Philip Kovce, 1986 in Göttingen geboren, lebt als freier Autor in Berlin. Er ist Mitbegründer des Basler Philosophicums, Mitarbeiter des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre und Philosophie an der Universität Witten/Herdecke sowie Mitglied des Think Tank 30 des Club of Rome. Veröffentlichungen (Auswahl): Der freie Fall des Menschen ist der Einzelfall. Aphorismen (Futurum Verlag); An die Freude. Friedrich Schiller in Briefen und Dichtungen (hrsg., AQUINarte Literatur- und Kunstpresse); Die Aufgabe der Bildung. Aussichten der Universität (hrsg. mit Birger P. Priddat, Metropolis Verlag).
Work-Life-Schizophrenie
Freizeit und Arbeitszeit voneinander zu trennen, ist zu einer Volkskrankheit geworden, argumentiert Philip Kovce. Denn: Wir entwerten die Arbeit, wenn wir sie nicht als Lebenszeit verstehen - und damit entwerten wir auch uns selbst.
Wir leben unentwegt, wenn wir leben. Egal, ob als Kinder im Hort oder als Alte im Heim, egal, ob als Mutter zuhause oder als Vater im Chefsessel, egal, ob beim Sonnenbaden oder auf der Karriereleiter: Wir leben – und fühlen uns dabei mal so, mal so. Gelebte Zeit ist Lebenszeit.
Die Unterscheidung zwischen Arbeitszeit und Freizeit ist ein recht junges Phänomen. Die Athener Bürger kannten es nicht. Sie hatten immer Freizeit – ihre Sklaven immer Arbeitszeit. Darin bestand ihr Leben. Auf dem Mittelalter-Bauernhof herrschte Arbeitszeit, wenn es etwas zu tun gab – und Freizeit, wenn die Sachen geschafft waren. Es ging nicht darum, Arbeitszeit zu maximieren oder Arbeit zu simulieren, sondern darum, Aufgaben zu erledigen. Erst durch die Arbeitsteilung und die sogenannte entfremdete Arbeit, die im Zuge der Industrialisierung Heerscharen in die Fabriken zog, kam die Teilung zwischen Arbeits- und Freizeit. Heute heißt dieses Phänomen: Work-Life-Balance.
Wer sein Arbeiten mit seinem Leben in der Balance halten will, hält an der überholten Teilung aus dem Industriezeitalter fest. Er spaltet die Arbeit von seinem Leben und sich selbst von der Arbeit ab. Er nimmt sich vor, nicht zu viel zu arbeiten und nicht zu wenig zu leben. Die Sorge um gute Arbeit und gutes Leben führt zu Arbeitsstress und Freizeitstress.
Wir entwerten Arbeit
Die Teilung von Arbeit und Leben ist zu einer Volkskrankheit geworden: der Work-Life-Schizophrenie. Wer Arbeitszeit heute nicht als Lebenszeit begreift, ist von gestern. Denn selbstverständlich schreibt sich jede Stunde, die wir mit uns selbst und anderen verbringen, in unser Lebensbuch ein. Wer das nicht bemerkt, wird krank.
Wir entwerten die Arbeit, wenn wir sie nicht als Lebenszeit verstehen. Ja, mehr noch: Wir entwerten uns – und das, was wir bei der Arbeit tun. Wer sich auf eine Arbeit einlässt, damit sie ihm später ein schönes Leben ermöglicht, der hat kein solches. Wer sich einem Job unterwirft, um frei zu werden, bleibt unfrei.
So wie wir Arbeitszeit nicht als Lebenszeit wahrnehmen, so wenig wissen wir die tagtägliche Arbeit in der Freizeit, in der Familie, in der Nachbarschaft zu schätzen, die unbezahlt und ungefragt erledigt wird.
Wir verspielen das Kapital der Zukunft: den freien Menschen
Die Mutter, die die Kinder zur Schule fährt, der Vater, der bei den Hausaufgaben hilft, die Freunde, die einen Kranken pflegen, die Ehrenamtlichen, die sich sinnvoll engagieren – sie machen es nicht für Geld, sondern aus Liebe zur Tat und zum Mitmenschen.
Wenn wir Tätigkeiten aufnehmen, die zu tun sind, wenn wir Initiative ergreifen, die gefordert ist, leben und arbeiten wir! Work-Life-Balance macht die Arbeit kleiner, als sie ist – nämlich zum bloßen Frondienst; sie macht das Leben kleiner, als es ist – nämlich zur bloßen Freizeit; und sie macht uns kleiner, als wir sind – nämlich zu mal fleißigen, mal faulen Halbwesen.
Arbeitszeit und Freizeit sind Lebenszeit. Sie zu unterscheiden, macht die Arbeit unfrei und die Freizeit unfruchtbar. Heute wäre es möglich – beispielsweise mit einem bedingungslosen Grundeinkommen –, in Freiheit zu leben und zu arbeiten. Wer das verhindert, verspielt das Kapital der Zukunft: den freien Menschen.