Abenteuer am Eismeer − wahr oder erfunden?
Der Tscheche Jan Welzl brachte es am Polarkreis bis zum Eskimohäuptling. Sein Buch "30 Jahre im goldenen Norden" wurde ein Bestseller, doch Wissenschaftler hielten diesen Bericht für Fiktion und nannten ihn "Münchhausen aus der Arktis".
"Seit einigen Tagen weilt ein sonderbarer Gast in Prag. Er hat 28 Jahre unter den Polareskimos gelebt. Gegenwärtig zählt er 60 Jahre."
Das "Prager Tagblatt" im November 1928. Die Neugier war groß, als Jan Welzl seine alte Heimat besuchte – wann hatte die Tschechoslowakei schon einen Eskimohäuptling zu Gesicht bekommen? Und dazu noch einen Tschechen.
"Auf einmal ging die Nachricht herum, dass Eskimo Welzl in Zabřeh Vorträge halten würde. Also habe ich meine Mutter überredet, mit mir hinzugehen."
Jaroslav Franke hat Welzl als kleiner Junge persönlich erlebt:
"Der Saal war überfüllt, und auf der Bühne saß bereits ein stämmiger Mann, robust, aber mit einem gutmütigen Gesicht. Er erzählte vom Beginn seiner Reisen und kannte viele Details vom Leben der Menschen im fernen Norden. Ich glaubte ihm jedes Wort. Ich war einfach begeistert von ihm."
In Zabřeh in Mähren war Jan Welzl am 15. August 1868 zur Welt gekommen. Nach einer Schlosserlehre und dem Militärdienst für die k.u.k.-Armee machte er sich auf den Weg: 1893 heuerte er in Triest als Matrose an und landete schließlich in Irkutsk auf der riesigen Baustelle für die Transsibirische Eisenbahn.
"Einige Arbeiter erzählten, dass der hohe Norden eine Gegend sei, in der sich jeder selbständig machen kann, der gute Hände und einen guten Kopf hat. Ich war jung und mein Kopf war voller Träume von der weiten Welt – also, warum sollte ich nicht von hier durch den Norden bis ans Eismeer ziehen?"
"Kapitän" und Richter bei den Eskimos
Nach vier Jahren Fahrt mit Pferd und Wagen erreichte er die Neusibirischen Inseln. Das Zarenregime überließ die Polarregion damals sich selbst. Unter den Tschuktschen lebte Welzl in einer Felshöhle und war Walfischjäger, Pelzhändler, Trapper, Briefträger, Goldgräber.
"Und schließlich wurde Welzl sogar so etwas wie das Oberhaupt dieser Jägergesellschaft, er nannte sich Kapitän."
Der tschechische Journalist Martin Strouhal forscht seit langem über Jan Welzl und hat seine Spuren verfolgt:
"Tatsächlich wurde mir das auf den Inseln bestätigt. Es war üblich, dass jemand bei Problemen eingriff und als Richter fungierte. Außerdem legte er sich ein Schiff zu und wurde reich mit dem Handel von Kohle und Fellen. Er fuhr sogar bis nach Amerika, um Handel zu treiben."
Ein Schiffbruch vor Alaska stieß Welzl vom Thron. Den US-amerikanischen Behörden war er suspekt, sein Geburtsland Österreich-Ungarn schon seit sechs Jahren Geschichte; 1924 setzten sie ihn in ein Schiff nach Hamburg.
"Und hier beginnt eine völlig andere Geschichte von Welzl. Denn er lernte zufällig einen tschechischen Journalisten kennen, und auf einmal wurde er durch seine Erzählungen berühmt."
Lange Interviews ergaben einen Bestseller
Aus einer Artikelserie entstand schließlich das Buch "Eskimo Welzl". Als der Abenteurer 1928 die Tschechoslowakei besuchte, wollte ihn sogar Präsident Masaryk treffen. Gegen Geld stellte sich Welzl vier Monate lang den Fragen der Journalisten Edvard Valenta und Bedřich Golombek. Sein Tschechisch musste er erst wieder ausgraben, erinnerte sich Valenta später:
"Sein Radebrechen mit anzuhören und den Sinn seiner fast völlig unverständlichen Worte zu erfassen, war gar nicht so einfach. Um die Verwirrung noch zu erhöhen, brachte Welzl alles durcheinander und fand sich auf der Landkarte durchaus nicht zurecht. Er konnte kaum den Nordpol vom Südpol unterscheiden."
Die Journalisten gossen Welzls Anekdoten in eine Form. "30 Jahre im goldenen Norden" wurde zum Bestseller. Das Vorwort der amerikanischen Ausgabe schrieb Karel Čapek:
"Ein Gelehrter würde Ihnen die arktische Fauna sicher gründlicher und systematischer erklären. Aber er würde Ihnen nicht so gut erzählen, auf welch eigenartige Weise ein Tier gejagt und zubereitet wird, wie es schmeckt und was man in Nome für sein Fell bekommt."
Alles Humbug? Ein Foto widerlegte die Skeptiker
Tatsächlich hielten Polarforscher die Geschichten für Humbug, erst ein Foto von Welzl in der "New York Times" beseitigte 1932 die Zweifel.
"Beweis für Skeptiker! Jan Welzl, der von manchen Lesern als liebenswerter Münchhausen aus der Arktis, von anderen als reine Fiktion eingestuft wurde, scheint alles andere als fiktiv zu sein."
Welzl bekam von dem Streit kaum etwas mit. Längst hatte er sich in der früheren Goldgräberstadt Dawson niedergelassen. Tantiemen für die Bücher erhielt er nie. Bis zu seinem Tod 1948 versuchte er sich als Erfinder. In Dawson hieß Jan Welzl nur "Perpetual motion man" – der Perpetuum-Mobile-Mann.