Tristan Garcia: "Wir"
Aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018
332 Seiten, 28 Euro
Vom Entstehen des Wir
Ob über Einwanderung, Rassismus oder Sexismus diskutiert wird: Den Debatten liegt ein Wir-Konstrukt zugrunde. Philosoph Tristan Garcia geht diesem historisch, soziologisch und philosophisch nach: eine spannende Analyse der Identitätspolitik.
"Wir sind das Volk. Wir sind ein Volk." Ob das Einheitsdenkmal vor dem rekonstruierten Berliner Stadtschloss, alias Humboldt-Forum, jemals gebaut wird, steht in den Sternen. Nur sein Motto steht schon fest. Doch wer oder was genau ist diese ominöse Größe?
Die Idee einer homogenen Nation gehört zu den wirkmächtigsten "Wir-Bildungen" neben Rasse, Klasse oder Geschlecht. Nach seinem Erfolg mit "Das intensive Leben" geht der französische Philosoph und Schriftsteller Tristan Garcia, Jahrgang 1981, in seinem neuesten Buch einem weiteren Schlüsselphänomen nach – dem Bedürfnis nach einer allumfassenden Zugehörigkeit.
Die Idee einer homogenen Nation gehört zu den wirkmächtigsten "Wir-Bildungen" neben Rasse, Klasse oder Geschlecht. Nach seinem Erfolg mit "Das intensive Leben" geht der französische Philosoph und Schriftsteller Tristan Garcia, Jahrgang 1981, in seinem neuesten Buch einem weiteren Schlüsselphänomen nach – dem Bedürfnis nach einer allumfassenden Zugehörigkeit.
Eine Mischung aus Wir-Identitäten
Eines der größten Verdienste seines Essays liegt in der Erkenntnis, dass sich alle diese Wir-Identitäten beständig mischen. Niemand ist also nur Algerier, Proletarier, Schwarze, Schwuler, Muslima oder Senior.
Sondern die Menschen sind vieles gleichzeitig. Mit dem Terminus übereinandergelegter "Bildschichten" statt dem gängigen Begriff der "Intersektionalität" gelingt Garcia ein innovatives Bild für diese Mehrfachcodierung der zeitgenössischen Existenz.
Recht hat Garcia auch mit seiner Beobachtung, dass sich die Phänotypen des Wir bis zur Unkenntlichkeit ausdifferenzieren. Die Vielzahl sexueller Konfigurationen, mit denen sich heute Menschen identifizieren, belegen, was er den historischen Prozess einer "Entgründung" der klassischen Kategorien nennt. "Wir sind nicht absolut, was wir wollen", bringt er es auf den Punkt.
Sondern die Menschen sind vieles gleichzeitig. Mit dem Terminus übereinandergelegter "Bildschichten" statt dem gängigen Begriff der "Intersektionalität" gelingt Garcia ein innovatives Bild für diese Mehrfachcodierung der zeitgenössischen Existenz.
Recht hat Garcia auch mit seiner Beobachtung, dass sich die Phänotypen des Wir bis zur Unkenntlichkeit ausdifferenzieren. Die Vielzahl sexueller Konfigurationen, mit denen sich heute Menschen identifizieren, belegen, was er den historischen Prozess einer "Entgründung" der klassischen Kategorien nennt. "Wir sind nicht absolut, was wir wollen", bringt er es auf den Punkt.
Das Wir als "strategische Hülle"
Je mehr nun aber diese Kategorien porös würden, desto stärker, so Garcia, würden sie als "strategische Hüllen" benutzt. Und definiert mit dieser einprägsamen Formel den politischen Kern der Identitäts-Kämpfe heute. Darin fungiert das "Wir" als eine Art "plastisches Subjekt", das sich entweder ausdehnen oder verengen will.
Mal will es, so müsste man den Wissenschaftler interpretieren, dass alle Menschen Geschwister im Geiste, in Gott oder der Unendlichkeit sind. Mal, dass sie Sachsen, Veganer oder Transgender werden.
Garcias spannender Essay laboriert an der Schnittstelle von Philosophie, Ideengeschichte und Sozialpsychologie. Wie auf dem Transparenztisch einen dreidimensionalen Plan entfaltet er eine Art Mengen- und Bewegungslehre des Wir. Gut gewürzt mit eigenwilligen Begriffen und Zitaten von Thukydides bis Madonna.
In der Theorie des Wir will Garcia keinen Stein auf dem anderen lassen. Dafür klingt sein Fazit am Ende dann etwas betulich. Der Kampf um das Wir ist für ihn nämlich ein nie endender Prozess, bei dem "erzwungene, unstete und geschichtlich bedingte Identitäten unablässig ihre Intensität und Ausdehnung aushandeln".
Mal will es, so müsste man den Wissenschaftler interpretieren, dass alle Menschen Geschwister im Geiste, in Gott oder der Unendlichkeit sind. Mal, dass sie Sachsen, Veganer oder Transgender werden.
Garcias spannender Essay laboriert an der Schnittstelle von Philosophie, Ideengeschichte und Sozialpsychologie. Wie auf dem Transparenztisch einen dreidimensionalen Plan entfaltet er eine Art Mengen- und Bewegungslehre des Wir. Gut gewürzt mit eigenwilligen Begriffen und Zitaten von Thukydides bis Madonna.
In der Theorie des Wir will Garcia keinen Stein auf dem anderen lassen. Dafür klingt sein Fazit am Ende dann etwas betulich. Der Kampf um das Wir ist für ihn nämlich ein nie endender Prozess, bei dem "erzwungene, unstete und geschichtlich bedingte Identitäten unablässig ihre Intensität und Ausdehnung aushandeln".
Jedes siegreiche Wir provoziert eine Gegenbewegung
Doch der Schüler des kommunistischen Philosophen Alain Badiou, selbst heute Philosophie-Dozent in Lyon, ist eben Dialektiker. Schwer zu bestreiten ist sein Schluss, dass jedes zeitweilig siegreiche Wir immer wieder eine Gegenbewegung provoziert. Selbst wenn man sie anstrebte, kann es also keine "messianische Gestalt des allerletzten Endes" geben.
Ein Problem von Garcias Ansatz bleibt freilich: Er diskutiert das Wir fast ausschließlich als Problem der Haltung und Wahrnehmung von Individuen. Es agiert aber auch als Kollektiv. Und so wie Garcia den Begriff des Wir insgesamt relativiert, fragt es sich, warum er sein Buch in der ersten Person Plural geschrieben hat. Sollen "wir" am Ende alle Garcianer werden?
Ein Problem von Garcias Ansatz bleibt freilich: Er diskutiert das Wir fast ausschließlich als Problem der Haltung und Wahrnehmung von Individuen. Es agiert aber auch als Kollektiv. Und so wie Garcia den Begriff des Wir insgesamt relativiert, fragt es sich, warum er sein Buch in der ersten Person Plural geschrieben hat. Sollen "wir" am Ende alle Garcianer werden?