Eine Scheidung und viele Todesfälle
Immer weiter nabelt sich die Ukraine vom Nachbarn ab. Präsident Poroschenko lässt russische Internetseiten sperren, Quoten für ukrainische Musik einführen und russische Banken sanktionieren. Ob sich Russland und die Ukraine je wieder annähern können?
Sichtbar ist die Hinwendung der Ukrainer zur EU am Grenzübergang Medyka. Auf der ukrainischen Seite stauen sich die Autos, bis zu zwei Stunden müssen sie warten, bis sie endlich kontrolliert werden und nach Polen fahren können. Dass er jetzt ohne Visum in die EU einreisen kann, sei ein großer Fortschritt, sagt Valerij, der mit seiner Familie gestern in Charkiw in der Ostukraine losgefahren ist:
"Bis hierher sind wir genau 1166 Kilometer gefahren. Jetzt geht es weiter nach Krakau, dann nach Tschechien, Österreich, Slowakei, Slowenien und schließlich nach Italien. Eine teure Reise, das Visum hätte da nicht mehr so viel ausgemacht. Aber es ist einfach angenehm, dass man jetzt nicht mehr so lange planen, es reichen drei, vier Tage, dann setzt du dich in dein Auto und fährst los."
Ukrainer brauchen für Besuchsreisen in den Schengen-Raum seit Juni kein Visum mehr, wenn sie über einen Reisepass mit biometrischen Angaben verfügen. Wenn er also eine Chipkarte eingebaut hat, auf der unter anderem die Fingerabdrücke gespeichert sind.
Für die meisten Ukrainer hat das symbolische Bedeutung. Sie können sich einen Urlaub im Westen nicht leisten. Aber sie haben jetzt das Gefühl bekommen, dass sie auch ein bisschen dazugehören zur Europäischen Union.
Zurück zur Familie von Valerij. Sie will in Venedig den 15. Geburtstag von Tochter Daryna feiern. Der Unternehmer, der mit Milchprodukten handelt, hat eine ungewöhnliche Erklärung dafür, dass die EU die Visumspflicht aufgehoben hat:
"Das liegt am Krieg in der Ostukraine - und wegen der russischen Annexion der Krim. Die Ukrainer haben die russische Aggression aufgehalten, sie haben nicht zugelassen, dass der Krieg bis zur Grenze der Europäischen Union gekommen ist. Die EU ist dafür dankbar, schließlich sind viele Ukrainer dafür gestorben."
"Endgültige Trennung vom russischen Imperium"
So hat es der ukrainische Staatspräsident Petro Poroschenko zwar nicht formuliert, aber auch er bringt an dieser Stelle Russland ins Spiel. Bei einem großen Festakt in Kiew sagte er:
"Wir trennen uns endgültig vom russischen Imperium. Die demokratische ukrainische Welt scheidet sich von der autoritären russischen Welt. Endlich sind wir voneinander unabhängig, politisch, ökonomisch, bei der Energieversorgung - und auch mental sind wir endlich frei."
Große Worte, die Präsident Poroschenko im vierten Jahr seiner Amtszeit nach und nach in die Tat umsetzt. Vor kurzem kündigte er an, dass bald schärfere Einreiseregelungen für Russen gelten sollen. Sie werden an der Grenze einen Fingerabdruck abgeben müssen, auch die Aufnahme eines speziellen Fotos ist geplant.
Der Vorsitzende des Rats für Sicherheit und Verteidigung, Oleksander Turtschynow, ging noch einen Schritt weiter: Die Ukraine solle nur noch russische Staatsbürger einreisen lassen, die selbst einen Reisepass mit biometrischen Angaben besitzen. Manche Politiker in der Ukraine sprechen bereits über eine mögliche Visumspflicht für Russen.
Russische Politiker machen klar, dass ihr Land darauf antworten werde. So der Abgeordnete Sergej Schelesnjak, Mitglied im Außenausschuss der Duma:
"Erst einmal ist klar, dass die Ukraine für russische Touristen nicht unbedingt attraktiver wird. Sollte es sogar eine Visumspflicht geben, dann wird Russland sie umgekehrt auch einführen. Für die Millionen Ukrainer, die in Russland arbeiten, wäre das eine Katastrophe."
Eine offizielle Stellungnahme der Regierung in Moskau gibt es bisher nicht.
Sanktionen gegen fünf russische Banken
Auch in der Wirtschaft ist die Trennung der Ukraine von Russland voll im Gang. Das gemeinsame Handelsvolumen sinkt seit Jahren deutlich. Dafür ist auch der Kreml verantwortlich: Die russische Regierung begrenzte ukrainische Importe. Eine Reaktion auf das Freihandelsabkommen zwischen der EU und der Ukraine. Das wiederum ist Teil des gemeinsamen Assoziierungsabkommens und tritt im September in vollem Umfang in Kraft. Der Freihandel gilt jedoch bereits, als vorläufige Maßnahme, seit Januar 2016.
Auch bei den gegenseitigen Investitionen trennen sich die russische und die ukrainische Wirtschaft zunehmend voneinander. Die Ukraine hat Sanktionen gegen fünf russische Banken erlassen. Kateryna Roschkowa, stellvertretende Direktorin der ukrainischen Nationalbank:
"Die Sanktionen sollen diejenigen Ukrainer schützen, die Guthaben bei den russischen Banken haben. Die Sanktionen verbieten den Tochter-Unternehmen russischer Banken, die hier ansässig sind, Geld von der Ukraine ins Ausland zu transferieren. Das betrifft z. B. das Zurückzahlen von Zinsen oder Darlehen. Wir handeln damit im Interesse der ukrainischen Bankkunden."
Damit sei aber auch klar, dass die russischen Banken kaum mehr eine Perspektive in der Ukraine hätten, sagt Roschkowa. Alle sondierten bereits den Markt, um ihre ukrainischen Töchter abzustoßen:
"Es ist schwer zu sagen, wann sie einen Käufer finden. Aber die russischen Banken denken ja schon länger darüber nach, den ukrainischen Markt zu verlassen."
Die Experten sind sich einig, dass dies der ukrainischen Wirtschaft zumindest mittelfristig schaden wird. Die russischen Tochterbanken haben einen Anteil von rund 15 Prozent an den in der Ukraine vergebenen Krediten. Für die Wirtschaft ist die Bedeutung noch größer: Denn die ukrainischen Privatbanken finanzierten vor allem die Unternehmen der Oligarchen, denen sie gehören. Die Banken mit russischem Kapital dagegen standen allen offen.
Auch kleine Kunden würden darunter leiden, wenn das russische Kapital die Ukraine verlässt, sagt Eduard Karaschija, Wirtschaftsprofessor aus Odessa:
"Vor allem die Ukrainer, die in Russland arbeiten, haben bei den russischen Tochterbanken ihre Konten. Wenn sie Geld in die Heimat schicken wollen, führt der einfachste und billigste Weg über diese Banken. Dieser Transfer nützt auch der Ukraine, denn das Geld fließt aus der russischen in die ukrainische Volkswirtschaft."
Aber die ukrainische Regierung betrachtet die Gefahr, die von russischen Banken ausgeht, als größer: Sie könnten wichtige Informationen über das Land sammeln und es von innen destabilisieren, so die Befürchtung.
Russisches Gas aus der EU für die Ukraine
Auch im Energiesektor will die Ukraine unabhängig von Russland werden - und hat in dieser Richtung schon einiges unternommen. Die Ukraine kauft zwar weiterhin russisches Gas, aber nicht mehr direkt in Russland. Seit Ende 2015 zieht sie es vor, das Gas über Zwischenhändlern in der EU abzurechnen. Den Umweg über die EU nimmt das Gas übrigens nur auf dem Papier, physisch fließt es weiter direkt aus Russland in die Ukraine.
Lange pochte Moskau darauf, die Ukraine müsse ihren langfristigen Liefervertrag für Gas erfüllen, der noch bis 2019 läuft - oder Vertragsstrafen zahlen. Doch ein Schiedsgericht in Stockholm stellte sich auf die Seite der Ukraine: Sie habe das Recht, auf Gasimporte zu verzichten. Ein Erfolg, der in Kiew groß gefeiert wurde. Präsident Poroschenko sagte:
"Russland auf der Grundlage des Vertrags 40 Milliarden US-Dollar von uns gefordert. Unser Sieg in Stockholm wird dazu führen, dass Gaslieferungen künftig kein Instrument des politischen Drucks auf die Ukraine mehr sein werden."
Quote für ukrainische Musik im Radio
Nicht nur wirtschaftlich und politisch trennen sich für Russland und die Ukraine die Wege. Das gilt auch für die Kultur.
Russische Produktionen waren bis dato omnipräsent im ukrainischen Fernsehen und Radio. Inzwischen aber hat das Parlament Quoten eingeführt. 25 Prozent der gesendeten Musik muss ukrainischsprachig sein, dieser Anteil wird schrittweise auf 35 Prozent steigen.
Außerdem dürfen in der Ukraine keine russischen Filme gezeigt werden, die nach 2013 entstanden sind. Das Verbot gilt auch für ältere Filme, wenn sie das russische Militär oder die Polizei in einem positiven Licht darstellen.
Russisches Facebook "Vkontakte" verboten
Für am meisten Protest sorgte jedoch das Verbot russischer Internetportale. Der Leiter des nationalen Sicherheits-Rats Oleksander Turtschynow erklärte:
"Der Geheimdienst hat herausgefunden, dass einige dieser Portale dazu benutzt werden, illegal Daten über unsere Bürger zu sammeln. Das ist Spionage. Außerdem wurden Viren über russische Server und Programme verbreitet - zielgerichtet, als Angriff. Das sind Gefahren für den ukrainischen Cyberspace, die wir ausschalten müssen."
Als besonders wertvoll für Russland gilt das soziale Netzwerk "Vkontakte". Über 15 Millionen Zugriffe verzeichnete es täglich in der Ukraine und war damit populärer als das optisch ähnliche Konkurrenzprodukt aus den USA: "Facebook".
Auch ukrainische Soldaten hatten auf "Vkontakte" Konten - zwar eigentlich nur privat, dennoch können die Nachrichten, die sie dort austauschen, für ausländische Geheimdienste wertvoll sein.
Für das Verbot dieses oder anderer russischer Internet-Portale in der Ukraine musste sich Präsident Poroschenko heftige Kritik anhören. Z. B. von der fraktionslosen Parlamentsabgeordneten Serhij Taruta:
"Wenn diese Maßnahme vor drei Jahren gekommen wäre, als der Krieg im Donezbecken viele Todesopfer forderte, hätten alle gesagt: Ja, wir müssen drastische Maßnahmen ergreifen. Aber wie kommt der Sicherheitsrat ausgerechnet jetzt auf diese Idee? Meine Enkelin, die in die zehnte Klasse geht, hat mich angerufen und gefragt: Macht die Regierung eigentlich auch mal etwas Gutes für das Land? Jetzt können wir keine Filme und keine Musik mehr herunterladen."
Hart war die Entscheidung auch für viele kleinere Dienstleister, die über "Vkontakte" mit ihren Kunden kommunizierten. Viele internationale Organisationen werteten das Verbot als Einschränkung der Meinungsfreiheit, darunter "Freedom House" und "Human Rights Watch".
Ob sich Russland und die Ukraine irgendwann einmal wieder annähern können? Da gehen die Meinungen auseinander. Vor allem in Russland glauben viele, die Entwicklung sei nur vorübergehend, in Wahrheit gehörten die beiden Nationen zusammen. Die meisten Ukrainer sehen das jedoch anders, auch viele russischsprachige Ukrainer. Wie Russland auf der Krim und im Donezbecken vorgegangen ist und weiterhin vorgeht, war für sie ein Schock, den sie wohl nie mehr vergessen werden.