Unter Zwangsverwaltung in Diyarbakir
Bei der Parlamentswahl 2015 erhielt die AKP 49,5 Prozent der Stimmen. Nun müssen es bei der Volksabstimmung am 16. April noch etwas mehr sein, damit Erdogans Partei das Präsidialsystem einführen kann. Im Südosten nutzt sie den Ausnahmezustand, um hart gegen Kritiker vorzugehen.
Die ganz normale Rush Hour in Diyarbakir, der Millionenstadt im Südosten der Türkei. An der Haltestelle im Stadtteil Ofis fahren die grünen, städtischen Busse in alle Himmelsrichtungen. Auf den ersten Blick wirkt die Szene wie der ganz normale Berufsverkehr einer Großstadt. Nur das hier auch ständig Panzerfahrzeuge und Wasserwerfer auf den Straßen Diyarbakirs unterwegs sind. Spätestens hier bekommt die scheinbare Normalität Risse. Die Stadt wird zwangsverwaltet. Diese Nachricht dominierte Anfang November vergangenen Jahres die Schlagzeilen in der Türkei.
Mitarbeiter werden entlassen und durch AKP-Mitglieder ersetzt
Mit dem türkischen Wort "kayyum" bezeichnet die Regierung die Übernahme der Stadtverwaltungen im gesamten Südosten der Türkei, wo mehrheitlich Kurden leben. Seit fünf Monaten geschieht das auch in Diyarbakır. Jetzt entscheidet Präsident Erdoğans Regierungspartei AKP hier. Bis dahin waren es die gewählten Abgeordneten der linksliberalen HDP. Ihre Mitarbeiter in der Stadtverwaltung werden seit drei Monaten entlassen. Einige, aber nicht alle Stellen werden neu besetzt. Dann aber mit regierungsnahen AKP-Mitgliedern. Eine der wenigen, die ihren Arbeitsplatz noch nicht aufgeben musste, ist Dilxwaz Yilmaz. Sie wirkt ein wenig erschöpft. Ihren richtigen Namen möchte sie nicht nennen, weil auch sie Angst hat, dass sie plötzlich entlassen wird.
"In dieser Abteilung muss man uns normalerweise einen Monat vorher oder zumindest 15 Tage vorher Bescheid sagen, dass der Vertrag nicht verlängert wird. Aber das ist jetzt bei vielen an einem einzigen Tag passiert, man wird angerufen und es heißt: Sie werden entlassen. Es wird kein Grund genannt. Jetzt, während des Ausnahmezustands, ist es auch nicht so einfach, rechtlich dagegen vorzugehen und ein Verfahren einzuleiten. Eigentlich gibt es auf der rechtlichen Ebene gar keine Möglichkeit dagegen vorzugehen."
Wie die Zwangsverwalter genau agieren, erfolgt für die Stadtangestellte nicht nach einem nachvollziehbarem System. Aber die Konsequenzen sind sichtbar: Das Büro von Dilxwaz Yilmaz ist nur sehr rudimentär eingerichtet. Zwei leere schwarze Schreibtische aus Holz, dahinter jeweils ein schwarzer Bürostuhl, kahle weiße Wände. Wohl fühlt sie sich hier nicht.
"Es ist komplett anders, angefangen von der Motivation, zur Arbeit zu kommen, dass viele nicht mit den zugewiesenen Vorgesetzten zusammenarbeiten wollen. Und ich weiß nicht, ob du das gesehen hast, aber es ist nicht normal bevor man zur Arbeit geht, am Eingang erst einmal durchsucht zu werden, oder? Du musst zwei Durchsuchungen über dich ergehen lassen, fühlst dich nicht wohl, in deiner Arbeitsumgebung. Wenn das in irgendeiner Weise richtig wäre, dann müsste man diesen Ort nicht so sehr überwachen."
Absperrgitter, Wasserwerfer, Leibesvisitation, Taschenkontrolle. Wer das Gebäude der Stadtverwaltung in Diyarbakır betreten möchte, muss mit diesen neuen Maßnahmen rechnen. Die Folgen der Zwangsverwaltung bekommen aber nicht nur Mitarbeiter der Stadtverwaltung zu spüren. Auch Ladenbesitzer sind beeinträchtigt.
Strafen für Ladenbesitzer
"Seit der Zwangsverwaltung bekommen viele Läden Strafzahlungen verordnet oder werden gleich enteignet. Der Grund dafür wird nicht genannt, manchmal reicht es auch schon aus, dass dort ein Schild auf Kurdisch hängt. Das wird alles offiziell natürlich nicht genannt."
Kurdisch ist eigentlich die Alltagssprache der Menschen im Südosten der Türkei. Zumindest für diejenigen, die sich der Assimilationspolitik der AKP-Regierung nicht gebeugt haben. Der Leitspruch dieser Politik "Ein Volk, eine Fahne, ein Land" heißt auch: Eine Sprache. Dementsprechend sieht die Zentralregierung in Ankara es nicht gern, wenn Kurdisch, Aramäisch oder eine andere Minderheitensprache gesprochen und geschrieben wird. Wie sich das jetzt auswirkt, lässt sich im belebten Stadtteil Ofis miterleben.
"Wir müssen irgendwie miteinander klarkommen, damit meine ich, wir müssen einander verstehen", sagt ein eher kleiner, schmaler Mann, der sich später als Cafébesitzer herausstellen wird. Die Worte sind an zwei Männer mittleren Alters gerichtet, die in Zivil gekleidet sind. In der Hand ein schwarzes Klemmbrett, mit einem weißen DIN A-4 Blatt. Viel steht dort nicht drauf, nur eine zweispaltige Tabelle, die bis auf den Namen des Cafés leer ist. Die beiden Beamten sehen sich in den Räumlichkeiten um. An der Wand hängt ein Bücherregal und Texte der kurdischen Dichter Cegerxwin und Melayê Cizîrî. Die kurdischen Gedichte seien nicht verboten, sagen die Beamten. Was sie stört, ist ein Bild, das hinter der Kasse an der Wand hängt: Eine schwarz verhüllte Frau, nur das Gesicht bleibt frei. Sie ist aus Manbij , einer Stadt in Nordsyrien, die im August vergangenen Jahres von Daesh, dem selbst ernannten islamischen Staat befreit wurde. Mit der einen Hand formt sie das Victory-Zeichen, in der anderen hält sie eine Zigarette, an der sie zieht. Das Bild stifte zum rauchen an, monieren die Beamten. Einen Tag später bekommt der Besitzer des Cafés schriftlich mitgeteilt, dass er 5.000 türkische Lira - das sind ungefähr 1.200 Euro- Strafe zahlen muss.
"Ein Café, das nur 15, 20 Tage alt ist, aber trotzdem kamen schon zwei, drei Mal Beamte von der neuen Stadtverwaltung zur Kontrolle: Was macht ihr hier? Sie haben Ausreden gesucht: Raucht ihr hier oder raucht ihr hier nicht? Sie haben sich über das Bild mit der rauchenden Frau beschwert, eine Ausrede erfunden, dass das Bild verboten sei und eine Strafzahlung angedroht und gemeint: Wenn ihr unsere Freunde "beglückt", dann wird nichts passieren. Sie haben Schmiergeld gefordert, das kann ich hier ganz offen sagen. Warum soll ich die denn glücklich machen?"
Yunus Demir, der eigentlich anders heißt, hat bis vor kurzem auch für die Stadtverwaltung in Diyarbakir gearbeitet. Als die Zwangsverwaltung vor einigen Monaten begann, ahnte er, dass es bald auch ihn treffen könnte, erzählt er. Und so kam es. Einen Tag nach Neujahr wurde er grund- und fristlos entlassen. Da er damit gerechnet hat, nahm er bereits im Vorhinein einen Kredit auf, suchte passende Räumlichkeiten und eröffnete ein Café.
"Im staatlichen Sektor können wir nicht arbeiten, das ist unmöglich, die würden mich nicht nehmen. Außerdem haben die jetzt etwas Neues eingeführt, eine Art Befragung, also egal wo du dich bewirbst, wirst du erst einmal vorgeladen und auf deine Gesinnung hin überprüft. Wenn es deren Gesinnung entspricht, dann kannst du dort arbeiten."
Er ist zwar kein HDP-Mitglied, unterstützt aber die kurdische Bewegung. Dafür muss man auch nicht erst seine Profile in den Sozialen Netzwerken sichten, ein Blick in das Café reicht. Dort hängt an der Wand ein schwarzes Halstuch mit Bommeln in grün, rot, gelb - den kurdischen Nationalfarben. Das sein jetziger Arbeitsplatz im Café erhalten bleibt, glaubt er, vor allem nach den Besuchen der Beamten nicht.
"Ich glaube, sie werden es uns nicht erlauben, dass wir hier arbeiten, nach ein bis zwei Monaten werden sie diesen Ort schließen."
Monatelang von Regierungstruppen beschossen
Die türkische Regierung unter Präsident Erdoğan hat schon vor der Übernahme der Stadtverwaltung das Leben in der südöstlichen Millionenstadt merklich verändert. Vor allem in der Innenstadt gleicht sie mehr und mehr einer bewachten Betonwüste: Große graue Betonwände werden vor Polizeistationen aufgebaut, dahinter zusätzlich Kameras und Maschendrahtzäune. Viele Straßen sind teilweise oder ganz abgesperrt. Weite Teile des Stadtteils Sûr sind nicht zugänglich. Das ist das Ergebnis eines innerstädtischen Häuserkampfes, der im März des vergangenen Jahres ein Ende fand.
Das Altstadtviertel Sûr, das zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört, stand monatelang unter Beschuss von Regierungstruppen. Sie vermuteten Anhänger der verbotenen Arbeiterpartei PKK in dem Stadtteil. Die PKK kämpft seit dem Jahr 2000 für einen "Demokratischen Konföderalismus", also einer Selbstverwaltung der Kurden in der Türkei und verübt auch immer wieder Anschläge. Genaue Angaben, wie viele Menschen bei den Kämpfen ums Leben kamen, gibt es nicht, Schätzungen gehen von mehreren hundert Toten aus, darunter nicht nur Soldaten und Militante, sondern auch Zivilisten. 30.000 Anwohner mussten fliehen, heißt es von Menschenrechtsorganisationen. Viele verloren ihr ganzes Hab und Gut, weil ihre Häuser entweder zerstört oder ganz abgerissen wurden während oder nach der Belagerung.
Mahmut Şahin ist in dem Viertel aufgewachsen und zeigt mir den begehbaren Teil von Sûr. Der Boden ist nicht gepflastert und vom Regen aufgeweicht.
"Das waren dort alles Häuser, da gegenüber, die wurden alle abgerissen, siehst du das da gegenüber?"
"Da hinten sind die Einschusslöcher."
Die Häuserfassaden gleichen denen aus den zerstörten Städten Syriens. Einige der Bewohner haben versucht, mit grauen Fugen die Einschusslöcher zu stopfen, erklärt Mahmut Şahin. Je länger wir auf die mit Einschusslöchern übersäten Fassaden blicken, desto wortkarger wird er.
"Stell dir vor, das sind die Orte, an denen du aufgewachsen bist, du kommst 20 Jahre später hierher und alles ist dem Erdboden gleich. Es geht ja nicht um ein Gebäude, so dass man sagen kann, ein Gebäude wird schon mal abgerissen, das versteht man. Es waren keine Villen, aber es waren damals die beliebtesten Häuser, sie hatten auch eine gewisse Ästhetik."
Die meisten der Bewohner Sûrs waren finanziell nicht sonderlich gut aufgestellt. Einige sind in den Bezirk Bağlar gezogen, andere sind wiederum in die Großstädte der Westtürkei, also nach Istanbul oder Ankara ausgewandert. Die bewaffneten Auseinandersetzungen haben aber nicht nur bei den Bewohnern Sûrs Spuren hinterlassen. Sie waren in der ganzen Stadt zu hören.
"Über vier Monate lang, jeden Tag der Lärm der Kämpfe, wir sind psychisch am Ende. Stell dir das mal vor: Boom, ratatatatatata! 24 Stunden ohne Pause. Tu dein Handy in deine Jackentasche, wir gehen gleich an einem Polizeihäuschen vorbei."
Höhere Arbeitslosigkeit durch die Zwangsverwaltung
Journalisten sind im Ausnahmezustand nicht gern gesehen in der Türkei. Schon gar nicht wenn sie aus dem Ausland kommen. Sie gelten als Spione aus dem Westen, die nur dazu da sind, die türkische Realität im Ausland zu verfälschen und die AKP-Regierung zu kritisieren. Das muss jetzt auch Deniz Yücel leidlich erfahren. Der Türkei-Korrespondent der deutschen Zeitung "Die Welt" hatte über den Energieminister und Erdogan-Schwiegersohn Berat Albayrak berichtet und sitzt nun im Gefängnis - wie insgesamt rund 150 Journalisten in der Türkei. Dazu wurden rund 180 Medienanstalten, darunter kurdische Fernsehsender und Zeitungen, verboten. Aber auch auf der anderen Seite des Mikrofons wird es schwieriger. Aus Angst denunziert zu werden, trauen sich viele nicht zu sprechen. Rojda Akyüz, eine Studentin aus Diyarbakir, erklärt sich dennoch bereit mit mir zu reden, unter der Bedingung, dass auch sie nicht mit ihrem bürgerlichen Namen genannt wird. Sie ist groß, trägt lange schwarze Haare und spricht sehr bestimmt.
"Mit der Zwangsverwaltung kam vor allem eine Veränderung: Die Menschen verlieren ihren Arbeitsplatz. Ich denke, das hat etwas mit der Ideologie zutun. Es ist in dieser Stadt ziemlich klar, wer wofür steht, das ist auch der Grund, weshalb Menschen gefeuert wurden. Bist du Kurde, bist du Türke? Woher kommst du? Gehörst du zur AKP? Dementsprechend lebst du dein Leben oder halt nicht."
Gegen dieses klare Freund-Feind-Schema in Diyarbakir lehnt sich derzeit kaum einer auf. In einer Stadt in der überall Panzerfahrzeuge, Wasserwerfer und Polizisten bereit stehen, traut sich kaum einer mehr zu protestieren. Fremde werden kritisch beäugt, über politische Themen spricht man nur im Bekanntenkreis. Die Angst davor, denunziert zu werden, entweder als PKK-Terrorist oder Anhänger der Gülen-Bewegung ist groß. Das sind die beiden Feindeslager – die Präsident Erdogan benennt, um die Zwangsverwaltung und den Ausnahmezustand in der Türkei zu begründen. Seit acht Monaten – seit dem Putschversuch - hält diese Situation nun schon an.
Die Folge: Viele Bürger hier im Südosten der Türkei sind eingeschüchtert, die Arbeitslosigkeit ist gestiegen, durch das Schließen von Medien, Nichtregierungsorganisationen und auch einfachen Kulturvereinen, sagt Rojda Akyüz, eine Anwohnerin, der die Veränderungen in ihrer Stadt Sorge bereiten. Wir sprechen in einem Café, in dem sie sich häufig aufhält und sich zumindest halbwegs sicher fühlt.
"Man konnte früher auf den Straßen die Stimmen der Dengbêjs, der traditionellen Volksliedsänger hören. Viele Vereine wurden geschlossen, zum Beispiel das Kulturzentrum Dicle Firat, immer wenn man dort Tee trinken war, konnte man Musik und die Dengbêjs hören, all das hört man jetzt nicht mehr. Es liegt eine Stille über der Stadt. Das ist meiner Meinung nach die größte Auswirkung."
Angst und wenig Hoffnung
Dem pflichtet auch Zîne Kaya bei, die neben der jungen Frau sitzt. Auch sie achtet sehr genau darauf, was sie sagt. Nicht mal in den sozialen Netzwerken traue sie sich offen zu kommunizieren.
"Ich sage dir mal etwas aus meiner persönlichen Sicht: Ich halte jeden für verdächtig."
Sie trägt ein kariertes Hemd, die braunen Locken hat sie zu einem Zopf zusammen gebunden. Die Landschaftsarchitektin gestikuliert hastig beim Sprechen:
"Ich habe Angst. Davor meinen Arbeitsplatz zu verlieren oder dass ich verschwinde. Davor habe ich am meisten Angst, denn es wurden viele unserer Fernsehkanäle und Zeitungen geschlossen. Viele Akademiker wurden gefeuert: Keiner traut sich mehr irgendwas zu sagen. Es gibt eine Riesenangst, eine riesige Panik unter den Menschen."
Trotzdem oder besser gesagt, weil den Bewohnern sonst auch nichts anderes übrig bleibt, weicht die bedrückende Stimmung in Diyarbakir immer wieder. Da tauscht der Kellner des Cafés auch schon mal das Tablett gegen die Def, eine Rahmentrommel, ein und unterhält die Gäste. Ein hoffnungsvolles Zeichen in Zeiten, in denen fast täglich HDP-Politiker festgenommen werden und weitere Städte und Bezirke von der Zwangsverwaltung übernommen werden, scherzt Zîne Kaya.
"Die Hoffnung ist für uns der erste und der letzte Bissen."