Tschetscheninnen in Polen

Auf der Flucht vor Zwang und Gewalt

23:37 Minuten
Im Gegenlicht sind auf einem breiten Gang die Shilouetten zweier Frauen zu sehen.
Frauen in einem Einkaufszentrum in Grosny: Viele Tschetscheninnen fliehen vor häuslicher Gewalt nach Polen. © picture alliance / dpa / RIA Nowosti / Ramil Sitdiko
Von Gesine Dornblüth |
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90 Prozent der Asylsuchenden in Polen kommen aus Tschetschenien. Viele von ihnen Frauen, geflohen vor männlicher Willkür - und Missbrauch. Nur wenige erhalten Asyl, weil es schwierig ist zu beweisen, dass der Staat sie in ihrer Heimat nicht schützt.
Ein Flüchtlingswohnheim irgendwo in Polen: Ein langer Flur. Der Linoleumboden wellt sich, gelbe Ölfarbe an den Wänden, künstliches Licht. Die Türen auf den Fluren sind geschlossen. Davor liegen Plastiklatschen und Kinderschuhe. Rund hundert Geflüchtete leben hier, ausschließlich Frauen mit ihren Kindern, je eine Familie in einem Zimmer. Fast alle kommen aus Tschetschenien.
Madina sitzt auf dem Bett. Ihr fast erwachsener Sohn liegt hinter ihr. Er hat ein Bettlaken über den Kopf gezogen. Auf ihre Versuche, ihn zur Seite zu schieben, reagiert er nicht.
"Warum ich fortgegangen bin? Ich hatte Probleme mit meinem Mann." Sie blickt auf den Boden, ihre Wimperntusche ist verschmiert. Sie hat geweint.
"Als mein Mann mich zusammengeschlagen hat, haben die Nachbarn die Polizei gerufen. Alle Nachbarn haben gegen ihn ausgesagt: "Der bringt Frau und Kinder noch um, tun Sie etwas!" Der Polizist hat alle rausgeschickt, hat sich dicht vor mich gesetzt und zu mir gesagt: "Wer bist du überhaupt? Du bist eine Frau. Willst du diesen Mann vernichten? Ich gebe dir eine Stunde, um zu verschwinden. Länger halte ich ihn nicht fest."

"Ich wäre geblieben, denn ich liebe meine Heimat!"

Madina erzählt, sie habe sich in ihrer Not an die Behörden in Tschetschenien gewandt, sei sogar zum Mufti, dem islamischen Rechtsgelehrten, gegangen. Die Tschetschenen sind Muslime, der Islam spielt – neben überlieferten Traditionen – eine große Rolle.
"Im Muftiat haben sie mich angeschrien und mir sogar verboten zu weinen. Es war so erniedrigend. Ich habe in Tschetschenien alle nur erdenklichen Stellen um Hilfe gebeten. Wenn es die kleinste Möglichkeit gegeben hätte, wäre ich dort geblieben, denn jeder Mensch liebt doch seine Heimat. Jeder."
Zimmer kit Doppelstockbetten, zwischen denen Wäsche auf Schnüren trocknet.
Ein Zimmer des Wohnheims, in dem die Tschetscheninnen mit ihren Kindern hausen.© Gesine Dornblüth
Eine weitere Frau kommt hinzu, nimmt Platz. Auch Sajnap erzählt, dass sie mit ihren Kindern vor der Gewalt ihres Mannes geflohen sei.
"Ich wusste, dass mir keiner zuhören wird. Deshalb habe ich nicht mal meinen Verwandten Bescheid gesagt. Wenn ich ihnen etwas gesagt hätte, hätten sie gesagt: Du bist eine Frau, du musst das aushalten. Ich wusste, dass mir niemand zuhören würde. Frauen sind bei uns das Letzte. Deshalb bin ich geflohen."
Beide Frauen haben Angst, dass ihr Antrag auf Asyl abgelehnt und sie nach Tschetschenien abgeschoben werden. Madina hat bereits eine Ablehnung erhalten.
"Sie haben gesagt: Bei Ihnen ist alles in Ordnung. Sie dramatisieren, was passiert ist."
In der EU werden in letzter Zeit nur noch wenige Tschetschenen als politische Flüchtlinge anerkannt. Viele bekommen sogenannte Duldungen, dürfen aus humanitären Gründen bleiben, müssen diesen Aufenthaltsstatus aber immer wieder verlängern lassen.

Häusliche Gewalt ist in der EU kein Asylgrund

In Polen erhielten von insgesamt 2400 Antragstellern aus Tschetschenien im Jahr 2018 nur sieben politisches Asyl. Weitere 45 bekamen eine Duldung. Häusliche Gewalt ist in der EU in der Regel kein Asylgrund. Ist der Staat aber nicht gewillt oder nicht in der Lage, Frauen vor Gewalt zu schützen, steigen die Chancen, dass sie aus humanitären Gründen in der EU bleiben dürfen. Eine einheitliche Rechtsprechung gibt es bisher nicht. Es kommt auf den Einzelfall an.
Madina ist überzeugt, in Tschetschenien würde sie von ihrem Mann oder seinen Verwandten zu Tode geprügelt werden. Gegen die Ablehnung hat sie Widerspruch eingelegt: "Jetzt warte ich auf die zweite Entscheidung."
Ramsan Kadyrow, Chef der russischen Teilrepublik Tschetschenien.
Ramsan Kadyrow, Chef der Teilrepublik Tschetschenien, kam 2007 mit Unterstützung von Russlands Präsident Wladimir Putin an die Macht.© picture alliance / Ria Novosti / Said Tcarnaev
Ein Mann betritt den Aufenthaltsraum im Erdgeschoss des Flüchtlingsheims. Jakub Dudziak ist Sprecher der polnischen Ausländerbehörde, ein junger, freundlicher Mann. Er erklärt, weshalb die meisten Asylsuchenden aus Tschetschenien in Polen abgelehnt würden.
"Unsere Behörde prüft jeden Fall individuell. Bei den Tschetschenen gibt es einen Hauptgrund, Asyl zu beantragen – wenn man das mal verallgemeinern will: wirtschaftliche, soziale Motive."
Die meisten Tschetschenen hätten von Verwandten, die bereits früher, während der Tschetschenienkriege, in die Europäische Union geflohen seien, gehört, dass man in der EU besser lebe, meint Dudziak.

Tschetschenen pauschal als Wirtschaftsflüchtlinge betrachtet

"Natürlich ist es nicht verwerflich, wenn jemand besser leben möchte", sagt Jakub Dudziak. "Aber das Asylverfahren ist nicht für Wirtschaftsflüchtlinge da. Es ist für Menschen gedacht, die wirklich schutzbedürftig sind, die berechtigte Angst vor Verfolgung haben, um ihr Leben in ihrem Herkunftsland."
Die Flüchtlingsorganisation "Ocalenie" in Warschau gehört zu den wenigen Lobbygruppen in Polen, die sich für Menschen wie Madina einsetzen. Ocalenie heißt Rettung. Hier lernen Geflüchtete Polnisch. Außerdem bekommen sie juristischen und psychologischen Beistand und werden bei der Wohnungs- und Arbeitssuche betreut.
Menschen sitzend am Tisch, schauen nach vorn auf die Tafel, wo eine Lehrerin steht und erklärt.
Beim Polnischunterricht - Flüchtlinge bei der NGO Ocalenie in Warschau © Gesine Dornblüth
Kalina Czwarnóg ist im Vorstand der Organisation und erhebt schwere Vorwürfe gegen die polnische Ausländerbehörde.
"Es gibt eine Menge Ablehnungen, die es nicht geben sollte. Menschen, die wirklich als Flüchtlinge anerkannt werden sollte, werden nicht anerkannt. Das ist das größte Verbrechen."
Aus Tschetschenien, sagt Czwarnóg, flüchteten die Menschen nicht aus wirtschaftlichen, sondern aus ganz anderen Gründen:
"Wegen des Regimes. Obwohl der Krieg vorbei ist, sind die Menschen dort immer noch nicht sicher. Ramsan Kadyrow kämpft gegen Terroristen, die gar keine sind. Da werden Sie zum 'Terroristen' erklärt, nur weil Sie jemandem, der Verbindungen zum Regime hat, Ihr Auto nicht verkaufen wollen. Das ist nicht normal."
Ramsan Kadyrow lenkt die russische Teilrepublik autoritär, mit einer kruden Mischung aus Mafiaherrschaft, Traditionsrecht, Scharia und Willkür. Er unterhält eine rund 80.000 Mann starke eigene Sicherheitsarmee, die sogenannten Kadyrowzy, die in der Republik Angst und Schrecken verbreiten. Kadyrow kam 2007 mit Unterstützung von Russlands Präsident Wladimir Putin an die Macht. Er lässt Kritiker foltern und verschwinden. Unabhängige Menschenrechtsorganisationen wie Memorial haben sich aus Tschetschenien zurückgezogen.

Die Frau steht an letzter Stelle

Die außerordentlich brutalen Kriege in den 90er und 2000er Jahren haben die Gesellschaft verrohen lassen. Zu all dem kommen noch jahrhundertealte anachronistische Traditionen der tschetschenischen Gesellschaft: Der Mann entscheidet. Es gibt nach wie vor die Blutrache. Die Frau steht an letzter Stelle. Und es gibt Zwangsverheiratungen, sogar von Minderjährigen. Das verstößt zwar gegen die russische Verfassung, doch dem Republikchef Kadyrow ist das egal.
Zurück im Flüchtlingsheim. Nacheinander kommen immer mehr Frauen in das Wohnheimzimmer, kochen Tee. Auch Heda will ihre Geschichte erzählen. Sie sei als Schülerin vergewaltigt und entführt worden. Von einem Verwandten Kadyrows, sagt sie. Sie sei schwanger geworden, habe das Kind zur Welt gebracht, und sei, sobald sie es nicht mehr stillen musste, von dem Mann auf die Straße gesetzt worden. Das Kind habe sie nie wieder gesehen. Auf die Frage, ob sie den Vergewaltiger jemals angezeigt habe, schüttelt sie entschieden den Kopf.
Wie sich das auswirkt, veranschaulicht eine Hochzeit aus dem Nordkaukasus von 2015: Die 17-jährige Luisa Gojlabijewa heiratete einen um viele Jahre älteren lokalen Polizeichef aus Tschetschenien. Eine Hochzeit, die weit über den Nordkaukasus hinaus für Schlagzeilen sorgte.
"Schieben Sie die Braut doch ein bisschen nach links. Guten Tag, liebe Hochzeitsgesellschaft!" Das russische Fernsehen zeigte die Braut im Standesamt. Sie wirkte wie in Trance, stand mit gesenktem Kopf da. Medienberichten zufolge war der Bräutigam bereits verheiratet. Auch das ist in Tschetschenien nichts Ungewöhnliches. Auf die Frage der Standesbeamtin reagierte das Mädchen zunächst gar nicht.
Eine Braut in weißem Kleid und mit langem Schleier wird von zwei Frauen zu ihrem Platz geführt. Links stehen Fotografen bereit, rechts sitzen Frauen an einem Tisch.
Hochzeitszeremonie in Tschetscheniens Hauptstadt Grosny© dpa/TASS/Valery Sharifulin
"Ich bitte Sie zu antworten. Laut und deutlich. Sie müssen "ja" sagen. Noch mal." Es folgten die Unterschriften. "Mit den Unterschriften ist Ihre Ehe geschlossen, ich erkläre Sie zu Mann und Frau." Anschließend lud Republikchef Kadyrow persönlich ganz Grosny zur Hochzeitsfeier ein und kam auch selbst zum Fest.

Flucht der Frau – Ehrverletzung des Mannes

Heda nippt an einem Becher Tee. Sie habe später erneut geheiratet, erzählt sie, auch der zweite Mann sei gewalttätig gewesen, habe aus heiterem Himmel auf sie eingeprügelt, die Kinder misshandelt.
Schließlich habe sie ihn mit den Kindern verlassen und damit die Ehre des Mannes verletzt:"Ich hatte dort Arbeit. Ich hätte gut allein für die Kinder sorgen können. Aber sie hätten mich nicht gelassen."
Immerhin stand Heda offenbar die eigene Familie bei. Ihr Vater habe ihr bei der Flucht geholfen.
"Daraufhin haben sie meinem Vater und meiner Mutter gedroht: Wenn ihr sie nicht zurückholt, bekommt ihr Probleme. Meinen Bruder haben sie verprügelt: Ihr seid Muslime, wie konntet ihr eure Schwester gehen lassen nach Europa. Zumal mit den Kindern."
Die Frauen fühlen sich auch in Polen nicht sicher. Sie haben Angst, dass ihre Männer Verwandte, die bereits in der EU leben und reisen dürfen, nach ihnen suchen lassen, dass diese Männer sie erneut misshandeln oder die Kinder entführen. Deshalb versuchen die Frauen, ihre Telefonnummern geheim zu halten. Trotzdem haben einige von ihnen Drohanrufe ihrer Männer bekommen.
"Ich spreche hier mit niemandem. Ich gehe nur in den Laden und zurück. Und selbst dann habe ich Angst, dass mir jemand auflauert."

Für die Tschetschenen sind sie "Nutten"

Das Erniedrigendste, erzählen sie, sei, dass sich die Verachtung ihnen gegenüber auch in der Diaspora in Europa fortsetze.
"Dieses Heim gilt unter Tschetschenen als Bordell. Hier leben ja nur alleinstehende Frauen. In der tschetschenischen Community nennt man uns alle Nutten."
Zu all dem kommen noch die Alltagssorgen der Frauen. Im Heim werden die Geflüchteten mit Lebensmitteln versorgt. Dazu bekommen sie ein geringes Taschengeld.
"Heute habe ich wieder versucht, eine Arbeit zu finden. Aber es hat wieder nicht geklappt. Sie haben gesagt, sie brauchen niemanden. In einer Kantine, als Küchenhilfe."
Immerhin dürfen Asylsuchende in Polen nach einem halben Jahr arbeiten.
In einem Flur liegen Kinderschuhe auf dem Boden.
Kinderschuhe im Wohnheimflur - und dazu die ständige Angst, dass ihr Vater sie holt.© Gesine Dornblüth
"Ich kann nicht schlafen, liege bis vier Uhr morgens wach, wie müde ich auch bin. Immer ist da der Gedanke, Arbeit finden zu müssen, denn das Geld reicht vorn und hinten nicht. Ich arbeite gelegentlich in verschiedenen Restaurants. Aber für Ausländer ist es hier sehr schwer. Du giltst hier als Mensch zweiter Klasse – vor allem als Frau. Ich komme müde von der Arbeit nach Hause, dann koche ich, dann setze ich mich hin, und dann kommen wieder die Sorgen um die Kinder. So vergeht der Tag."
Mit dem Wahlsieg der Nationalkonservativen 2015 habe sich das Klima gegenüber Ausländern in Polen stark verschlechtert, berichtet die Hilfsorganisation Ocalenie.
Aber auch im Wohnheim läuft das Leben nicht konfliktfrei. Viele Kinder sind traumatisiert, werden psychologisch betreut.

Traumatisierte Kinder und Schuldkomplexe der Frauen

"Ich schaffe es nicht, ihnen die Angst zu nehmen. Die Angst, dass ihr Vater kommt und sie holt und mich schlägt. Das haben sie so oft mit angesehen."
Die Psychologin kommt einmal in der Woche, ein paar Stunden für hundert Personen. Zu wenig, aber: "Wenn es die Psychologin hier nicht gäbe, hätte ich mich längst vor den Zug geworfen."
Zu all den Problemen kommen noch Schuldkomplexe, eingebläut von der patriarchalischen Gesellschaft in Tschetschenien.
"Wenn du eine Hose anziehst, auf die Straße gehst, überlegst, Fahrrad fahren zu lernen, hast du im Kopf den Gedanken: Das ist nicht richtig, du tust etwas Falsches. Denn es wird dir von Geburt an eingeimpft, du darfst nicht, du sollst nicht… Und ständig frage ich mich, ob ich etwas falsch mache. Sobald mich etwas freut, kommt der Gedanke: Das ist falsch, du sollst dich nicht freuen. So vergeht das Leben."

Wie existentiell ist die Bedrohung für die Frauen in Tschetschenien? Darüber und über die Frage, wie gut Polen auf diese traumatisierten Frauen und Kinder vorbereitet ist, spricht Margarete Wohlan mit der polnischen Psychologin Maria Książak. Sie betreut tschetschenische Opfer und hat selbst fünf Jahre in Tschetschenien gelebt.
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Maria Ksiazak und Margarete Wohlan posieren im Studio für ein Foto.
Die Psychologin Maria Ksiazak (r.) zu Gast bei Margarete Wohlan in der "Weltzeit"© Deutschlandradio
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