürlich auch für die Märkte eine ökonomische. Da ist es nicht nur das ökologische Bewusstsein – man kauft anders –, es ist natürlich auch ein ökonomisches – man kann was verkaufen, was man sonst wegwerfen musste.
Kassel: Mal ganz ehrlich, wenn ich jetzt ganz raffiniert und auch ein bisschen böse wäre, würde ich jetzt als Lebensmittelverkäufer sagen, ich kaufe ganz billiges Restgemüse und verkaufe das zum doppelten Preis wie sonst, weil ich sage, das ist das Allerbeste, ist ja krumm. Glauben Sie, darauf würden alle reinfallen, oder würde sich der Verbraucher so was nicht bieten lassen? Wenn es wirklich am Ende schlicht nicht schmeckt?
Hohnsträter: Ja, wenn es nicht schmeckt, dann wird es natürlich irgendwann nicht mehr verkauft. Aber ich finde es sehr interessant, man kann ja so kulturhistorisch beobachten, jeder Trend produziert praktisch seinen Gegentrend. Und wir hatten eben lange Zeit diesen Trend zum Normierten, und jetzt ist plötzlich das Gegenteil wieder attraktiv, das es ja vorher auch schon gab. Aber das wird jetzt sozusagen neu bewertet, anders aufgeladen, und das, was vor sagen wir mal 150 Jahren das Normale war, ist jetzt plötzlich das Besondere, nämlich Gemüse, das so aussieht, wie es aussähe, wenn man es einfach so wachsen ließe. Das finde ich schon faszinierend, wie das zurückkehrt, aber dann eben in einer neuen, durchaus auch mit mehr Prestige aufgeladenen Assoziation, die damit verbunden sind.
Kassel: Vielleicht können wir ja in zehn, 20, 30 Jahren ja mal miteinander darüber reden, warum die Leute alle wieder glattes und gerades Gemüse haben wollen. Ich danke Ihnen für heute, Dirk Hohnsträter war das, er ist der Leiter der Forschungsstelle Konsumkultur an der Universität in Hildesheim. Danke, dass Sie ins Studio gekommen sind.
Hohnsträter: Sehr gern!
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