Tschernobyl - vor und nach der Katastrophe
Der Name der kleinen ukrainischen Stadt Tschernobyl steht für eine der schlimmsten Umweltkatastrophen weltweit. Der Ort selbst ist seit der Reaktorexplosion im April 1986 Sperrgebiet, kann aber besucht werden. Der italienische Journalist Francesco Cataluccio hat über die Geisterstadt - und über die vergessene jüdisch geprägte Geschichte der Region - ein bemerkenswertes Buch geschrieben.
25 Jahre nach dem GAU hat Francesco Cataluccio eine Tour in die "verbotene Zone" um das Atomkraftwerk gebucht und erzählt eindrucksvoll von seinen Erlebnissen. Er beschreibt die ihm abstrus erscheinenden Sicherheitsvorkehrungen – man darf nichts Essbares mit hinein nehmen, bekommt dort aber ein Abendessen serviert –, die verlassenen Gebäude, in denen die Bewohner ihre Habseligkeiten zurücklassen mussten, und berichtet wie Vegetation und Tierwelt den Ort langsam zurückerobern, obwohl hier auch noch Menschen leben. Illegale Rückkehrer, Jäger oder solche, die vom Katastrophentourismus leben – immerhin zählt Tschernobyl inzwischen 15.000 Besucher im Jahr.
In seine Reportage streut er Historisches ein: Beispielsweise wie Zeitzeugen den Reaktorunfall von 1986 wahrnahmen. Er selbst lebte damals in Polen, und sein altes Tagebuch ist ein erschütterndes Dokument von Unsicherheit und Nichtwissen, von Uninformiertheit und hilflosen Versuchen durch Dosenfisch- und Wodkakonsum der drohenden radioaktiven Vergiftung zu entgehen.
Im Mittelpunkt der historischen Betrachtung steht aber die vergessene Geschichte Tschernobyls und der nördlichen Ukraine - eine Geschichte von Katastrophen und Gewalt. Erstmalig 1193 erwähnt, wird Tschernobyl im 16. Jahrhundert Staatsgebiet von Polen und damit Heimat zahlreicher polnischer Juden. Die ukrainischen Bauern hassen die jüdischen Einwanderer, und nachdem die Ukraine an Russland fällt, ermorden Kosaken mehr als 100.000 von ihnen.
Weitere Pogrome finden Ende des 19. Jahrhunderts statt, und auch im Russischen Bürgerkrieg ab 1919 geraten die Juden zwischen die Fronten – Ukrainer, Kosaken und Truppen der Konterrevolutionäre fallen in Dörfer ein, verwüsten sie und ermorden brutal deren Einwohner. In den 1930er-Jahren lässt Stalin die Ukraine ausplündern – in den Hungersnöten sterben mindestens sieben Millionen Menschen. Und unter der deutschen Besatzung werden systematisch alle Juden getötet. Allein fast 34.000 Juden werden am 29. September 1941 in Baby Jar erschossen.
Cataluccio berichtet aber auch von der starken jüdischen Kultur der Region, aus der Baal Schem Tow (1699-1760), der Begründer des Chassidismus stammt. Er erinnert an die Rabbiner aus Tschernobyl, den Autor Tadeusz Miciński (1873-1918), einen polnischen expressionistischen Schriftsteller, sowie an seine Kollegen Isaak Babel und Michail Bulgakow.
Francesco Cataluccio gelingt ein ganz erstaunliches Buch – eine Mischung aus Reisebericht, Tagebuch und historischer Erzählung, durchsetzt mit kulturhistorischen und zeitgenössischen Exkursen. Mitunter abschweifend, aber niemals langweilig.
Besprochen von Günther Wessel
Francesco M. Cataluccio: Die ausradierte Stadt - Tschernobyls Katastrophen
Aus dem Italienischen von Sigrid Vagt
Paul Zsolnay Verlag, Wien 29012
160 Seiten, 16,90 Euro
In seine Reportage streut er Historisches ein: Beispielsweise wie Zeitzeugen den Reaktorunfall von 1986 wahrnahmen. Er selbst lebte damals in Polen, und sein altes Tagebuch ist ein erschütterndes Dokument von Unsicherheit und Nichtwissen, von Uninformiertheit und hilflosen Versuchen durch Dosenfisch- und Wodkakonsum der drohenden radioaktiven Vergiftung zu entgehen.
Im Mittelpunkt der historischen Betrachtung steht aber die vergessene Geschichte Tschernobyls und der nördlichen Ukraine - eine Geschichte von Katastrophen und Gewalt. Erstmalig 1193 erwähnt, wird Tschernobyl im 16. Jahrhundert Staatsgebiet von Polen und damit Heimat zahlreicher polnischer Juden. Die ukrainischen Bauern hassen die jüdischen Einwanderer, und nachdem die Ukraine an Russland fällt, ermorden Kosaken mehr als 100.000 von ihnen.
Weitere Pogrome finden Ende des 19. Jahrhunderts statt, und auch im Russischen Bürgerkrieg ab 1919 geraten die Juden zwischen die Fronten – Ukrainer, Kosaken und Truppen der Konterrevolutionäre fallen in Dörfer ein, verwüsten sie und ermorden brutal deren Einwohner. In den 1930er-Jahren lässt Stalin die Ukraine ausplündern – in den Hungersnöten sterben mindestens sieben Millionen Menschen. Und unter der deutschen Besatzung werden systematisch alle Juden getötet. Allein fast 34.000 Juden werden am 29. September 1941 in Baby Jar erschossen.
Cataluccio berichtet aber auch von der starken jüdischen Kultur der Region, aus der Baal Schem Tow (1699-1760), der Begründer des Chassidismus stammt. Er erinnert an die Rabbiner aus Tschernobyl, den Autor Tadeusz Miciński (1873-1918), einen polnischen expressionistischen Schriftsteller, sowie an seine Kollegen Isaak Babel und Michail Bulgakow.
Francesco Cataluccio gelingt ein ganz erstaunliches Buch – eine Mischung aus Reisebericht, Tagebuch und historischer Erzählung, durchsetzt mit kulturhistorischen und zeitgenössischen Exkursen. Mitunter abschweifend, aber niemals langweilig.
Besprochen von Günther Wessel
Francesco M. Cataluccio: Die ausradierte Stadt - Tschernobyls Katastrophen
Aus dem Italienischen von Sigrid Vagt
Paul Zsolnay Verlag, Wien 29012
160 Seiten, 16,90 Euro