Dieser Facettenreichtum von Bewegungen und Gesteinsarten und Klettergriffen ist unglaublich groß. Das fesselt mich seit 30 Jahren. Während andere Sportarten sich dann relativ schnell wiederholen, passiert das hier nicht, da gibt es immer wieder neue Sachen zu entdecken.
Was das Klettern auf Absprunghöhe so attraktiv macht
Bouldern ist ein niedrigschwelliger Sport
"Es ist ein bisschen so wie ein Maler vor dem weißen Blatt. Du stehst vor einer nackten Wand und … Ich glaube, es ist leichter, erst mal eine Skizze zu machen und dann loszulegen.“
„Was würde ich gerne für die Bewegungen einbauen? Wie würde ich mich hier stützen, weil das ist hier so eine Ecke. Das ist keine gerade Wand, sondern eine L-förmige Wand, wo man sich auch abstützen kann.“
Sie will mit dem leichten Boulder beginnen, Schwierigkeitsgrad eins - für Anfänger oder zum Aufwärmen. Neben ihr liegen dafür schon sehr große pinke Griffe bereit. Sie ähneln langgezogenen Zelten.
„Keine zwei Farben ineinander schrauben, das ist technischer Unsinn. Und auch für das Gesamtbild ist es nicht gut, wenn wir jetzt nur große Griffe benutzen, weil sonst sieht das aus wie so eine Smarties-Wall.“
Was beim Bouldern entscheidend ist
Es gibt eine Richtlinie, die nennt sich: Intensität, Komplexität und Risk. Das meint also: Wie komplex ist die Bewegungslösung? Wie viel Athletik brauche ich dafür, also wie viel Kraft und wie viel Körperspannung. Und die dritte Kenngröße ist: Mit wie viel Zuversicht muss ich in diesen Boulder reingehen, damit ich das lösen kann?
„Dann klettere ich Stein für Stein und merke, man kann das machen! Mal gucken, wie ich jetzt Top einbringe, aber ich glaube, unsere Idee geht auf. Ich freue mich auch darauf, deswegen kommt jetzt die Begeisterung.“
Vor allem junge Menschen bis Mitte 40 klettern
Elias Hitthaler vom DAV sagt:
„Ich weiß von diesen Ketten, dass sie immer noch Standorte suchen, wo noch irgendwo ein Fleck ist, wo sie eine Halle eröffnen können. Es gibt auch noch weiße Flecken in Deutschland. Es gibt einige Städte, wo noch nichts gebaut wurde.“
Elias Hitthaler ist beim DAV für die Kletteranlagen zuständig. Das Bouldern sei kein reines Städtephänomen, weiß Hitthaler. Auch in ländlichen Regionen werden Hallen gebaut und führen in manchen DAV-Sektionen sogar zu Mitgliederzuwächsen. Eine Sättigung gebe es noch nicht. Auch die Konkurrenz zwischen den Hallenanbietern sei zwar da, aber nicht so groß, dass Hallen wieder schließen müssten.
„Aber die müssen natürlich arbeiten, gute Routen oder gute Boulder anbieten, weil die Kletterhalle oder Boulderhalle, die lebt vom Routenangebot. Wenn die nicht gut sind, dann spricht sich das relativ schnell rum.“
Ursprünglich war Bouldern eine Trainingsmethode
Unsere Vision war immer, den Sport bekannter zu machen als sein Image da in staubigen, dunklen, kleinen Ecken von Kletterhallen damals noch. Also die ganze Zeit: Wie kann man diesen Sport noch schöner und sichtbarer machen?
„Es gab keinen Wettkampf, es gab quasi keine Liga.“
Also wollte Simon zusammen mit einem Freund aus seinem Physikstudium eine Liga gründen. Ihr Gesuch nach Unterstützung beim DAV blieb aber erfolglos. Für eine Liga gab es keine Ressourcen.
„Das stachelt einen erst recht an, zu sagen: Das ist aber eine gute Idee. Und dann haben wir das 2016 gestartet.“
Aus den damals noch 150 Teilnehmern pro Spieltag sind heute, acht Jahre später, 1500 geworden. Die Software und das Ligaportal haben Simon und sein Kommilitone selbst erstellt.
Sechs Wochen für einen Spieltag in der Bundesliga
Die Boulder Bundesliga setzt sich aus drei Leistungsniveaus zusammen. In der niedrigsten dritten Liga kann wirklich jeder mitmachen, auch Anfänger und Kinder.
Beim Bouldern ist das Schöne: Jeder kann das mit jedem machen, und jeder kann von jedem lernen. Dieses gemeinsame Machen und an ein und demselben Boulder nach Lösungen suchen, das verbindet. Und es macht Spaß.
Wettkämpfe auch im Livestream
Julius: „Dass es den Zuschauern gefällt, ist ja auch wichtig. Als wir die Jungs und Mädels gesehen haben, wie stark sie in der Qualifikation an dem Tag waren, sind wir auch noch mal schnell hinterm Vorhang verschwunden und haben noch so ein, zwei Leisten kleiner gemacht und noch ein, zwei Boulder ein bisschen schwerer, weil wir Angst hatten, dass es denen zu langweilig wird. Aber im Endeffekt ist es sehr gut aufgegangen. Es war ein großes Spektakel.“
Boulder für so einen Wettkampf zu schrauben, ist nicht einfach: Natürlich sollten die Athlet*innen die Tops erreichen, aber auch nicht alle.
"Es darf nicht zu leicht sein und nicht zu schwer"
Diskutieren die Schrauber in Karlsruhe auch noch nach dem Wettkampf.
„Bei den Männern waren vielleicht ein, zwei Tops zu wenig, aber das ist immer so, das ist auch Glück. Du weißt nie genau, in welcher Verfassung die sind.“
Vielfältigkeit ist wichtig, nicht nur Kraft, sondern auch Koordination abzufragen. Als gute Kletterer können die Schrauber selbst testen, ob einzelne Bewegungszüge machbar sind. Wie es aber ist, den ganzen Boulder einmal durchzuklettern und zu schaffen, können sie nicht testen.
Die Boulderhalle Steil in Karlsruhe setzt aufs Schrauben. Auf der Homepage gibt es Schraubernews, und jeder im Schrauberteam wird persönlich vorgestellt. Wie man ihre Boulder knacken kann, zeigen sie selbst in Videos auf Social Media.
„Was ich jetzt gerade probiere, ist, ein Boulder zu schrauben, der interessante Bewegungen hat, aber nicht zu schwer ist. Aber wenn es nicht zu schwer ist, dann muss man natürlich schauen, dass trotzdem die Bewegung beibehalten wird.“
Schließlich wolle man ja genau die Bewegungen aus den Sportlern herauskitzeln, die man sich auch beim Schrauben gedacht hat.
Jeder Boulder wird abgenommen
„Am besten ist es schon, wenn zwei, drei auf jeden Fall noch mal testen. Vor allem, weil man manchmal so einen Tunnelblick hat und die einfachste Variante oder Lösung eigentlich direkt da ist und man nicht drauf kommt, weil man diesen Zug schrauben möchte.“
Im Ostbloc in Berlin wartet auch Anastasia auf die Abnahme ihrer beiden Boulder, der einfache Pinke und rechts daneben eine Route mit gelben Elementen, wesentlich schwieriger: Die Griffe sind ganz klein und schmal - Leisten heißen sie in der Fachsprache, die Abstände dazwischen sind sehr weit.
„Ich habe mir keine grafische Route vorgestellt, ich habe mir nur Bewegungen überlegt und Schwerpunkte wie die Balance gesetzt. Und vielleicht mal, Hände frei sein, sich trauen. Die Leisten habe ich mir auch gewünscht. Vor allem bei den kleinen Leisten muss du dich wirklich mit Fingerspitzen halten können. Es hat sehr viel mit Angst zu tun. Die Wand ist sehr steil. Wenn du runterfällst, kann das schon sehr scary werden.“
„Das ist schon ein beeindruckender Beruf. Das ist spannend, es umgekehrt zu sehen, wie man die Route baut. Also beim Bouldern stehst du vor der Wand und versuchst, die Route zu lesen und gucken, wo deine Schritte oder deine Griffe sitzen. Wenn du schraubst, musst du das genauso machen, aber auch daran denken, dass es für alle Körpergrößen und für alle Menschen passen könnte und dass sie genauso klettern, wie du dir das vorgestellt hast. Solche Details zu wissen, das war schon ein guter Lerneffekt.“
„Ich bin 32 Jahre alt und komme aus München. Letzten Endes bin ich Routenschrauber. Es ist so eine spannende Mischung aus Kreativität und physischen Anspruch.“
"Es bräuchte so etwas wie eine Gewerkschaft"
„Es bräuchte auf jeden Fall so etwas wie eine Gewerkschaft. Ich glaube, man sollte insgesamt mehr Geld verdienen können so in diesem Bereich, weil wegen des Geldes macht man es nicht. Ich glaube, so als Nebenjob ist es ganz gut. Es ist ein richtig cooler Job, aber eine ‚Scheiß-Karriere‘ sozusagen.“
Die freien Routenschrauber werden von Boulderhallen für einen Tag gebucht, die Bezahlung ist überall unterschiedlich. Manche Schrauber sind auch in einer Halle festangestellt.
Ein Gewerbe mit aktuell noch vielen Freiheiten, stellt Julius Kerscher fest. Er führt beim DAV Schrauberlehrgänge im Breitensportbereich durch. Die Ansprüche an die Schrauber seien je nach Region und Halle sehr unterschiedlich.
„Gleichzeitig ist es aber so, dass im Rahmen der Professionalisierung unserer gesamten Kletterhallenlandschaft immer mehr Betreiber es gerne haben, wenn die aktiven Routensetzenden irgendetwas vorweisen können. Einfach, damit man gegenüber Versicherungen begründen kann, warum jemand eben diese oder jene Tätigkeit durchführt.“
Steigende Nachfrage nach Lizenzen
„... dass wir eigentlich Monteure mit einer ganz hohen Verantwortung sind. Und das Kreative und die sportliche Kompetenz ist eben das eine und die Sensibilisierung gerade in puncto Arbeitssicherheit und Produktsicherheit, die ganze Verantwortung, die man eben hat, wenn man da so Verkehrswege eröffnet, die versuchen wir in die Köpfe in der Routenbauszene reinzubringen.“
Möchte man hingegen im Leistungssport schrauben, braucht man eine spezielle Leistungssport-Lizenz, für WM, Weltcups oder Olympische Spiele braucht es eine internationale Lizenz.
Christian Bindhammer ist internationaler Headsetter, die höchste Routenbau-Lizenz, die vom internationalen Kletterverband vergeben wird. Er sagt: „Der Zuschauer will die ganze Route sehen - das ist unsere Aufgabe. Die Organizer wollen die ganze Route sehen, aber es soll wirklich auch nur einer hochkommen. Und das ist die Kunst des Ganzen. Und das muss man einstellen im Endeffekt. Es ist letztendlich nicht direkt unsere Aufgabe, auf Athleten einzugehen. Wir wollen einen fairen Playground schaffen für jeden Athleten und wollen dann entsprechend auch die Show bieten, die die Zuschauer erwarten - oder auch der Organizer und die Verbände.“
Der Wettkampf-Routenbau ist ein schmaler Grad: Es soll die Teilnehmer herausfordern, aber machbar bleiben. Am Ende muss es klare Sieger geben, aber auch eine spannende Show mit spektakulären Bewegungen: Sprünge, Balance-Akte, Schwingen und Nervenkitzel.
„Wir probieren im Training natürlich, so gut es geht, auch präventive Maßnahmen zu machen, die Muskulatur dementsprechend auszuprägen“, erklärt Ingo Filzwieser. Er ist Sportmanager beim DAV im Bereich Leistungssport.
Klettern als Sporttherapie
„Klettern bringt einfach so vieles schon mit. Dann auch noch einmal dieses sich gegenseitig vertrauen, und dann zu schauen, wie kann ich das nachahmen, damit ich es schaffe? Und das ist, finde ich, einfach so eine schöne Kombination von vielen Wirkfaktoren beim Klettern.“
„Ich bin Katharina Mehta, bin Vereinsgründerin von „Hochhinaus - Klettern als Therapie“, bin Ergotherapeutin und arbeite jetzt seit 2007 mit Kindern mit ADHS und Autismus-Spektrum-Störungen und anderen Verhaltensauffälligkeiten oder Entwicklungsstörung und das mit dem Medium Klettern.“
Für die Gruppe heute hat Katharina Mehta ein Zirkeltraining vorbereitet, verschiedene Boulderübungen an der Wand. Bei jeder Übung können die acht- bis zehnjährigen Kinder Punkte sammeln. Es ist laut und chaotisch.
„In den Köpfen dieser Kinder ist ganz viel Chaos. Besonders, weil sie nicht nur das, was normalerweise im Fokus für die Handlung steht, wahrnehmen, sondern alles außen rum. Die sind so reizoffen, dass sie alles, was an Geräuschen da ist, aber auch, was vielleicht in ihrem Körper passiert, gleichzeitig wahrnehmen. Dann entsteht natürlich ganz viel Chaos für das, was sie eigentlich machen sollen.“
Klettern und Bouldern helfe den Kindern, sich zu fokussieren. Schließlich muss man sich auf die Wand und die Griffe konzentrieren, sonst fällt man runter.
„Da hilft das Klettern als Medium ungemein, weil das einfach die Kinder in den Körper holt und letztlich dafür sorgt, dass die dann mehr bei sich sind und dann auch ihre Entscheidungen treffen können und dann auch fokussiert eine Aufgabe machen können.“
Bouldern hilft für die Konzentration
In der Klettertherapie können die Kinder lernen, sich und ihre Emotionen selbst zu regulieren, und auch am Sozialverhalten wird gearbeitet.
Jede Stunde kann zu einem kleinen Abenteuer für die Kinder werden – und gerade das macht das Bouldern nicht nur für Kinder, sondern für die stetig wachsende Zielgruppe so spannend: der Nervenkitzel, zwar nur ein paar Meter über dem Boden zu hängen, aber doch kleine Risiken eingehen zu müssen, um das Top zu erreichen.