Wahlkampf in der Türkei
Motivierter Friedensengel oder berechnender Machtpolitiker? Ministerpräsident Erdogan hat nach Meinung vieler Beobachter im Ukraine-Krieg bisher eine durchaus positive Rolle gespielt. © imago images / Christian Mang
Erdogans außenpolitische Ablenkungsmanöver
22:12 Minuten
Im Juni 2023 finden in der Türkei Präsidentschaftswahlen statt. Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan will wiedergewählt werden, steht aber innenpolitisch unter Druck. Also lenkt der erfahrene Taktiker den Blick auf das Ausland. Geht diese Strategie auf?
Obwohl erst Mitte kommenden Jahres in der Türkei gewählt wird, befindet sich das Land - laut unserer Korrespondentin Karin Senz - schon im Wahlkampf.
Inflation von über 80 Prozent
Präsident Erdogan, der wieder antritt, sieht sich in seinem eigenen Land einer Hyperinflation von offiziell über 80 Prozent ausgesetzt.
Dazu kommen soziale Spannungen, weil rund 3,6 Millionen Syrerinnen und Syrer in die in die Türkei geflüchtet sind und den Konkurrenzkampf auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt verschärfen.
In die Suppenküchen für Bedürftige in Istanbul kommen mittlerweile auch Menschen aus der Mittelschicht, hat Karin Senz beobachtet. Diese gehörten teilweise auch zu Erdogans klassischem Stammwählerklientel. Nun stellt sich die Frage, wie er sie und ihre Wahlstimmen wieder für sich gewinnen kann?
Schon seit Längerem bewerten Beobachter verstärkte außenpolitische Aktivitäten des türkischen Präsidenten gerade vor Wahlen auch als Reaktion auf und Ablenkung von Problemen im Inland. Baustellen im Ausland gibt es dabei für die Türkei genug.
Auf die Entwicklung im Ukraine-Krieg habe Erdogan allerdings reagieren müssen, sagt unsere Korrespondentin, da vor dem Krieg sowohl die Ukraine als auch Russland zu den Partnern der Türkei zählten – und das nicht nur in der Frage von Waffenlieferungen.
Man habe sich in Istanbul schon die Augen gerieben, sagt Karin Senz, welche Staatschefs sich im März – im Rahmen der von Erdogan initiierten Vermittlerrolle – die Klinke in die Hand gaben: aus Israel, Griechenland, den Niederlanden, Deutschland und anderswo. Das seien nicht nur mit der Türkei befreundete Staaten gewesen, kommentiert sie.
Starker russischer Einfluss auf die Türkei
Der Getreidedeal, der im Sommer in Istanbul zwischen der Ukraine und Russland unterzeichnet wurde, sei ebenfalls ein Reputationsgewinn für die Türkei und ihren Präsidenten.
Er berge für Erdogan aber auch ein großes Risiko, so Karin Senz: Falls beispielsweise Russlands Präsident Putin ihn platzen lasse, weil – so sein Vorwurf – der Weizen angeblich nicht bei den armen Ländern ankomme. Dies würde einen erheblichen Rückschlag für den türkischen Staatschef bedeuten. Das Abkommen läuft Ende Oktober aus, soll aber verlängert werden.
Die weitere Lieferung von billigem russischen Gas an die Türkei hält Karin Senz für essenziell, damit Erdogan auch in der heißen Wahlkampfphase im nächsten Jahr bestehen kann. Das sei prinzipiell wohl auch realistisch, da die Türkei sich als einziges NATO-Land nicht an den Sanktionen gegen Russland beteiligt.
Die daraus resultierende Abhängigkeit von Wladimir Putin werde durch den Bau des ersten türkischen Atomkraftwerks im Süden des Landes verstärkt, über das die Russen – entgegen ursprünglicher Pläne – aktuell die alleinige Kontrolle haben.
Eine Dauerbaustelle für die Türkei sind die Streitereien mit dem benachbarten Griechenland. Dass die beiden NATO-Partner immer wieder in Konflikt geraten, obwohl sich die Bevölkerung beider Länder durchaus gewogen ist, löst bei unserer Korrespondentin Unverständnis aus.
Aktuell eskaliert der Streit um den Status der Inseln in der Ägäis. Während es beim Besuch des griechischen Premiers Mitsotakis in Istanbul im März noch nach einer Versöhnung aussah, habe sich die Auseinandersetzung im nordöstlichen Mittelmeer seit dem Sommer wieder verschärft.
Dabei gehe es um die Militarisierung der Inseln, die Griechenland betreibe, und die die Türkei ablehnt, erklärt sie.
Solidarität mit den Menschen im Iran
Welche Auswirkungen hat die Situation im Iran, dem großen Nachbarn der Türkei im Osten? Von der türkischen Regierung gebe es noch keine Aussage zu den aktuellen Ereignissen und Protesten dort, sagt Karin Senz. Umso mehr gebe es aber Reaktionen von Menschen im Land.
Immer wieder komme es zu Demonstrationen von Iranerinnen und Iranern, die in der Türkei leben, aber auch von türkischen Frauenorganisationen. Es gehe um das Kopftuch und die Unterdrückung der Frau – und das vor dem Hintergrund, dass die Türkei vor gut einem Jahr aus der Istanbuler Konvention zum Schutz von Frauenrechten ausgestiegen ist.
Man schaue sich sehr genau an, was im Nachbarland passiert, und zeige auch aus dieser eigenen Betroffenheit heraus eine große Anteilnahme und Solidarität.
Reicht es für Erdogans Wiederwahl?
Hat die Strategie der Ablenkung von den innenpolitischen Problemen durch eine Betonung der Außenpolitik Erfolg? Bildet sie schon jetzt das Fundament für einen erneuten Erfolg Erdogans bei der Präsidentschaftswahl 2023?
Laut Umfragen reicht es im Moment noch nicht für einen Sieg des Amtsinhabers, berichtet Karin Senz. Aber der türkische Präsident sei vor Wahlen schon oft „aus dem Amt geschrieben“ worden. Viel hänge davon ab, ob er das Problem der Inflation in seinem eigenen Land bald in den Griff bekommen kann, so unsere Korrespondentin in Istanbul.
(ik)