Zafer Şenocak, 1961 in Ankara geboren, seit 1970 in Deutschland, wuchs in Istanbul und München auf, studierte Germanistik, Politik und Philosophie in München. Er lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Seit 1979 veröffentlicht er Gedichte, Essays und Prosa in deutscher Sprache und schreibt regelmäßig für Tageszeitungen. 1998 erhielt er den Adalbert-von-Chamisso-Förderpreis. Die mehrsprachige Zeitschrift Sirene wurde bis 2000 von ihm mitherausgegeben. Veröffentlichungen u.a.: "Gefährliche Verwandtschaft. Roman" (1998), "Der Erotomane. Ein Findelbuch" (1999), "Atlas des tropischen Deutschland. Essays" (1992/1993), "War Hitler Araber? Irreführungen an den Rand Europas. Essays" (1994), "Zungenentfernung. Bericht aus der Quarantänestation" (2001), "Das Land hinter den Buchstaben. Deutschland und der Islam im Umbruch" (2006), "Deutschsein - Eine Aufklärungsschrift" (Edition Körber-Stiftung, 2011), "In deinen Worten, Mutmaßungen über den Glauben meines Vaters" (2015).
Heimat ist kein Schicksal
In der Türkei werden Richter entlassen, Schriftsteller drangsaliert und selbst Parlamentarier verhaftet. Der Autor Zafer Şenocak blickt auf ähnlich schlimme Zeiten zurück. Er ist froh, die Türkei früh verlassen zu haben, und warnt davor, sich dem Schicksal eines Geburtslandes zu ergeben.
Wenn ich, 1961 geboren, die Türkei im Alter von acht Jahren nicht verlassen hätte, wären zumindest 25 Jahre meines Lebens verlorene Jahre gewesen. Die Türkei hätte mein Schicksal werden können. Wie misst man die verlorenen Jahre eines Lebens? Und die eines Landes? Ich will es Ihnen vorrechnen.
1974 besetzten türkische Truppen Nordzypern, es folgten sechs Jahre mit einer schweren Wirtschaftskrise sowie politischen Unruhen, die an einen Bürgerkrieg erinnerten. 1980 putschte das Militär. In den folgenden drei Jahren verschwanden Tausende Menschen in Gefängnissen, sie wurden gefoltert. Andere mussten das Land verlassen. Ich wäre 1980 19 Jahre alt gewesen. Ein durchaus ungünstiges Alter. Viele der Verhafteten nach dem Putsch waren kaum 20.
Mehr als 30.000 Tote im Konflikt mit den Kurden
Danach, 1991 bis 2002, wurde der Konflikt mit den aufständischen Kurden immer mehr zum Krieg, dem mehr als 30.000 Menschen zum Opfer fielen. Ihren Höhepunkt erreichte diese finstere Zeit mit dem Zusammenbruch der türkischen Wirtschaft. Durch den dramatischen Werteverfall der türkischen Lira verelendeten weite Teile des Landes.
Nun wird die Türkei seit 2013 wieder schwer belastet, von einer tiefen Vertrauenskrise zwischen den politischen Strömungen, zwischen den Institutionen, zwischen Regierenden und dem Volk. Der Ruf nach einem starken Mann richtet sich auf eine einzige Person, auf den Staatspräsidenten Tayyip Erdoğan, eine Figur, die höchst umstritten ist.
25 verlorene Jahre
So lassen sich für mich persönlich mindestens 25 verlorene Jahre zusammenzählen. Das macht fast die Hälfte meines bisherigen Lebens aus.
Doch wem präsentiert man eine solche Rechnung über verlorene Jahre? Den Eltern, die ihr Kind in einem solchen Land auf die Welt gebracht haben? Oder doch eher den politisch Verantwortlichen, die viel zu oft so tun, als hätten sie mit dem Geschehen kaum etwas zu tun? Denn Rücktritte sind in diesen Ländern der verlorenen Jahre selten. Häufiger kommen blutige Umstürze vor. Selten verbessern sie die Lage der Menschen. In den meisten Fällen wird die Rechnung dem Schicksal vorgelegt und bleibt somit folgenlos.
Verlorene Jahre sind wie ein schlechtes Los, das man gezogen hat. So gesehen war die Auswanderung von der Türkei nach Deutschland ein Glückslos. Wenig wird heute darüber reflektiert, welches Verderben vielen Auswanderern erspart geblieben ist, durch die Entscheidung aus diesem von Krisen geschüttelten Land wegzugehen. Es ist an der Zeit daran zu erinnern. Ohne Scham und Zurückhaltung. So kann auch dem Herkunftsland ein Spiegel vorgehalten werden.
Das Leben kann sich ändern
Der Blick in diesen Spiegel mag schwerfallen. Aber er könnte auch ein Korrektiv für die Schicksalsgläubigkeit sein. Das Leben kann sich ändern, wenn man sich diesem Leben stellt. Jahre müssen nicht verloren gehen, wenn der Wert der Zeit einmal erkannt ist.
Ich bin dankbar dafür, dass mein Leben keine verlorenen Jahre aufweist. Denn das Leben ist einmalig schön. Ja, es könnte überall besser sein. Auch in meinem Herkunftsland Türkei. Dazu müssten Menschen, die das Leben verachten, weniger Entscheidungen fällen dürfen. Sie müssten Rechenschaft ablegen über die verlorenen Jahre, die sie produzieren. Solange eine solche Reform der Herrschaftsverhältnisse ausbleibt sind Menschen mit ihrem Schicksal allein. Dann bleibt ihnen nur die Möglichkeit die Heimat zu verlassen. Denn Heimat ist kein Schicksal.