Ein ganz normaler Nachmittag in einem Real Supermarkt. Es ist voll und an den Kassen haben sich Schlangen gebildet. Die Kassiererinnen tun was sie können, dennoch sind einige Kunden ungeduldig. Ihnen macht der Supermarkt ein Angebot. Etwas abseits ist ein vollautomatisches Kassensystem aufgebaut. Die Versuchung ist groß. Es sieht einfach aus und man muss man nicht warten, dafür allerdings mitarbeiten und die Waren selbst einscannen.
Frauen-Computerstimme: "Willkommen bei Real. Wenn Sie eine Payback-Karte besitzen, scannen Sie diese jetzt. Beginnen Sie mit dem Scannen."
Frauen-Computerstimme: "Ein Euro, neunundneunzig Cent."
Frauen-Computerstimme: "Fünfundfünfzig Cent."
"Schattenarbeit" nennt der der US-amerikanische Soziologe Craig Lambert solche Tätigkeiten. In seinem Buch "Zeitfresser" zeigt er wie und wo Verbraucher diese unbezahlte Arbeit leisten und das auch noch als selbstverständlich hinnehmen. Nach anfänglichen Eingewöhnungsschwierigkeiten, seien wir, so Lambert, in dieser Hinsicht gewissermaßen gut dressiert.
"Allein durch das Ausweisen spezieller Sammelstellen für Einkaufswagen auf Parkplätzen können Supermärkte ihre Kunden dazu bringen, ihre Wagen selbst aufzuräumen. Die angestammte Kooperationsbereitschaft der meisten gut sozialisierten Erwachsenen sorgt schon dafür."
Das Einscannen der Waren an der Kasse und das Zusammenräumen der Einkaufswagen seien in Sachen Schattenarbeit nur die Spitze eines immer größer werdenden Eisberges. Vorreiter und Antreiber dieser Entwicklung ist der skandinavische Möbelriese IKEA. Das behauptet nicht nur Craig Lambert.
Günter Voss: "Die haben nämlich noch einen weiteren Schritt gemacht: nicht nur, dass man sich selbst bedient, sondern dass man die Endfertigung des Produkts – also der Aufbau des Regals oder was auch immer – übernimmt."
Günter Voss, emeritierter Professor für Industrie- und Technik-Soziologie aus München.
Voss: "Und eine andere Leistung ist das, was dann ganz früh schon bei McDonald’s und inzwischen bei allen Fast-Food-Lokalen passiert: dass wir selber aufräumen oder selber von einem Tresen etwas abholen. Und meine ironische Bemerkung ist: Noch müssen wir nicht saubermachen - aber ich warte mal drauf, dass das auch noch kommt."
Egal, ob es sich um das Wegräumen des Geschirrs bei McDonald’s handelt, das Abheben von Bargeld in der Bankfiliale oder das Betanken des eigenen Fahrzeugs an der Zapfsäule: Soziologen sprechen davon, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten – und von uns allen nahezu unbemerkt - ein völlig neuer Käufer-Typus herausgebildet hat: der sogenannte arbeitende Kunde. Im Gegensatz zum klassischen, eher passiv agierenden Käufer ist der arbeitende Kunde bei der Produktion von Gütern oder beim Erbringen von Dienstleistungen aktiv beteiligt. In Deutschland hat diese Entwicklung in den 1950er-Jahren begonnen – mit dem Aufkommen der ersten Supermärkte.
"König" Kunde bedient sich selbst
Werbespot: "In West-Deutschland wird es seiner Majestät, dem Kunden, mit den neuen Selbstbedienungs-Läden immer leichter gemacht. In diesem, soeben in Düsseldorf eröffneten Geschäft bedienen Sie sich selbst auf einem Rundgang, der Sie an allen Waren vorbeiführt."
Voss: "Die Kunden mussten sich erst daran gewöhnen, dass das ganz neuere Vorgänge sind. Zum Beispiel auch, dass das Herausholen aus dem Regal auch ja schon ein Entscheidungsprozess ist. Man geht nicht hin und sagt: 'Ich brauche das und das', und die Verkäuferin berät einen und legt einem was vor. Sondern man muss sich selber das auswählen. Das heißt, die Kunden treffen die Entscheidung schon am Regal – und nicht dann, wenn sie einer Verkäuferin gegenüberstehen."
Günter Voss beschäftigt sich mit dem Phänomen des arbeitenden Kunden schon seit rund zwanzig Jahren. Dass viele Menschen bereit sind, quasi freiwillig verschiedene Aufgaben zu übernehmen, für die früher Fach- und Servicekräfte zuständig waren, überrascht den Soziologen nicht. Dies sei vor allem auf den Wertewandel zurückzuführen, der im Zuge der politischen Protestbewegungen Ende der 1960er-Jahre einsetzte.
Voss: "Traditionelle Werte, noch aus der Vorkriegszeit, erodierten. Und ein Teil dieses Wertewandels war, dass selbst Entscheidungen treffen – wenn man so will, auch ein demokratischer Wert –, sich zu beteiligen etwa bei Auswahl-Prozessen hinsichtlich von Produkten, die man kaufen will -, dass das auf einmal ein Wert war, und man auch stolz darauf war, das zu können und auch zu machen. Also: Die Akzeptanz hatte viel auch mit diesem Wert auf Seiten der Konsumenten zu tun. Sonst hätte das nicht funktioniert."
Undatiertes Foto eines Supermarkts in Westdeutschland.© picture alliance/dpa/Foto: Kurt Röhrig/Helga Lade
Der Käufer als Co-Produzent
Zu Beginn beschränkten sich die Aktivitäten der arbeitenden Kunden in der Regel auf den Dienstleistungs-Sektor - wie etwa die Selbstbedienung beim Einkaufen oder das Gründen einer Selbsthilfe-Gruppe im Gesundheitswesen. Im Zuge der Do-it-yourself-Bewegung der 1970er-Jahre begannen die Konsumenten dann zunehmend damit, auch handwerkliche Tätigkeiten zu übernehmen. Dies wiederum wussten Firmen wie IKEA clever für sich zu nutzen: Sie übertrugen den Käufern fortan quasi die Rolle des Co-Produzenten. Die Endfertigung der Möbel ging damit vom eigentlichen Hersteller auf den Kunden über. Im Gegenzug bekommt der die Ware seitdem dafür günstiger.
Aus Sicht der Industrie-Soziologie wird der Verbraucher auf diese Weise faktisch zur externen Arbeits- und Produktionseinheit eines Unternehmens – und damit zur betrieblich funktionalen Arbeitskraft, ohne jedoch dabei den formellen Status als lohnabhängig Beschäftigter zu erlangen. Die Kompetenz des arbeitenden Kunden – im Beispiel IKEA also das Zusammenbauen der Möbel – wird in eine betrieblich verwertbare, praktische Leistung umgewandelt. Der Industrie-Soziologe Günter Voss beschreibt in einem Aufsatz mit dem Titel "Der Arbeitskraft-Unternehmer", um was es dabei geht.
"Danach kauft ein Unternehmen mit der Einstellung von Mitarbeitern in der Regel nicht vertraglich eindeutig definierte Tätigkeiten, sondern allein für bestimmte Zeiträume das Potenzial der Personen, Arbeit verrichten zu können – also potenzielle Arbeits-Kraft und nicht fertige Arbeits-Leistung. Der ökonomische Akt des Kaufs von Arbeitskraft garantiert noch nicht die gewünschte Arbeit, schon gar nicht in der erhofften Qualität und Quantität. Um die Arbeitskraft in die erforderliche Leistung zu transformieren, müssen zusätzlich zur Entlohnung organisatorische Vorkehrungen zur aktiven Steuerung und Überwachung von Arbeitstätigkeiten getroffen werden."
Im Klartext: Um bei ihren eigenen Mitarbeitern eine möglichst optimale, messbare Arbeitsleistung zu erreichen, steht eine Firma oft vor enormen innerbetrieblichen Herausforderungen. Mit dem arbeitenden Kunden der Neuzeit, der sich in der Regel hoch motiviert ans Werk macht, ersparen sich viele Unternehmen diesen Aufwand – wenn auch nur in Bezug auf ganz bestimmte Tätigkeiten, wie etwa den Zusammenbau von Möbeln. Dass sich dies letztlich nicht nur für den Verbraucher bezahlt macht, liegt auf der Hand.
Bleiben wir beim Beispiel IKEA. Von "Billy", dem Kult-Regal des schwedischen Möbelhauses, wurden bis heute weltweit über 50 Millionen Stück verkauft. Veranschlagt man für den Aufbau des Klassikers pro Exemplar nur 15 Minuten Arbeitszeit, dann kommen insgesamt 12,5 Millionen Arbeitsstunden zusammen, die IKEA-Kunden alleine beim Billy-Aufbau erbracht haben. Den Mindestlohn von acht Euro fünfzig zugrunde gelegt, hat IKEA damit bis heute deutlich über 100 Millionen Euro an Arbeitskosten auf seine Kunden abgewälzt. Wie mag die Rechnung da erst bei Möbelstücken ausfallen, die mit deutlich mehr Aufwand zusammenzubauen sind? Von kompletten Küchen ganz zu schweigen…
Heimwerkern zu Hause: Montage eines Ikea Billy-Regals.© picture alliance/dpa/Foto: Alexander Stein
Voss: "Eine viel interessantere Stufe ist das, was eigentlich dann jetzt – oder das ist auch schon eine Zeit her – mit der Entstehung des Internet, vor allem aber des sozialen Internet, also dem Internet 2 oder Web 2.0 entsteht: nämlich, dass über die neuen technischen Möglichkeiten, die sich ja explosionsartig vervielfältigen, mit den kleinen Geräten, die wir alle dabeihaben, man an vielen Stellen sich einklinken kann in Prozesse aller Art. Und dies haben die Betriebe sofort genutzt, um Kunden einzubeziehen in eine erweiterte Form von Selbstbedienung."
Fluggesellschaften sparen Personal durch "Self-Check-In"
Die Zeiten, in denen man beim Check-In am Flughafen immer lange in der Schlange anstehen musste, sind weitgehend vorbei. Internet und Smartphone sorgen inzwischen dafür, dass Fluggäste schon einen Tag vor dem Abflug von zuhause aus einchecken können. Die Bordkarte gibt es dann entweder direkt aufs Handy oder vor Ort am Check-In-Automaten zum Selbstausdrucken.
Wolfgang Weber: "Die Zahl der Passagiere, die also das Self-Check-In – Easy-Check-In kann man es auch nennen – nicht in Anspruch nehmen, die wird von Jahr zu Jahr kleiner. Im Grunde genommen: Wer es einmal gemacht hat, möchte es nicht mehr missen."
Wolfgang Weber, Pressesprecher für die Regionen Nord- und Ostdeutschland bei der Deutschen Lufthansa.
Weber: "Und vor allen Dingen: Es hat natürlich den großen Vorteil, dass Sie bei uns beispielsweise dreiundzwanzig Stunden vor Abflug selbst einchecken können. Das kann mitten in der Nacht sein, wann immer. Und Sie können es zuhause machen und Sie können dann gleichzeitig natürlich Ihren Sitzplatz wählen. Das ist natürlich ein großer Vorteil gegenüber all denen, die damit warten bis kurz vor Abflug."
Wieviel Personalkosten die Lufthansa womöglich alleine dadurch spart, dass viele ihrer Fluggäste den Check-In selbst übernehmen, kann – oder möchte? – der Unternehmens-Sprecher leider nicht verraten.
Weber: "Diese Dienstleistungen, gerade in diesem Bereich hier, die sind natürlich an vielen Flughäfen – aber das ist sozusagen von Flughafen zu Flughafen unterschiedlich -, die sind auch teilweise ausgelagert, an Tochtergesellschaften oder an Fremd-Dienstleister. Insofern kann man da nicht einfach eins zu eins sagen: 'Das ist jetzt so, und da haben wir so und so viel Personal eingespart.' Es ist auch nicht wirklich die große Einsparung an Personal jetzt gegenüber beispielsweise vor zehn Jahren, sondern es geht ja darum: Wir müssen ja von Jahr zu Jahr eine größere Menge an Passagieren sozusagen bewältigen, abfertigen. Und da hilft es in erster Linie."
Flugreisende stehen im April 2018 am Münchner Flughafen an einem Self-Check-In-Schalter.© picture alliance/dpa/Foto: Matthias Balk
"Schattenarbeit verdrängt Arbeitsstellen an der Schnittstelle zum Kunden - beispielsweise an der Kasse in der Drogerie", schreibt Craig Lambert.
"Sie stellt eine maßgebliche Kraft dar, die den Arbeitsmarkt dezimiert und im Verborgenen wirkt. Insbesondere vernichtet sie Jobs auf der Einstiegsebene, auf der zahllose Karrieren begonnen haben. Solche Jobs bilden das Fundament der Wirtschaftspyramide. Sie sind schlecht bezahlt, aber Grundlage für alles, was danach kommt. Für Menschen ganz ohne weiterführende Bildung oder Qualifikation sind solche niedrig angesiedelten Positionen häufig alles, was ihnen an "Karriere" möglich ist. Verschwinden sie, sitzen bald jede Menge junger Menschen auf der Straße – mit wenig Geld und zu viel Zeit."
Karl Brenke: "Also, bei uns im Institut hat das noch niemand erforscht."
Karl Brenke, Arbeitsmarkt-Experte am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, kurz: DIW.
Brenke: "Und weltweit kenne ich auch keine entsprechenden Studien, wo systematisch mal angegangen wurde, welche Effekte denn aus dieser Tendenz, dem Kunden Leistungen zu übertragen, die vorher von Unternehmen selbst erbracht worden sind – welche ökonomischen Effekte das gehabt habe (sic!). Das liegt wohl daran, dass auch in der Wissenschaft – und nicht nur beim Kunden allgemein – akzeptiert wird, dass es eben diese Mechanismen gibt, dass die Unternehmen sparen wollen und der Kunde von daher Leistungen erbringt, die eigentlich früher zum Service gehört haben."
Kaum noch Jobs für Menschen ohne Ausbildung
Laut DIW ist der Anteil an Jobs, für die keine Berufsausbildung nötig ist, in den vergangenen Jahren in Deutschland deutlich gesunken: zwischen 2000 und 2013 von 28 auf 21 Prozent.
Brenke: "Das spiegelt sich auf der anderen Seite natürlich auch bei den Arbeitslosen wieder. Und da kann man sehen, dass eben gerade diejenigen Betroffenen besonders große Probleme haben, wieder in einen Job zu kommen, die keine Berufsausbildung haben. Hier haben wir ein krasses Missverhältnis zwischen Arbeitslosen und offenen Stellen: Auf eine offene Stelle für einen einfachen Job kommen derzeit 14 Arbeitslose, die keine Berufsausbildung haben."
Die Auswirkungen der Schattenarbeit bleiben keineswegs auf Jobs für Berufstätige mit geringer Qualifizierung beschränkt. So erledigen wir zum Beispiel als Bankkunden inzwischen viele Dinge selbst, für die ursprünglich einmal geschultes Fachpersonal vonnöten war - vom Ausführen einer Geldüberweisung bis hin zum Verwalten des eigenen Wertpapier-Depots. Eine ähnliche Entwicklung hat sich in den vergangenen Jahren in der Reisebranche vollzogen. Mit Aufkommen des Internet schossen Websites wie Expedia, Opodo und Kayak.de förmlich wie Pilze aus dem Boden. Noch einmal Craig Lambert:
"Die Kunden konnten solche Webseiten besuchen, ihr Reiseziel und die Daten eingeben und einen Preisvergleich durchführen. Sie konnten eine breite Palette verfügbarer Fluggesellschaften, Routen und Preise einsehen. Auf Hotelseiten wie hotels.com konnten sie ihre Unterkunft ebenso buchen. Die Kunden glaubten, damit über dieselben Informationen zu verfügen wie die Reisebüros (was aber nicht stimmt). Der Vormarsch der Internet-Reiseanbieter hatte zwei Folgen: Die Demokratisierung der exklusiven Erkenntnisse, die Reisebüros vordem ihre Glaubwürdigkeit vermittelten, und eine Flut von Schattenarbeit für die Reisenden."
Die Folgen für die Reisebranche waren fatal. So schrumpfte Lambert zufolge die Zahl konventioneller Reisebüros in den USA von 1996 bis 2010 um mehr als die Hälfte. Ähnlich sah die Entwicklung lange Zeit in Deutschland aus. Von 13.700 stationären Reisebüros im Jahre 2004 blieben bis 2013 nur knapp 10.000 übrig – ein Rückgang um rund 30 Prozent. Erst 2015 wurde dieser Trend gestoppt, die Zahl der Reisebüros nahm sogar wieder leicht zu. Der Deutsche Reiseverband führt dies auf eine wachsende Überforderung der Verbraucher zurück. Die Flut selbst buchbarer Reiseangebote lässt demnach offenbar immer mehr arbeitende Kunden an ihre Kompetenz-Grenzen stoßen. Stattdessen scheint wieder verstärkt der persönliche Service durch qualifiziertes Fachpersonal gefragt zu sein.
Persönlicher Kundenservice kann sich lohnen
Eine Tankstelle im Berliner Bezirk Kreuzberg. Auch hier wird persönlicher Service großgeschrieben, und zumindest so manch älterer Autofahrer dürfte sich an diesem Ort in eine längst vergessene Zeit zurückversetzt fühlen – in eine Ära, in der es noch Tankstellen mit Komplettbedienung gab. Denn was heute fast antiquiert anmutet, war noch bis in die 1980er Jahre hinein gang und gäbe: kein Kunde musste früher das Auto verlassen, um sein Fahrzeug selbst zu betanken. Stattdessen war für derlei vermeintlich niedere Dienste ein ausgebildeter Tankwart zuständig. Seit einigen Jahren ist dieser nun zurückgekehrt – und zwar im Zuge einer sogenannten Service-Offensive des Mineralöl-Konzerns Shell, an ausgewählten, besonders stark frequentierten Tankstellen.
Torsten Schulze: "Also, wir haben ganz gezielt Kunden, die nur herkommen, wenn der Tankwart-Service da ist. Das heißt: die auch explizit fragen: 'Wann ist der denn da?'"
Torsten Schulze, Pächter von sechs Shell-Tankstellen in Berlin.
Schulze: "Die Aufgaben des Tankwart-Service sind in erster Linie, den Kunden zu betanken – auf Wunsch zu betanken, ihm die Scheiben zu reinigen, und der Tankwart-Service bietet an, dass er Öl kontrolliert, Wasser – Winter-Klarsicht oder Sommer-Klarsicht - nachgefüllt wird. Der Tankwart-Service – wenn der Kunde das wünscht – prüft auch die Luft oder tauscht auch mal eine Birne aus, wenn die defekt ist."
Torsten Schulze bietet den Tankwart-Service an insgesamt drei seiner Tankstellen an, jeweils montags bis freitags zwischen zehn und 18 Uhr 30. Für die Kunden ist das Angebot zwar kostenlos. Der erhöhte Kostenaufwand, den der dafür zusätzliche eingestellte Mitarbeiter verursacht, rechnet sich für den Pächter aber anscheinend trotzdem.
Torsten Schulze: "Am Schluss dient der Tankwart-Service nicht nur dazu, den Kunden zu helfen bei der Betankung – oder das Öl zu prüfen -, sondern wir haben eine ganze Menge Stammkunden, die sehr dankbar dafür sind, dass es diesen Service gibt. Und das macht sich natürlich automatisch auch bemerkbar, wenn es um Shop-Umsätze geht oder um Wasch-Umsatz. Das heißt also, den Kunden praktisch binden, das ist wie eine Art Kundenbindungs-Programm. Also, ich glaube, dass wir unter dem Strich - auch, wenn der Service kostenlos ist – davon profitieren, durch mehr Umsatz. Das hat sich auch bestätigt nach der Einführung des Tankwart-Service."
Kundin tankt selbst an einer Tankstelle in Hamburg.© picture alliance/dpa/Foto: Christin Klose
Geht der Trend in die entgegengesetzte Richtung?
Das Wiedererstarken stationärer Reisebüros, die Rückkehr des Tankwarts – sind das etwa erste Vorzeichen dafür, dass wir in unserer Rolle als Kunden in Zukunft vielleicht doch wieder weniger werden arbeiten müssen? Günter Voss ist da skeptisch.
Voss: "Es gibt zunehmend Service-Angebote, wo man überhäuft wird mit Service – aber dafür muss man bezahlen. Das ist nur für die Edel- und Premiumkunden, was auch immer. Also, Service wird es weiterhin geben – aber für wen und unter welchen Bedingungen?"
"Hallo Christian! Wir freuen uns sehr, dass du dein Projekt mit Jimdo umsetzt. Vielen Dank für dein Vertrauen! Wir schreiben dir heute, weil wir deine Hilfe brauchen. Wir arbeiten ständig daran, Jimdo zu verbessern und Funktionen zu entwickeln, die euch Jimdo-Nutzer begeistern und unterstützen. Dafür sind wir auf eure Rückmeldungen angewiesen. Bitte schenke uns deshalb zehn Minuten deiner Zeit und nimm an unserer Kundenumfrage teil – du hilfst uns damit wahnsinnig! Herzlichen Dank für deine Unterstützung! Dein Jimdo-Team."
Wohl jeder von uns kennt derartige Nachrichten, die hin und wieder in unserem E-Mail-Postfach auftauchen – wie in diesem Fall die Bitte eines Internet-Providers, an der Verbesserung seiner Dienstleistung mitzuwirken. Der Begriff Arbeit taucht in diesem Zusammenhang selbstverständlich nicht auf.
Christian Papsdorf: "Also, man kann Crowdsourcing ohne Probleme als eine neue Form des Outsourcings bezeichnen."
Christian Papsdorf, Junior-Professor für Technik-Soziologie an der Technischen Universität Chemnitz.
Papsdorf: "Es gibt also sehr viele Parallelen. Outsourcing bezeichnet ja generell einen Prozess des Auslagerns von Arbeitstätigkeiten – eher so in den 90er-Jahren oder den nuller Jahren – in Niedriglohnländer. Und eine Auslagerung, ein Outsourcing, findet auch bei Crowdsourcing statt. Allerdings im ersten Zugang nicht in spezielle Länder halt, sondern eher ins Internet halt, also an die Masse der User. Also, es gibt da oft so offene Aufrufe: Beteiligt Euch daran oder daran. Und das sind in der Regel Arbeitstätigkeiten, die vorher von Unternehmen selbst erbracht wurden und eben jetzt ausgelagert werden."
In der Fachwelt heißt es "User Innovation"
Der Begriff Crowdsourcing setzt sich zusammen aus den Wörtern Crowd und Outsourcing. Er bezeichnet in der Regel das Auslagern bestimmter Teilaufgaben aus einem Unternehmen an eine Gruppe freiwilliger Internet-Nutzer. In seinem Buch "Die Zeitfresser" beschreibt Craig Lambert, wie das Crowdsourcing vor allem von Technologie-Unternehmen nach und nach in den Alltag der Verbraucher eingeführt wurde.
"Als Anfang der 1980er-Jahre PCs auf den Markt kamen, standen die Hersteller vor der enormen Aufgabe, ihren Kunden beizubringen, wie man mit der neuen Technik umging. Hard- und Softwareanbieter boten technischen Support über gebührenfreie Hotlines. Man erreichte versierte Unternehmens-Mitarbeiter, die Fragen beantworteten. Jahrelang boten die Firmen diesen Service unentgeltlich an, aber er war arbeitsintensiv und kostspielig. Nach ein paar Jahren ließen die Unternehmen diesen aufwendigen Support auslaufen. Sie verwiesen die Kunden stattdessen auf Websites. Dort konnten sie sich Listen mit FAQs ansehen und per E-Mail Fragen stellen. Im nächsten Schritt überließen es die Hersteller anderen Nutzern, Nutzerprobleme zu lösen. Es fand im Grunde ein Crowdsourcing des technischen Supports statt."
Seitdem sind Nutzer meist dazu aufgerufen, einem Technik-Forum des sie betreffenden Herstellers beizutreten, wenn sie Hilfe brauchen. Dort können sie dann ihre Fragen zu einzelnen Produkten stellen. Andere Nutzer versuchen dort, online zu antworten – natürlich kostenlos. Kunden leisten also Schattenarbeit, indem sie die Aufgabe des technischen Supports übernehmen. Und das jeweilige Unternehmen kann sich darüber freuen, dass es eine globale Gemeinschaft begeisterter Kunden auf die Beine gestellt hat.
Unternehmen nutzen das Crowdsourcing keineswegs nur für ihren technischen Support. Auch wenn es darum geht, Produkt-Innovationen voranzutreiben, übernehmen arbeitende Kunden eine immer wichtigere Rolle. Die Fachwelt hat dafür den Begriff "User Innovation" geprägt. Noch einmal Christian Papsdorf von der TU Chemnitz.
Papsdorf: "Dell zum Beispiel, der Computer-Hersteller – die hatten eine riesige Initiative mit Zehntausenden von Einsendungen, wo es also von den Usern ganz viele Vorschläge gab, was alles besser gemacht werden könnte, und Dell hat sich damit natürlich die (die) Marktforschung gespart und teilweise auch die Entwicklung von Innovationen, weil die User einfach ganz offen gesagt haben, was sie haben wollen, wie man das machen kann und wieviel sie bereit wären, dafür zu bezahlen."
Internet verstärkt den Selbstbedienungstrend
Indem Unternehmen die private Produktivität der Konsumenten für eigene Zwecke nutzen, machen sie diese gewissermaßen zu Wertschöpfungs-Partnern. Dass die Internet-User ihre Jobs als arbeitende Kunden dabei so klaglos erledigen, hat laut Christian Papsdorf einen einfachen Grund: Die meist jüngeren, hoch internet-affinen Menschen kennen es gar nicht anders.
Papsdorf: "Es war ganz am Anfang auch die Neugier, der Spaß, überhaupt mit zu machen. Die Möglichkeit überhaupt zu haben, einem großen Unternehmen, einem Automobil-Hersteller oder so was, als kleiner User, als Amateur, was sagen zu können, was die auch ernst nehmen. Also sozusagen demokratisch mitzuarbeiten an technischen Entwicklungen zu partizipieren."
Ähnliche Ziele wie das Crowdsourcing verfolgt aus Sicht der Unternehmen die sogenannte Mass Customization. Bei dieser individualisierten Form der Massenfertigung können die arbeitenden Kunden Massenprodukte selbst so gestalten, dass diese jeweils auf ihre persönlichen Bedürfnisse zugeschnitten sind. So lässt sich zum Beispiel im Online-Konfigurator eines Automobil-Herstellers ein individuelles Fahrzeug zusammenstellen oder über die Website einer Textil-Shops ein T-Shirt mit persönlichem Motiv bedrucken. In der Regel gehen die Rechte an dem vom Kunden entwickelten Logo oder Design für das einzelne Shirt dann an den Website-Betreiber über - und sind somit für diesen anschließend frei verfügbar.
Papsdorf: "Der Nutzen für ein Unternehmen liegt darin, dass es unzählige Varianten seines Produktes anbieten kann. Also mit einem relativ geringen Aufwand bekommt es ein zielgruppengerechtes Design, was die Leute, die es kaufen, auch noch selbst designen, das ist also quasi ein sehr starkes Verkaufsargument. Und man kann automatisch mit einem Drucker oder einer Produktionsmaschine oder was auch immer Zehntausende verschiedene Produkte anbieten – und ist sich sicher, dass es gekauft wird."
Um aus Internet-Nutzern arbeitende Kunden zu machen, bedarf es aber keineswegs unbedingt des Crowdsourcings oder der Mass Customization. Es reicht völlig aus, auf der Webseite eines Versandhauses Produkt- und Kundenbewertungen zu hinterlassen, über eine Auktionsplattform gebrauchte Waren anzubieten oder bei Youtube ein Video hochzuladen. Durch diesen sogenannten User generated Content tragen letztlich wir alle dazu bei, den Wert einzelner, oft börsennotierter Unternehmen zu steigern – in den meisten Fällen ohne, dass uns dies wirklich bewusst ist und auch, ohne dafür entlohnt zu werden.
Für den Industrie-Soziologen Günter Voss steht fest: Der arbeitende Kunde der Zukunft wird zunehmend unter Druck geraten, vermehrt solche Leistungen zu erbringen, die für Unternehmen ökonomisch nutzbar sind. Auch dürften die Grenzen zwischen betrieblicher und privater Arbeit seiner Meinung nach in absehbarer Zeit immer stärker verschwimmen. Das wiederum wirft laut Voss gleich eine ganze Reihe neuer Fragen auf.
Voss: "Wer kümmert sich eigentlich um die Interessen der Kunden in Bezug auf dieses Thema? Ich habe mit den Verbraucherschützern geredet, und die waren ganz erstaunt. Erstens über das Thema, und zweitens, ob sie denn überhaupt zuständig sein könnten. Weil: Sie kümmern sich doch nur um die ökonomischen Interessen der Kunden, also, ob die Preise angemessen sind und ob die Produktqualität gut ist. Aber dass mal sich irgendjemand darum kümmern müsste, wie die Arbeitsbedingungen sind – dafür ist niemand zuständig. Und die Gewerkschaften runzeln da eh gleich die Stirn, weil: Für die ist Arbeit ja nur das, was im Betrieb passiert, also was Erwerbstätigkeit ist. Kurz gesagt: das Thema, dass immer mehr Arbeit in unsere Privatsphäre einzieht, also eine spezielle Sorte von Arbeit, die irgendwie sehr aufwendig und anstrengend und auch teuer ist, um die kümmert sich eigentlich niemand. Da bin ich fast der Einzige, der dann das Maul aufmacht."
Kollaboration zwischen Mensch und Maschine
Die Gewerkschaft ver.di hat dieses Problem inzwischen offenbar erkannt. Sie informiert auf einer speziellen Webseite mit dem Titel "Innovation und gute Arbeit" unter anderem auch ausführlich über das Thema Arbeitsbedingungen für Crowdsourcer.
Auch wer mit dem Crowdsourcing nichts am Hut hat, wird in seiner Rolle als arbeitender Kunde schon bald vor neuen Herausforderungen stehen. Wer weiß schon, wie lange es noch dauern wird, bis wir alle das Ersatzteil für ein beliebiges Haushaltsgerät mithilfe eines 3-D-Druckers selbst produzieren und montieren werden, anstatt uns an den Original-Hersteller oder einen Handwerker zu wenden?
Voss: "Da wird noch eine ganz andere Form der Arbeit passieren – wo nämlich arbeitende Roboter und arbeitende Kunden zusammenarbeiten müssen. Und da wird es spannend, weil: Die Maschinen, mit denen wir dann als arbeitende Kunden zu tun haben, sind nicht nur blöde Automaten, die meistens nicht funktionieren – Ticketautomaten, eine Quelle großen Ärgers bei vielen Fahrgästen -, sondern es sind möglicherweise Automaten, die sehr klug und differenziert agieren und vor allen Dingen so ähnlich agieren wie wir, die Gefühle zeigen, die uns ansprechen, die auf unsere Gefühle reagieren und unsere Gesichter erkennen. Die berührbar sind, die uns berühren werden, im Gesundheitsbereich. Und dann wird’s interessant – was jetzt für eine Art von kollaborativer Arbeit entsteht. Und die Kollaboration von Maschine und Menschen wird zu einem ganz heißen Thema werden."
Sie hören eine Wiederholung vom 12. April 2016.