Polina Scherebzowa: Polinas Tagebuch
Aus dem Russischen von Olaf Kühl
Rowohlt Berlin 2015
592 Seiten, 22,95 Euro, auch als ebook
Polinas Tagebuch über das Grauen des Krieges
Polina Scherebzowa hat beide Tschetschenienkriege erlebt. In "Polinas Tagebuch" beschreibt sie ihre Eindrücke als ahnungsloses Mädchen während des ersten Krieges - und die Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens in Zeiten von Angst und Gewalt.
"1994, 25. März: Sei gegrüßt, Tagebuch! Ich lebe in der Stadt Grozny, in der Zawjety-Iljitscha- Straße. Ich heiße Polina Scherebzowa. Ich bin neun Jahre alt.
26. März: Zum Geburtstag, am 20. März, hat Mama Nusstorte gekauft. Wir waren im Zentrum, auf dem Platz viele Leute. Die Menschen schrien. Da waren Großväter mit Bärten. Sie liefen im Kreis. Lenin stand vorher in Gummistiefeln da. Das Denkmal.
Dann haben sie ihn runtergeworfen, aber die Gummistiefel sind geblieben. Warum schreien die Menschen? Worum bitten sie? Mama hat gesagt: 'Das ist eine Demonstration!'"
26. März: Zum Geburtstag, am 20. März, hat Mama Nusstorte gekauft. Wir waren im Zentrum, auf dem Platz viele Leute. Die Menschen schrien. Da waren Großväter mit Bärten. Sie liefen im Kreis. Lenin stand vorher in Gummistiefeln da. Das Denkmal.
Dann haben sie ihn runtergeworfen, aber die Gummistiefel sind geblieben. Warum schreien die Menschen? Worum bitten sie? Mama hat gesagt: 'Das ist eine Demonstration!'"
1994 forderten Tschetschenen die Unabhängigkeit von Russland. Die Sowjetunion war gerade auseinandergebrochen, in Russland herrschte Chaos, es gab Lebensmittelengpässe. Auf 576 Seiten nimmt Polina Scherebzowa die Leser mit in das Grauen, das im Herbst 1994 begann:
"9. Oktober: Hubschrauber und Flugzeuge kreisten. Ganz tief. Mein Herz klopft. Werden sie uns töten? Mama sagt: 'Nein. Es wird keinen Krieg geben. Nein!'"
Es fällt schwer, beim Lesen ein Mädchen als Autorin zu sehen. Zu eindringlich sind viele Schilderungen, die Sprache sehr gewählt. Am 11. Dezember 1994 brach offiziell der erste Tschetschenienkrieg aus.
Das Grauen von der Seele in den Zeilen
"11. Dezember: Im Zentrum ist ein Haus von einer Bombe getroffen worden und eingestürzt. Da liegen alte Leute drunter, Russen.
(...) Niemand kann sie da rausholen. Es gibt keinen Kran. (...) Drei Tage lang hörten die Menschen die Schreie, und sie konnten niemanden retten."
(...) Niemand kann sie da rausholen. Es gibt keinen Kran. (...) Drei Tage lang hörten die Menschen die Schreie, und sie konnten niemanden retten."
Polina Scherebzowa schrieb sich das Grauen von der Seele. Und das ist für Leser teils nur schwer zu ertragen.
"1995, 20. Januar: Die Militärs schießen auf Hunde. Die Hunde fressen Verstorbene. Auf den Straßen liegen tote Menschen und tote Hunde.
Ich versuche, nicht hinzugucken, wenn ich vorbeigehe. Ich mache die Augen zu. Denn wenn ich sie sehe, schreie ich und kann nicht aufhören. Und Mama schimpft. Sie sagt, ich bin feige."
Ihre Mutter wird immer aggressiver. Schlägt die Tochter, verliert die Nerven. Polina gehört zur russischen Minderheit in Tschetschenien, wird verprügelt, geschnitten, beklaut und diskriminiert. Natürlich behält sie die Angst, natürlich wird das Sterben um sie herum alltäglich. Die Menschen verrohen.
Der erste Tschetschenienkrieg dauerte offiziell bis August 1996. Gelöst war der Konflikt jedoch nicht. 1999, Polina ist 14 Jahre alt, kündigte der damalige Ministerpräsident Vladimir Putin an, das Problem mit Gewalt zu lösen.
Im Herbst marschierten russische Truppen erneut ein. Der sogenannte "Zweite Tschetschenienkrieg" begann. Sein wesentliches Merkmal sind Antiterroroperationen. Sicherheitskräfte durchkämmen Wohnungen auf der Suche nach Terroristen, nehmen oft wahllos Menschen mit, viele kehren nicht zurück. Im Jahr 2000 gerät Polina Scherebzowa selbst in die Fänge einer Antiterroraktion.
"20. Januar: Gestern Morgen, am 19. Januar, holten uns russische Soldaten nach draußen. Meine Uhr zeigte kurz nach zehn.
'Schnell, Schnell!', befahlen sie. Mama ließen sie nicht ihren Pass und die Tüte mit Fotos von ihren verstorbenen Angehörigen mitnehmen. Sie sagten: 'Pass brauchst du nicht mehr'.
(...) Sie führten uns zu einer Schlucht. Ich sah hinunter. Dort war klebriger Lehm und Schnee. (...) Einer der Soldaten gab eine kurze Salve aus der Maschinenpistole ab, knapp über unsere Köpfe.
Ich erschrak und taumelte, mir wurde schwindlig, Mama hielt mich fest. (...) Die Soldaten lachten. (...) "Das mit der Erschießung war nur Spaß."
'Schnell, Schnell!', befahlen sie. Mama ließen sie nicht ihren Pass und die Tüte mit Fotos von ihren verstorbenen Angehörigen mitnehmen. Sie sagten: 'Pass brauchst du nicht mehr'.
(...) Sie führten uns zu einer Schlucht. Ich sah hinunter. Dort war klebriger Lehm und Schnee. (...) Einer der Soldaten gab eine kurze Salve aus der Maschinenpistole ab, knapp über unsere Köpfe.
Ich erschrak und taumelte, mir wurde schwindlig, Mama hielt mich fest. (...) Die Soldaten lachten. (...) "Das mit der Erschießung war nur Spaß."
Polina Scherebzowa lebt heute in Finnland im Exil. Ihr Tagebuch gibt einen Eindruck in das Leben während der Kriege, die Russland mit der eigenen Bevölkerung und mit seinen Nachbarn führt. Polinas Tagebuch ist das Buch eines Kindes. Es ist kein politisches Sachbuch. Nach der Lektüre lässt sich erahnen, welche Wunden aufbrechen, sollte der Krieg noch einmal nach Tschetschenien zurückkehren.