Der Umgang mit den Sudetendeutschen ist bis heute ein verdrängtes Problem in Tschechien, meint die Politologin Zuzana Lizcová vom Institut für Internationale Studien an der Karlsuniversität in Prag. Es sei aber wichtig, sich damit auseinanderzusetzen, weil es gefährlich sei, ganze Gruppen als gut oder böse zu bezeichnen. Das ganze Interview im Podcast der Weltzeit.
"Diese Tschechoslowakei, das war ein Vielvölkerstaat!"
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Unter den jüngeren Tschechen ändert sich die Sicht auf die Sudetendeutschen, die 1945 aus Tschechien vertrieben wurden. Es geht ihnen auch um die aktuelle Fremdenfeindlichkeit in ihrem Land. Doch die Aufarbeitung der Geschichte stößt auf Widerstände.
"Als ich während meines Studiums in Brünn in das Viertel gezogen bin, in dem die Brünner Deutschen gewohnt hatten, war die Entdeckung dieses verborgenen Kapitels der lokalen Geschichte sehr neu für mich. Über die Brünner Vertreibung hat man einfach nicht geredet. Nicht einmal meine Großeltern und Eltern haben darüber gesprochen. Das war einfach kein Thema. Darüber sprach man auch nicht im Geschichtsunterricht in der Schule", erzählt Kateřina Tučková.
"Als ich dann in dieses Haus gezogen bin und auf dem Nachhauseweg immer an der Aufschrift vorbeikam: Mährische Glas- und Spiegelindustrie", war das ein Schock. Ich habe versucht, von den Einheimischen zu erfahren, warum da auf der Fassade etwas auf Deutsch steht. Und Stück für Stück habe ich durch solche Fragen herausgefunden, dass da Deutsche gelebt hatten, dass da Deutsche, Juden und Tschechen gemeinsam gelebt hatten."
Das Tabu rund um die Vertreibung brechen
Kateřina Tučková ist 1980 in Brünn geboren. Sie gehört zu jenen in Tschechien, die das Tabu rund um die Vertreibung der Deutschen nach 1945 brechen wollen. Die Schriftstellerin hat deshalb ihren ersten Roman, der 2009 erschienen ist, dem Schicksal einer jungen Deutschen gewidmet: "Gerta. Ein deutsches Mädchen".
Vater Deutscher, Mutter Tschechin, wächst die Heldin des Romans im Brünn der 1930er- und 1940er-Jahre auf. Als die Rote Armee Ende April 1945 die Stadt einnimmt und die Tschechoslowakei von den Nazis befreit, muss die 21-jährige Gerta mit ihrem Neugeborenen und zehntausenden anderen Deutschen die Stadt Richtung Österreich verlassen. Dabei erfährt sie schlimmste körperliche und psychische Gewalt.
"Ihr Schicksal hat mich so berührt, weil ich genauso alt wie Gerta war, als ich den Roman schrieb. Ich habe ihre Briefe gelesen und fand es schrecklich, dass ein Mensch in diesem Alter für etwas büßen musste, was er überhaupt nicht verbrochen hat. Das war damals einfach Weltgeschichte. Und so eine Frau war gezwungen, ihre Wohnung, ihre Stadt, ihre Heimat zu verlassen – wie ein Mensch zweiter Klasse."
"Es ist eine Gruppentherapie"
In Tschechien löste ihr Roman teilweise heftige Diskussionen aus. Denn besonders bei den Älteren rührte er alte Wunden auf. Und doch sind die Diskussionen ein Zeichen dafür, dass Tschechien sich seiner Geschichte stellen will.
Erst seit dem Ende der 90er-Jahre interessieren sich Künstler und Intellektuelle verstärkt dafür, was nach dem Zweiten Weltkrieg in der damaligen Tschechoslowakei passiert ist. Und brechen damit auch mit den Mustern der bisherigen vom kommunistischen Regime geprägten Geschichtsaufarbeitung. In ihren Lesungen trifft Kateřina Tučková oft auf Menschen der Kriegsgeneration, die ihren Ansatz nicht verstehen.
"Bei diesen Debatten wird das Problem offen angesprochen, und dadurch wird auch viel Last abgebaut. Es ist eine Gruppentherapie eigentlich."
In den letzten zehn bis 15 Jahren gibt es in Tschechien viele Filme, Bücher und Ausstellungen zu diesem Thema – wie zum Beispiel in diesem Herbst den Kinofilm "Landschaft im Schatten" des Regisseurs Bohdan Sláma. Sie alle stellen lange feststehende Kategorien von gut und böse in der tschechischen Geschichte infrage.
Mitte der 2000er-Jahre wurde auch zum ersten Mal der "Versöhnungsmarsch von Brünn" ins Leben gerufen – mitentwickelt von Kateřina Tučková und Jaroslav Ostrčilík. Bis heute findet er einmal im Jahr statt und erinnert an die Vertreibung der Sudetendeutschen in Böhmen und Mähren. Wegen der Coronapandemie musste er dieses Jahr von Juni auf September verlegt werden.
"In der Nacht vom 31. Mai 1945 sind ungefähr 27.000 Menschen Richtung österreichische Grenze getrieben worden. Das waren Kinder und junge Menschen bis 16. Männer und Frauen über 65 und Frauen allgemein. Männer im arbeitsfähigen Alter mussten in Brünn noch den ganzen Sommer bleiben. Und diese 27.000 Menschen sind ungefähr 32 Kilometer Richtung Österreich getrieben worden", sagt der Organisator des Marsches Jaroslav Ostrčilík.
"Der Marsch hat ein vorläufiges Ende genommen, in einem Städtchen Namens Pohořelice auf halbem Wege zwischen Brünn und österreichischer Grenze. Und wir erinnern an diesen Todesmarsch, indem wir diese Strecke nachgehen."
Über das Ausmaß der Gewalt wird gestritten
Über die genauen Zahlen und das Ausmaß der Gewalt wird viel gestritten. In Tschechien spricht man meist von 1000 bis 2000 Opfern. Deutsche und österreichische Quellen führen bis zu 5200 Tote auf. Die Menschen starben an den Folgen körperlicher Gewalt und vor allem an Krankheiten, die wegen der schlechten hygienischen Zustände im Zwischenlager in Pohořelice ausgebrochen waren.
An diesem ungewöhnlich heißen Septembertag erinnert der Bürgermeister von Pohořelice auf einer Wiese zwischen Denkmal und Kornfeldern an die Geschehnisse von damals. Eine bunte Menge von etwa 200 Menschen hört ihm zu. Zwei Priester laden zum Gebet.
"Wir versöhnen uns miteinander, aber auch uns selbst damit, was damals passiert ist. Das, finde ich, bringt die Gesellschaft viel weiter Richtung Europäertum", meint der 37-jährige Ostrčilík, der als Kind tschechischer Eltern in Österreich aufgewachsen ist und zum Studium nach Brünn kam.
Er wie auch die anderen Veranstalter des Versöhnungsmarsches sind überzeugt, dass man viel besser mit den Schwierigkeiten der heutigen Welt umgehen kann, wenn man seine Geschichte ganz kennt, das Schlechte und das Gute darin.
Sudetendeutsche gehören zur tschechischen Identität
Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen kommen aus Tschechien, Österreich, Deutschland und der Slowakei. Sie sprechen miteinander, lernen sich kennen – und dadurch, so Ostrčilík, nähern sie sich an. Zwei von ihnen sind Jakub und Emma, beide Mitte 20. Sie studieren in Brünn und wollen, dass die Sudetendeutschen wieder Teil der tschechischen Identität werden.
"Wenn man durch den Wald geht und mitten im Wald auf einmal der Brunnen eines verschwundenen Dorfes steht, dann versteht man, dass das Teil unserer Geschichte und unserer Gesellschaft ist."
"Wir als Tschechen sind unheimlich gut im Vertreiben anderer Menschen. Uns fehlen hier die Deutschen genauso wie die intellektuelle Schicht, die wir während des Kommunismus vertrieben haben. Wir nehmen wahr, dass diese Menschen Teil der Tschechischen Republik oder eben dieses Gebietes waren – egal zu welcher Volksgruppe sie sich zählten. Sie fehlen hier einfach."
Auch Michal Urban, der am Versöhnungsmarsch teilnimmt, bedauert den weißen Fleck in der nationalen Erzählung. "Wer ist geblieben?! Es ist ein relativ national-homogener Staat geblieben mit Menschen, die nicht bereit sind, etwas Buntes zu akzeptieren."
Deshalb engagiert sich der 28-Jährige auch beim Verein "Antikomplex". Die Idee dahinter: den Komplex, den die tschechische Gesellschaft mit dem Thema Vertreibung hat, aufzulösen. Mit Büchern, Ausstellungen und Theaterstücken.
Auseinandersetzung führt auch in die Gegenwart
Für ihn ist das nicht nur Aufarbeitung von Geschichte, sondern bedeutet auch, sich mit der Gegenwart auseinanderzusetzen. Denn in Tschechien gibt es viele Minderheiten, die diskriminiert werden. Ihnen eine Stimme zu geben und gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus vorzugehen – das ist das Anliegen des Vereins, sagt Michal Urban.
"Der Verein wurde in den 90er-Jahren gegründet von Geschichtsstudenten in Prag, die das Gefühl hatten, dass es in der tschechischen Geschichte ein bestimmtes Tabu gibt und das war eben die Geschichte der Vertreibung, über die nicht gesprochen wurde, aber das hat sich mittlerweile ganz geändert."
Inzwischen hat der Versöhnungsmarsch Brünn erreicht – nach 32 Kilometern in der prallen Sonne. Empfangen werden die überwiegend jungen Menschen von einer kleinen Gruppe, die Plakate in die Höhe hält.
"Sie wollen die junge Generation beeinflussen, die von der Geschichte nichts weiß, die glaubt, dass es bei solchen Märschen um irgendeine Versöhnung geht. Sie wollen aus Tschechen Täter und aus den Deutschen Opfer machen", sagt eine Frau, die Zeitzeugin der nationalsozialistischen Besetzung ist und gegen den Versöhnungsmarsch protestiert, wie die anderen in der Gruppe auch.
"Warum schürt man hier Hass gegenüber der Sowjetunion?! Das stört mich unheimlich. Ich reiche meine Hand gerne einem Deutschen, Franzosen, Österreicher, aber ich mag es nicht, wenn Zwietracht zwischen Menschen gesät wird. Die Russen, das ist ein slawisches Volk. Das sind Menschen, die uns nahestehen. Verstehen Sie! Und hätte es die Rote Armee nicht gegeben, dann wären wir einfach nicht mehr hier!"
"Die Deutschen sind an ihrer Vertreibung selbst schuld"
Die meisten Demonstrierenden sind weit über 60. Sie gehören der kommunistischen Partei KSČM an, die sich aus der früheren Einheitspartei KSČ entwickelt hat, als diese 1989 gestürzt wurde. Jiří Hráček, der die Gruppe anführt, hat die Wende als Kind erlebt. Er ist der Jüngste hier.
"Sie ignorieren, dass die Sudetendeutschen die Republik zerstört und während des Krieges mit den Nazis kollaboriert haben. Sie sind an ihrer Vertreibung selbst schuld!"
Und er fügt unmissverständlich hinzu: "Mit ihnen reden, das ist in Ordnung, aber dass wir uns dafür entschuldigen sollen, dass sie uns hier auslöschen wollten – das ist für mich inakzeptabel!"
Konfrontiert mit solchen Aussagen, erwidert Michal Urban vom Verein "Antikomplex":
"Ich revidiere ja die Geschichte auch gar nicht, was für Grauen über das Land hier ergangen ist. Das kann man nicht relativieren. Die Ausmaße sind so schrecklich. Aber man darf nicht Unrecht mit Unrecht wiedergutmachen. Kollektivschuld finde ich falsch. Wenn man sich einen Konflikt anschaut und jeden Bürger des Staates dafür schuldig macht – das geht nicht. Beim besten Willen wäre das Unrecht."
Die Region, in der die westböhmische Stadt Ústí nad Labem liegt, ist die ärmste in ganz Tschechien. Sie liegt am anderen Ende des Landes, nahe der sächsischen Grenze. Viele Menschen hier wenden sich populistischen Parteien zu. Der Historiker und Kurator Petr Koura bereitet in Ústí nad Labem eine Dauerausstellung vor, die sich mit den Wirrungen der langen deutsch-tschechischen Geschichte auseinandersetzt. Sie soll Anfang 2021 eröffnet werden. Der Titel: "‚Naši Němci‘ - Unsere Deutschen".
"Ich glaube, dass die Ausstellung Stereotype abbauen kann, die während des letzten Jahrhunderts entstanden sind. Dass das alles Faschisten waren. Nazis, die die Vertreibung verdient hatten."
Im Mai 1945, in der ersten Rede nach seiner Rückkehr aus dem Exil, hatte der tschechoslowakische Präsident Edvard Beneš im Brünner Rathaus verkündet, dass das deutsche Volk wie ein "einziges, riesiges, menschliches Ungeheuer" erscheine.
"Wir wollen zeigen, dass nicht alle so waren und dass die Spaltung in Tschechen, Deutsche und Juden eigentlich ein Produkt gerade dieser nationalsozialistischen Ideologie war."
Tschechoslowakei war früher ein Vielvölkerstaat
Neben den dunklen Kapiteln der Geschichte sorgt ein Tischkicker für Abwechslung. Er symbolisiert die Tschechoslowakei vor dem Einmarsch der Wehrmacht, erklärt der 42-jährige Kurator.
"Es soll ein konkretes Spiel zwischen zwei deutschen Klubs darstellen: Einer Prager und einer Teplitzer Mannschaft. Mit genauem Datum aus dem Jahr 1935. In der tschechoslowakischen Staatsliga! An den Namen der Spieler erkennt man, dass sie deutsch, tschechisch, aber auch ungarisch und jüdisch waren. Das war eben so. Diese Tschechoslowakei, das war ein Vielvölkerstaat!"
Eine gewisse Nostalgie ist Petr Koura deutlich anzumerken. Ob das Zusammenleben damals tatsächlich so einfach war, ist heute nur noch schwer zu rekonstruieren. Und doch verbindet er genauso wie die Schriftstellerin Kateřina Tučková mit Tschechien mehr als nur eine Ethnie.
"Zusammen mit den vertriebenen Menschen wurde auch das Thema Vertreibung aus dem Bewusstsein der tschechischen Bevölkerung verdrängt. Als ob es uns nicht betreffen würde. Ich halte das für einen großen Fehler, weil wir uns so Illusionen über uns als Volk machen können, die nicht stimmen."
Das findet Michal Urban vom Verein "Antikomplex" auch – und hat gleich einen praktischen Tipp parat:
"Es gibt ja in Deutschland ganz viele Heimatstuben, also das, was die Großeltern mitgebracht haben. Das wurde da aufbewahrt und das wurde erhalten und in Vitrinen ausgestellt und, und, und. Diese Dokumente, Bücher etc. finden jetzt wenig Interesse bei der deutschen Gesellschaft und es entsteht die Frage, was damit zu tun wäre. Meine logische Überlegung wäre, die Gegenstände und quasi die Geschichte dieser Leute zurück in ihre Heimat zu bringen, weil da hat es Kontext, da könnte man damit noch etwas anfangen."