Eine Stadt erfindet sich neu
Über Jahrhunderte stand Ostrava, die drittgrößte Stadt Tschechiens, für Bergbau und Schwerindustrie. Jetzt, da fast alle Zechen geschlossen sind, versucht sie sich zu wandeln – mit Kumpel-Romantik, einer Party-Meile und Festivals für Neue Musik.
Schmutzig ist es immer noch, daran hat sich nichts geändert. Petr Danninger steht oben am Ausgang aus dem Schacht, mitten im Bergbaurevier von Ostrava, und bedient den Aufzug. Heute sind es keine Kollegen, die er aus den Stollen ans Tageslicht befördert, sondern Kinder – ein Schulausflug mit Abenteuergarantie. Petr Danninger hat sich über sein T-Shirt eine dunkle Grubenjacke geworfen, er erzählt inmitten des Trubels von früher.
"Die Vielseitigkeit ist es, die diesen Beruf ausmacht. Man muss alles gleichzeitig beherrschen: Du bist Elektriker, Schlosser, Rettungssanitäter; jeden Tag erlebst du was Neues."
Danninger ist um die 60 Jahre alt, ein drahtiger Mann mit kurzen Haaren; mehr als die Hälfte seines Lebens hat er im Untertagebau gearbeitet – nicht hier im Stollen Anselm – aber in der gleichen Region. Heute ist Anselm ein Museumsbergwerk. Alte Kumpel wie Petr zeigen den Besuchern nun ihre einstige Arbeit.
Per Lastenaufzug geht es unter die Erde. Mit Holzträgern sind die Gänge gestützt, im Gestein links und rechts sind noch Reste von Kohle zu sehen. Glühbirnen setzen die Szenerie in ein gespenstisches Licht.
"Das eigentliche Abbauen der Kohle war lange Handarbeit. Da vorne sehen Sie die lebensgroße Puppe in dem schmalen Gang liegen – so haben die Jungs früher die Kohle abgebaut. Ein Zweiter hat sie auf die Rutsche gelegt und so zu den Waggons gefördert, in denen die Kohle dann ans Tageslicht gefahren worden ist."
Das Panorama der Schwerindustrie zieht sich bis zum Horizont
Die Rufe der Arbeiter indes kommen heute nur noch aus den Lautsprechern: In Betrieb ist Schacht Anselm schon lange nicht mehr, genausowenig wie die meisten anderen Kohlengruben in Ostrava. Was noch in den 90er-Jahren ein florierendes Geschäft mit Milliardenumsätzen war, lohnt sich heute nicht mehr. Nur wenige der alten Schächte sind noch in Betrieb, alle anderen haben zugemacht.
Wer heute mit dem Bus vom Bergbaumuseum hinein ins Zentrum der Region fährt, in die 300.000-Einwohner-Stadt Ostrava, der sieht ganz deutlich die Überreste der Industrialisierung: Kilometerweise ziehen Industriebrachen vorbei; Fördertürme, die nicht mehr gebraucht werden, Beton- und Stahlskelette, Schornsteine – das Panorama der Schwerindustrie zieht sich bis zum Horizont. Diese mächtigen Monumente sind untrennbar mit der Stadt verbunden – und sie geben ihr ihren rauen Charme, sagt Ilona Rozehnalová.
"Man muss wohl hier geboren sein, damit einem das gefällt. Hier gibt es Vogelschutzgebiete, die unter europäischem Naturschutz stehen, und direkt daneben ist eine Halde, da ragen Kamine auf. Uns gefällt das. Ich glaube, wenn jemand aus Prag käme, der würde gar nicht erkennen, wie schön das eigentlich ist (Lachen)."
Ilona Rozehnalová sitzt in ihrem Antiquariat im Zentrum von Ostrava, ein schmaler Laden ist es, der langgestreckt weit ins Haus hinein ragt. Um sie herum türmen sich Zeitschriften und Bücher über die Stadt – viele hat sie selbst herausgegeben.
"Ich bin in Ostrava geboren worden. Und weil wir eine komplizierte Familiengeschichte hatten – ich bin mit mehreren Vätern aufgewachsen –, bin ich so durch die ganze Stadt gekommen. Ich habe in vielen Vierteln und Vorstädten gewohnt. Darüber bin ich eine Patriotin geworden, eine Patriotin für Ostrava."
Strukturwandel eine der größten wirtschaftlichen Herausforderungen in Mitteleuropa
Heute geht Rozehnalová auf die 40 zu, sie ist mit ihrem Antiquariat eine Institution geworden. Im neuen Ostrava, in dem nicht mehr die alten Kohlengruben im Mittelpunkt stehen. Ostrava ist mitten in der Selbstfindung: Der Strukturwandel in der drittgrößten Stadt Tschechiens gilt als eine der größten wirtschaftlichen Herausforderungen in Mitteleuropa: Die Arbeitslosigkeit ist nach vielen Grubenschließungen immer noch hoch, die Minderheit der Roma ist hier stärker vertreten als in anderen Landesteilen, die Luft ist an vielen Tagen von dichtem Smog verschmutzt.
Aber es gibt eben längst nicht mehr nur Probleme, sondern immer öfter gute Nachrichten. Endlich, sagt die Antiquarin Rozehnalová, mischen die sich Leute aus Ostrava ein: Sie kämpfen für den Erhalt historischer Gebäude, für bessere Luft oder gegen ein neues Einkaufszentrum auf der grünen Wiese. Solcher Bürgergeist ist alles andere als selbstverständlich in einer Stadt, die lange Jahre geprägt war von Zuzüglern, die für die Arbeit hier in den Osten gekommen sind und oft keine Wurzeln geschlagen haben.
Eines der Zentren der neuen Bürgeraktivität ist das Antiquariat von Ilona Rozehnalová. Stolz geht sie durch ihr Reich, das sich auf drei Etagen erstreckt. Im Keller sind Stühle aufgebaut, in dem kleinen Saal finden einhundert Gäste Platz. Bei ihren abendlichen Diskussionen geht es mal um den Denkmalschutz in Ostrava, mal stellen Künstler aus der Region ihre Werke vor. Architekturkritiker halten Referate und manchmal erzählen Wissenschaftler von der örtlichen Uni etwas über japanisches Theater. Für Ilona Rozehnalová machen gerade solche Veranstaltungen, wie sie allenthalben in den Hinterzimmern sprießen, Ostrava so lebenswert:
"Ich habe schon ein paar Mal darüber nachgedacht, warum wir eigentlich hierbleiben, obwohl zum Beispiel die Luft so schlecht ist in Ostrava. Aber Prag – da gibt es zwar etliche Kulturaktionen, aber die Stadt ist einfach so groß. In Ostrava triffst du auf der Straße deine Freunde. Und die Kulturszene ist so lebendig, dass es nicht nötig ist, irgendwo anders hinzugehen."
Blühende Szene der Neuen Musik
Es sind verblüffende Blüten, die das Kulturleben in der alten Bergbaustadt heute treibt. Zur mitteleuropäischen Hauptstadt der Neuen Musik hat sich Ostrava in den vergangenen Jahren entwickelt. Alle zwei Jahre findet ein Festival der experimentellen Musik statt, zusätzlich gibt es eine Biennale der Neuen Oper und regelmäßig treffen sich Künstler aus aller Welt zu Workshops. Dahinter steckt Petr Kotik. Der Musiker ist 72 Jahre alt und zählt zu den führenden Köpfen der Neuen Musik. Sein Lieblingskomponist ist der US-Amerikaner John Cage, dessen Werk er in Ostrava auf die Bühne gebracht hat.
"Wir haben das Festival mit der Oper von John Cage eröffnet. Zum überhaupt ersten Mal ist sie bei uns so aufgeführt worden, wie sie gedacht war – in einem klassischen Theater. Woanders wäre das nicht möglich gewesen. Stellen Sie sich vor, John Cage im Prager Nationaltheater – undenkbar! Die hätten uns in Prag irgendwo in eine Industrieruine am Rand der Stadt verwiesen."
Die Geschichte von Petr Kotik, dem Dirigenten und Flötisten, und Ostrava ist eine Geschichte der Wiederentdeckung: In den 60er-Jahren ging er aus der Tschechoslowakei ins Exil in die USA, er spielte dort zunächst in einem Ensemble in Buffallo. Nach der Wende kehrte er immer häufiger zurück in seine tschechische Heimat und gründete schließlich in Ostrava das Zentrum für Neue Musik. Warum gerade dort, im tiefsten Osten des einstigen sozialistischen Landes? Petr Kotik denkt kurz nach.
Provinzialismus? Keine Spur!
"Ich hatte nie eine Beziehung zu Städten. Mein Bezug zu bestimmten Orten – sei es zu Prag, zu New York, zu Rio de Janeiro oder zu Ostrava – besteht immer aus Kontakten zu Leuten, die dort leben und arbeiten, die den Ort so gestalten wie er ist. Ostrava erinnert mich in vielen Punkten an Buffallo: Hier wie dort gibt es keinen Provinzialismus. Wissen Sie, was ich meine? In vielen großen Städten wie Prag, Berlin oder Boston, da treffen Sie diesen Provinzialismus an, diese Eingenommenheit vieler Bewohner, die von sich und ihrer Stadt Gott weiß was denken. Ostrava denkt aber gerade nicht Gott weiß was von sich."
Diese Unaufgeregtheit der Stadt, gepaart mit einer Offenheit für Neues – das sei es, was Ostrava ausmache, sagt Petr Kotik. Zu seinen Festivals reisen Besucher aus aller Welt an, selbst aus Amerika gibt es jedes Mal Gäste. Und die Leute in Ostrava? Die, sagt Kotik, kämen inzwischen auch.
"Ohne die Zuhörer vor Ort würde das gar nicht gehen. Das ist wie eine Fußballmannschaft: Wenn da die Einheimischen nicht zu den Spielen gehen, dann kann das nicht funktionieren. Im ersten Jahrgang hatten wir Konzerte, zu denen nur 15 Leute gekommen sind. Heute sind die Konzerte oft ausverkauft – wenn man konstant gute Arbeit macht, dann findet man eben sein Publikum."
Es sind aber nicht nur die Anhänger der Neuen Musik, die in Ostrava ihre Nische gefunden haben.
Ein Ruf als Party-Stadt
Die Party-Stadt – auch das ist ein Ruf, den Ostrava inzwischen in ganz Tschechien hat. Sie verdankt ihn einer einzigen Straße – der Stodolni-Straße. Auf ein paar Hundert Metern sind dort mitten in der Altstadt mehr als 60 Bars, Kneipen und Clubs aneinandergereiht, geöffnet ist selbst unter der Woche bis in den Morgen und die jungen Leute kommen von weither, um gerade hier zu feiern.
Die Stadt ist gerade unter jungen Leuten wieder attraktiv, nachdem sie zuvor Jahrzehntelang nach Prag abgewandert sind oder gleich noch weiter in Richtung Westen. Einer von denen, die wieder zurückgekommen sind in ihre Heimat, heißt Bretislav Sevcik. Er ist 29 Jahre alt und hat für ein Gespräch die Stodolni-Straße vorgeschlagen. Wer ihn auf die alten Ostrava-Klischees anspricht, die sich um die Schwerindustrie ranken und die schlechte Luft, erntet nur ein Kopfschütteln.
Reihenweise eröffnen neue Firmen
"Wir waren ja bekannt als das Schwarze Ostrava. Aber heute gibt es wieder herrlich renovierte, saubere Häuser. Die Stadt ist gerade auf der Suche nach sich selbst: Wir sind zwar nicht mehr die schmutzige Stadt im Oste, aber zugleich auch noch nicht multikulturell und global. Und es herrscht eine Spannung, wie die Entwicklung jetzt weitergeht."
Bretislav Sevcik hat lange in Deutschland studiert, er hat dort gearbeitet – und ist dann schließlich doch zurückgekommen nach Ostrava. Er arbeitet jetzt in einer der Firmen, die hier reihenweise eröffnen: Automobilzulieferer und Maschinenbauer aus aller Welt bauen hier Werke auf, weil die arbeitslosen Schwerarbeiter erfahrene Fachkräfte sind. Unlängst hat eine IT-Firma aus Skandinavien hier ein Entwicklungszentrum mit 2000 Mitarbeitern gegründet und selbst ein Biotechnologie-Park ist entstanden, der von den 30.000 Studenten der Stadt profitiert. Bretislav Sevcik:
"Als ich von meinem Auslandsstudium wieder zurückkam, habe ich mit Freunden einen internationalen Klub an der Uni gegründet. Wir haben festgestellt: Es kommen richtig viele Studenten hier an die Uni, aus Istanbul, aus Schottland, aus Belgien. Das sind meistens Leute, die etwas Neues entdecken wollen, die nicht von Vorurteilen geprägt sind."
Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Löhne sind gering
Trotz aller positiven Entwicklungen ist es natürlich ein langer Weg, bis Ostrava den Strukturwandel schafft, das weiß auch Heimkehrer Bretislav Sevcik. Die Arbeitslosigkeit ist hier im Osten des Landes mit knapp zehn Prozent deutlich höher als im tschechischen Landesdurchschnitt, die Löhne sind ein ganzes Stück niedriger: Während das tschechische Durchschnittsgehalt bei 1000 Euro im Monat liegt und in Prag sogar bei 1400 Euro, sind es in Ostrava noch 900 Euro. Gerade das aber macht den Standort für Investoren interessant. Einer, der in der Region Fuß gefasst hat, ist Ernst Käppeler: Als er in den frühen 90er-Jahren aus Deutschland kam, hat er 30 Kilometer entfernt von Ostrava eine Tochtergesellschaft für seine schwäbische Firma aufgebaut. Befra heißt sie, heute beschäftigt sie mehr als 250 Mitarbeiter.
Wenn Ernst Käppeler die Produktionshallen zeigt, ist ihm der Stolz anzumerken.
"Jetzt gehen wir mal kurz rein in die Umkleideräume. Das ist ein ESD-Schutz, da wird statische Aufladung abgeleitet mit dieser Jacke. Damit das funktioniert, müssen Sie das auch an den Füßen haben. Dieses hier über die Schuhe ziehen, das stecken Sie dann zwischen Schuh und Socken, diesen Zipfel da."
Die Erfolgsgeschichte von Befra fing mit einem elektronischen Steuerungssystem für den Bergbau an. Deshalb ist die Firma ursprünglich nach Ostrava gekommen: Ein paar Schritte vom Werksgelände entfernt erhebt sich der riesige Förderturm der Grube Frantisek, hier hat Ernst Käppeler mit seinen Mitarbeitern einst die erste der modernen Steuerungsanlagen montiert.
Der Standort erweist Ostrava sich als Vorteil
Heute ist die Grube Frantisek längst geschlossen – nur Ernst Käppeler ist immer noch hier. Er hat mit seiner Firma umgesattelt und baut heute die Steuerung von High-Tech-Geräten. Das ist es, was hier in den Werkshallen passiert: In langen Maschinenstraßen werden Platinen mit Prozessoren und anderen Bauteilen bestückt; ein komplizierter Prozess, der äußerste Präzision erfordert. Käppeler bleibt vor einer Maschine stehen, in der die grünen Platinen verschwinden, auf die sämtliche Bauteile und Drähte aus Lötpaste noch lose aufgelegt sind.
"In der Form geht es dann hier in den Ofen rein. Hier sind die Temperaturen 180 bis 250 Grad. Das wird erhitzt, und bei 221 Grad schmilzt diese Paste und verlötet sich. Und das Ergebnis sieht dann so aus wie das hier – das ist fertig verlötet. Das ist zum Beispiel eine Steuerung für Ampelanlagen oder im Industriekopierer oder in einer Werkzeugmaschine oder, oder, oder."
Im Kleinen bildet Ernst Käppeler mit seiner Firma Befra ab, was mit der Region Ostrava im Großen passiert ist: Der Bergbau, für den er sich hier angesiedelt hat, ist zwar fast verschwunden, aber längst entsteht etwas Neues. Der koreanische Autobauer Hyundai beispielsweise hat sein einziges europäisches Werk hier in der Region aufgebaut, um von den erfahrenen Metallarbeitern zu profitieren – in seinem Gefolge kamen etliche Zulieferfirmen aus aller Welt. Erfolgsgeschichten wie jene von Ernst Käppeler gibt es inzwischen vielfach: Bei seiner Firma Befra beschäftigt er längst nicht nur billige Montagekräfte, sondern auch ein paar Dutzend Ingenieure für die Entwicklungsabteilung. Ob er es nicht manchmal bereut, soweit im Osten gebaut zu haben und nicht näher an der deutsch-tschechischen Grenze? Käppeler schüttelt den Kopf:
"Nein, das hat sich sogar als Vorteil gezeigt. In Pilsen kriegen Sie schon keine Leute mehr, in Prag nicht, in Brünn nicht. Das Niveau der Arbeitslosigkeit hier in Ostrava war lange Zeit hoch, ist immer noch vergleichsweise hoch. Okay, man könnte mit jedem Transport nach Deutschland 400 Kilometer weniger fahren – aber für uns hat sich der Standort als Vorteil erwiesen."
"Eine unvorstellbare Maloche"
Zurück in Ostrava, zurück im Stollen. Hier, wo der Lastenaufzug mit Gerumpel die Besuchergruppen unter Tage bringt, ist für den früheren Kumpel Petr Denninger die Vergangenheit immer noch lebendig. Jede Handbewegung ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen; es ist die Routine nach den langen Jahren, die er selbst in den Stollen verbracht hat.
"Die Arbeit war immer schlecht bezahlt. Das, was wir da unter Tage machen, das ist eine unvorstellbare Maloche. Wer das nicht erlebt hat, der kann sich das überhaupt nicht vorstellen."
Trotzdem, brummt er dann, es sei ein guter Job. Für ihn ist die Arbeit eine Art Berufung. Inzwischen, sagt er, sei er zwar davon losgekommen – aber vier, fünf Mal im Monat steht er dann doch noch hier im Bergbaumuseum, und fährt wieder ein in die Grube. Zumindest als Museum hat die Schwerindustrie hier im Osten Tschechiens eine Zukunft.