EU darf ihre Positionen nicht aufgeben
Die TTIP-Leaks haben offenbart, was schon lange klar ist: Das Problem ist weniger, dass Parmaschinken bald aus Idaho kommen könnte. Viel schwerer wiegen die kaum zu vereinbarenden Vorstellungen von sozialen und Arbeitnehmerrechten, meint Brüssel-Korrespondentin Annette Riedel.
Ein transatlantisches Freihandels- und Investitionsabkommen könnte eine großartige Sache sein. Es könnte hunderttausende Arbeitsplätze auf beiden Seiten des großen Teichs entstehen lassen, indem Handel unkomplizierter würde, unnötige Zölle fielen. Könnte. Würde. Weniger denn je deutet darauf hin, dass es so kommt. Eher kommt, zumindest auf absehbare Zeit, gar kein TTIP. Und das muss einen unter den gegebenen Umständen erleichtern, denn das TTIP, wie es derzeit realistisch erscheint, das kann man nicht wollen.
Die Enthüllungen von Greenpeace zu den Verhandlungspositionen beider Seiten in dieser Woche bringen all denjenigen, die sich mit dem Thema schon mal intensiver beschäftigen mussten oder wollten, kaum spektakulär Erhellendes. Die Wünsche und Vorstellungen, die die Europäer in den Verhandlungen auf den Tisch gelegt haben, sind ohnehin seit geraumer Zeit auf den Internet-Seiten der EU-Kommission nachzulesen: vom Verbraucher- und Umweltschutz über Arbeitnehmerrechte bis zur Daseinsvorsorge und dem Investorenschutz.
Was die Amerikaner wollen, ist seit langem klar
Was die geleakten Dokumente auf 240 Seiten über Details der US-Positionen enthüllen, konnten zwar bis dato tatsächlich nur einige wenige ausgewählte Parlamentarier in geschlossenen Leseräumen lesen. Aber was die Amerikaner wollen, was sie nicht wollen, war auch schon vor der Veröffentlichung der TTIP-Papiere im Kern bekannt: Dass sie bisher extrem wenig Entgegenkommen zeigen, dieses aber umgekehrt umso mehr verlangen; dass sie verschiedene Verhandlungs-Kapitel ultimativ miteinander verknüpfen, um ihren Interessen Nachdruck zu verleihen – all das ist nur in einigen Einzelheiten wirklich neu. Die Enthüllungen lassen sich keinesfalls mit jenen der "Panama-Papiere" zu Steuervermeidungs-Praktiken vergleichen.
Die Aufregung um die von Greenpeace geleakten Papiere bringt den Umweltschützern gute Werbung. Aber sie zeigt darüber hinaus eines: Das Wissen in der Öffentlichkeit über das, was da verhandelt wird, steht im krassen Missverhältnis zu der Bedeutung, die ein Freihandelsabkommen für insgesamt über 800 Millionen Menschen diesseits und jenseits des Atlantiks hätte. Wer die Bürger bei einem so elementar wichtigen Vorhaben nicht mitnimmt, bringt sie dagegen auf. Geheimniskrämerei und mangelnde Kompromissbereitschaft der Amerikaner haben die Skepsis über die mittlerweile drei Jahre dauernden Verhandlungen befeuert und manch einen TTIP-Befürworter zum Gegner mutieren lassen.
Parmaschinken aus Idaho
Ungemach blüht bei einem schlagseitigen Freihandelsabkommen, bei dem die EU ihre Roten Linien um des Zustandekommens willen aufgäbe, in der Tat. Weniger durch die vielfach beschworene Invasion des europäischen Marktes durch Myriaden von Chlorhühnchen und die erschütternde Aussicht, dass Parma-Schinken künftig in Idaho entstehen darf und Champagner in Kalifornien. Beunruhigend ist vielmehr die sehr unterschiedliche Kultur der Risikobereitschaft hüben und drüben; die abweichenden Vorstellungen von sozialen und Arbeitnehmerrechten; das auseinander liegende Staatsverständnis, was sich in den Verhandlungspositionen manifestiert.
Die TTIP-Leaks spiegeln eine Momentaufnahme wider. Verhandlungspositionen sind keine Verhandlungsergebnisse. Natürlich pokert jede Seite. Neu ist aber, dass die mehr oder weniger geneigte europäische Öffentlichkeit nun beide "Blätter" kennt. Und auch das, was noch im Stapel liegt.
Wird die Verhandlungspostion Brüssels gestärkt?
Vielleicht stärkt es ja die Verhandlungsmacht Brüssels gegenüber Washington, dass die Positionen jetzt offenliegen. Vorausgesetzt, die Absetzbewegung von TTIP in vielen europäischen Hauptstädten angesichts der ablehnenden öffentlichen Meinung setzt sich nicht – dem Beispiel des französischen Präsidenten folgend – fort.
Damit TTIP noch eine Chance hat, gegen eine zunehmend kritische Stimmung in Regierungen, Parlamenten und auf der Straße zu bestehen, muss dreierlei passieren. Zu allererst: Die EU darf ihre Roten Linien nicht aufgeben, wenn es um den Schutz von Verbrauchern, Umwelt und des Rechts der Gesetzgeber geht, Gesetze zu erlassen, selbst wenn sie nicht jedem Investor schmecken. Und dann müssen, zweitens und drittens, die Vorteile eines gelungenen Abkommens verständlicher erklärt werden.