Tschechow auf den Kopf gestellt

Von Michael Laages |
Der Intendant Matthias Hartmann inszeniert "Onkel Wanja" am Burgtheater in Wien mit Gert Voss, Nicholas Ofczarek und Michael Maertens. Dabei bedient er sich eines Kniffes, stellt die Dramaturgie auf den Kopf und beginnt mit dem Ende des Stückes. Und er beweist: Es kann, trotz aller Tragik und Unglückes, durchaus als Komödie gelten.
Wer meint, ein Stück spiele sich quasi von selbst, wenn nur die Namen von Ensemble-Mitgliedern wie Caroline Peters, Michael Maertens, Nicolas Ofczarek oder gar Gert Voss darüber stehen (und in der weiteren Liste an den Rändern auch noch Branko Samarowski oder Elisabeth Orth zu finden sind), der irrt natürlich immer gewaltig. Und auch Anton Tschechows "Onkel Wanja", aktuell von Matthias Hartmann erarbeitet, ist nur deshalb ein derart rauschender Erfolg geworden, weil der Regisseur den Darstellerinnen und Darstellern dieser Meisterklasse ganz viel roten Teppich auslegt.

Zunächst hat Hartmann eine sehr zeitgenössische neue Übersetzung gewählt. Angela Schalenec (die ehedem viele Bearbeitungen mit Jürgen Gosch kreierte) hat sie mit Arina Nestieva erarbeitet. Hier gehen nun schon mal Sachen "flöten", und von "beschissenen Visagen" darf die Rede sein – dabei ist die Fassung gar nicht absichtsvoll modernistisch, nur eben sehr, sehr handfest.

Und mit diesem Stück-Text kann der Regisseur auch eines der haltbaren Tschechow-Rätsel sehr ernst nehmen: Demzufolge nämlich auch diese "Szenen aus dem Landleben" als Komödie gelten; trotz aller Sentimentalität und Traurigkeit, die sie verströmen, trotz allen Unrechts, aller Gefühllosigkeit und allen Unglücks, das die Geschichte vom allseits unerfüllten Leben durchzieht.

Tschechows traurige Helden sind ja bei etwas längerem Hinsehen und Hinhören immer auch lächerliche Figuren, die gern zum unpassenden Zeitpunkt unangemessene Dinge tun, deren Pläne und Sehnsüchte notwendig und für alle Welt sichtbar zum Scheitern verdammt sind – und das ist eben auch komisch, nicht nur, weil immer mal wieder von "komischen" Leuten die Rede ist.

Hartmanns Inszenierung beginnt mit einem Paukenschlag: dem Flintenschuss, mit dem sich eigentlich erst am Ende des dritten Aktes der geschundene Gutsverwalter Wanja den ignoranten alten Professor ernsthaft vom Leibe schaffen will, der ihm lebenslang die Lebensenergie ausgesaugt hat. Zwei Mal schießt Wanja, auch aus nächster Nähe, und der Professor schützt sich ulkigerweise mit einem Gartenklappstuhl. Zwei Mal geht der Schuss daneben. Wenn nicht auch das ziemlich komisch ist…

Nachdem die Inszenierung also den dramatischsten Moment des Stückes vorweg nimmt, kann sie sich ganz dem immerwährenden Gleichmaß auf dem Landgut widmen, das Wanja und Sofja betreiben, des Professors Tochter aus zweiter Ehe.

Wanja verehrt (sinnloserweise) dessen neue Frau, genau so wie der Arzt (und Trinker) Astrow, der – wenn auch gebrochen wie alle - für Klugheit und Zukunft steht im Stück. Und der im Übrigen auch ein bisschen weiter kommt mit der schönen Elena, während er von Sofja (die ihn liebt) nichts wissen will.

Mit dem ebenso fahrigen wie aasigen Michael Maertens als Astrow verfügt Hartmanns Inszenierung über ein grandioses Kraftzentrum, mit dem bullig-brodelnden Nicolas Ofczarek als sehr virilem Wanja über ein zweites. Caroline Peters ist das umschwärmte Sehnsuchtswesen Elena und Tina Kloempken verpasst ihr ein üppiges Sortiment von schillernd-schönen Kostümen.

Gert Voss steht ja als schwafelnd-kränkelnder Professor eher selten im Mittelpunkt und er ist (natürlich) klug genug, das Stück nie zu sehr an sich zu ziehen. Und wenn in den kleinen Rollen Branko Samarowski den pockennarbigen Telegin und Elisabeth Ort das alte Kindermädchen mit Leben erfüllen, dann ist deutlich zu spüren, wie reich dieses Theater ist.

Reich übrigens auch an jungem Talent – denn zum im Grunde wichtigsten Kraftzentrum mausert sich im Lauf der Aufführung Sarah Victoria Frick als Sofja: nicht einsam und alternd, sondern kindlich und kichernd (speziell in der Sauf- und Verschwesterungsszene mit der reiferen Stiefmutter) erkämpft sie sich die tragische Durchhaltekraft an Wanjas Seite.

Hartmann schickt sie gemeinsam mit Voss in eine der vielen Verbeugungsserien im Jubel-Finale: Eine tolle Geste. Diese junge Schauspielerin vergisst so schnell niemand mehr.

Stephane Laimé nimmt Hartmanns Strategie auf – und hängt zunächst gleich zwei bühnenhohe Gerüste wie ein Dickicht vor die Szene, von denen das eine die Innen-, das andere die Außenansicht des herunter gekommenen Guts markiert. Dann bleibt die Szene lange leer, und dann ist mal das eine, mal das andere Gerüst im Einsatz, viele kleine Lüster inklusive. Für das Finale kommt noch ein bühnenhohes Regal hinzu – in dem sich Wanja für Momente verkriecht; wie ein erledigter Fall.

Das aber sind sie alle. Und ihr Untergang en gros ist im Detail ein auffällig heiteres Schauspielerfest, obwohl eigentlich keine sonderlich ambitionierte Deutung dieser Tschechow-Belebung zu Grunde liegt.

Komödie genügt – und das Wiener Publikum amüsiert sich vielleicht ein wenig zu demonstrativ. Anlass aber hat es genug.


Mehr zum Thema bei dradio.de:

Gemütslage einer weitgehend sorgenfreien Bildungsschicht
"Onkel Wanja" von Tschechow an der Wiener Burg
Untergehende Reiche, begrabene Hoffnungen
Stephan Kimmigs Interpretation des "Kirschgarten" am Deutschen Theater Berlin