Klima der Angst an den Universitäten
Der Umbau des Staates in der Türkei hat bereits tausende Richter, Professoren und Lehrer ihren Job gekostet. Das hat auch im Bildungssystem riesige Lücken gerissen, sagt der Leiter der Böll-Stiftung in Istanbul, Kristian Brakel.
Nach dem gescheiterten Militärputsch in der Türkei hatte die türkische Regierung sofort mehrere Universitäten der Gülen-Bewegung geschlossen, sagte der Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, Kristian Brakel, im Deutschlandradio Kultur. Die Studierenden seien dann landesweit verteilt worden und man habe andere Hochschulen dazu verpflichtet, die Studenten aufzunehmen. "Da ist es dann so, dass Dozenten auf einmal mit der doppelten Zahl von Studierenden in ihren Kursen klarkommen müssen, mit Leuten, die vorher ein völlig anderes Curriculum gehabt haben", sagte Brakel. "Das ist auf jeden Fall eine Herausforderung."
Gülen-Nachhilfeschulen geschlossen
Aus den Schulen habe er weniger gehört, sagte der Böll-Vertreter. Betroffen seien allerdings die Nachhilfeschulen der Gülen-Bewegung, bei denen Jugendliche nach der Schule gepaukt hätten, um den Aufnahmetest für die Universität zu bestehen. "Da war die Gülen-Bewegung sehr, sehr gut im Geschäft", sagte Brakel. Die Paukschulen seien als Rekrutierungsmöglichkeit und als Finanzierungsbasis der Bewegung wichtig gewesen. "Die wurden dann ab 2013 nach und nach dichtgemacht."
Der Druck nimmt zu
An vielen Hochschulen herrsche heute ein Klima der Angst. Auch der Druck auf die privaten Universitäten nehme zu. Unter den Entlassungen der jüngsten Zeiten seien viele prominente Namen aus der Spitze der linken Intelligenzija in der Türkei. Sie hätten ihre Jobs ohne jede juristische Grundlage verloren und hätten keine Möglichkeit, sie wieder einzuklagen. Häufig seien auch die Pässe entzogen worden, sodass sogar der Ausweg ins Ausland versperrt sei.
Das Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Nichts mit österlicher Ruhe in der Türkei – das wird ein regelrechter Wahlkrimi, bis feststeht, wie denn das Referendum ausgegangen ist. Präsident Erdogan kann sich nach wie vor nicht sicher sein, ob der von ihm propagierte Umbau des Staates die Zustimmung der Menschen findet. Die Umfragen sagen maximal einen minimalen Vorsprung für Erdogan voraus. Dabei sind die Voraussetzungen bereits geschaffen worden: Seit dem Putschversuch im vergangenen Sommer wurden zehntausende Richter, Polizisten, Professoren und Lehrer suspendiert oder entlassen mit massiven Auswirkungen auf das gesamte Bildungssystem. Darüber möchte ich jetzt mit Kristian Brakel sprechen, der das Büro der Böll-Stiftung in Istanbul leitet. Guten Morgen, Herr Brakel!
Kristian Brakel: Guten Morgen!
Welty: Was haben Sie beobachtet nach den verschiedenen Entlassungswellen der vergangenen Monate, wie beschreiben Sie den Zustand des türkischen Bildungssystems derzeit?
Brakel: Also allgemein, die ganzen Entlassungswellen haben natürlich riesige Lücken in den Staat gerissen, und wir merken das ganz stark jetzt gar nicht mal nur im Bildungssystem, sondern einfach in allen Funktionen, wo wir irgendwie mit dem Staat zu tun haben. Das trifft Leute, mit denen man vorher gearbeitet hat, dass die einfach nicht mehr da sind oder aber, dass diejenigen, die noch da sind, also wenn man versucht, mit denen in Kontakt zu treten, zum Beispiel einfach nur die zu einer Konferenz einzuladen, dass die ganz große Angst haben, sich irgendwie zu exponieren, weil auch die nicht wissen, ob das, was vielleicht heute noch okay ist, also zum Beispiel auf so eine Konferenz zu kommen, dann morgen schon etwas sein könnte, aus dem einen ein Strick gedreht wird.
Welty: Ist denn dann auf der anderen Seite sowas wie geregelter Unterricht überhaupt noch möglich, wenn Sie sagen, es fehlen so viele Menschen?
Brakel: Also das Interessante ist, dass ich bisher relativ wenig aus Schulen oder so gehört habe, wo jetzt gesagt wird, dass die Schüler keinen Unterricht bekommen. In den Universitäten ist es ein bisschen was anderes. Also es gibt ja mehrere dieser Universitäten der Gülen-Bewegung, die komplett geschlossen wurden und wo man dann die anderen Studierenden, die halt da noch eingeschrieben waren, auf andere Universitäten verteilt hat, also die sowohl private als auch staatliche Universitäten verpflichtet hat, die aufzunehmen, und da ist es dann so, dass Dozenten auf einmal mit der doppelten Zahl von Studierenden in ihren Kursen klarkommen müssen, mit Leuten, die vorher ein völlig anderes Curriculum gehabt haben. Das ist, glaube ich, auf jeden Fall eine Herausforderung, aber das geht wohl irgendwie so mit Biegen und Brechen.
Bildung als Weg nach oben
Welty: Die Gülen-Bewegung, die Sie angesprochen haben, wird ja von Präsident Erdogan und seiner Partei, der AKP, verantwortlich gemacht für den Putschversuch. Welche Rolle hat sie im Bildungssystem gespielt, und welche Rolle spielt sie noch?
Brakel: Also die Gülen-Bewegung hat auf Bildung immer einen ganz großen Wert gelegt. Die Idee war, die wir auch von anderen islamistischen Bewegungen kennen, also wie etwa der Muslimbruderschaft, dass man sagt, na ja, man möchte die Gesellschaft von unten heraus verändern, und dafür ist es eben wichtig, gut ausgebildet zu sein, um auch die Spitzen des Staates besetzen zu können, was ja auch schon zum Teil eben passiert ist hier in der Türkei. Das ist ja etwas, mit dem man sich der AKP auch angedient hat, am Anfang, als die AKP 2002 an die Macht gekommen ist, dass man eben gesagt hat, wir haben die Leute, die die nötige Ausbildung haben, die euch helfen können, die alten Eliten aus der Bürokratie zu verdrängen.
Ganz, ganz wichtig in diesem Zusammenhang waren diese sogenannten Dershanes, also die Nachhilfeschulen in der Türkei und auch in Deutschland, wo die auch betrieben werden, ist es ganz wichtig für türkische Eltern gewesen, ihre Kinder, wenn sie den schwierigen Test für die Universität bestehen wollen, dass man sie auf so Nachhilfeschulen gibt. Das sind so Paukschulen, wo man dann wirklich nach der Schule mehrere Stunden hingeht, und da war die Gülen-Bewegung sehr, sehr gut im Geschäft, und das war einerseits wichtig, um da Nachwuchs zu rekrutieren, aber andererseits eben auch, um sich eine Finanzierungsbasis zu schaffen, und die wurden dann ab 2013 nach und nach dichtgemacht.
Kritischer Dialog an Schulen tabu
Welty: Inwieweit hat sich auch das Klima an Schulen und Universitäten verändert? Inwieweit musste so etwas wie der freiheitliche Diskurs, das Recht auf Diskussion aufgegeben werden?
Brakel: Also an Schulen gab es das sowieso noch nie, außer vielleicht an Privatschulen. Ich habe 2001 an so einer Schule unterrichtet, und seitdem hat sich sicherlich einiges verändert, aber ganz klar, also der türkische Schulunterricht ist immer schon einer gewesen, der sehr stark vom Frontalunterricht geprägt war, sehr stark von Auswendiglernen, und also gerade der kritische Dialog über politische Themen absolut tabu war. In den Universitäten ist das anders gewesen. Hier haben sich in den letzten Jahren zum Teil gerade so einige Privatuniversitäten schon größeren Raum erkämpft für so etwas, und da herrscht natürlich jetzt an vielen Universitäten, gerade an den staatlichen Universitäten, ein großes Klima der Angst.
Es sind ja viele Universitätsleitungen ausgetauscht worden. Es wird großer Druck gemacht auch auf die privaten Universitäten, unliebsame Personen zu entlassen. Das bezieht sich natürlich nicht nur auf Gülen-Anhängerinnen und -Anhänger, sondern wir haben ja gerade im Februar gesehen, da gab es eine große Welle, wo sehr viele Personen, fast 400 Personen entlassen wurden, die letztes Jahr die sogenannte Friedendeklaration unterschrieben haben, die den Staat auffordert, wieder mit der PKK Friedensverhandlungen zu führen. Das ist halt so die Spitze der linken Intelligenzija gewesen in der Türkei, also zum Teil sehr renommierte Leute, aber eben Leute, die mit der AKP nicht so viel anfangen können, und das hat eine riesige Lücke gerissen, auf jeden Fall, in den kritischen Diskurs, in den kritischen Unterricht in der Türkei.
Ohne einen Masterplan
Welty: Bei diesen Veränderungen, die Sie beschreiben, sehen Sie dahinter so etwas wie einen Masterplan, die Menschen dumm zu halten und auch für dumm zu verkaufen?
Brakel: Ich glaube nicht, dass es diesen Masterplan gibt. Was es gibt halt, ist der Staat, der zuerst mal mit einer großen Panik reagiert hat, auf jeden Fall, auf diese Gülen-Bewegung sowohl nach dem Putsch, aber es gab ja vorher auch schon den Versuch, die Gülenisten aus allen möglichen staatlichen Positionen heraus zu drängen, und dann eben das Ganze genutzt hat, um sich anderer unliebsamer Personen zu entledigen. Aber einen Masterplan, da hat man nicht den Eindruck, dass es den gibt, auch gerade weil das ja in so Wellen kommt. Also es ist wirklich so, dass man den Eindruck hat, es setzt sich jemand hin und sagt, wer ist jetzt noch unliebsam, wer könnte uns Ärger bereiten. Es kann durchaus sein, dass in ein paar Monaten, in ein paar Jahren man durchaus einige dieser Entlassungen wieder zurücknehmen wird, um das System funktional zu halten, auch um vielleicht nicht eine riesige Masse von Menschen zu haben, die man gegen sich aufgebracht hat.
Aber ganz klar, es gibt im Moment zumindest den Versuch, unliebsame Geister ruhigzustellen und zum Teil natürlich auch völlig ohne juristische Grundlage. Also die Leute haben hier kein Recht auf ein Gerichtsverfahren. Das Verfassungsgericht hat jetzt schon gesagt, wir können uns mit diesen Entlassungen, die per Dekret des Präsidenten passiert, nicht beschäftigen. Das sind Leute, die können sich auch an niemanden wenden. Es gibt Leute, die entlassen worden sind, die meisten haben die Pässe entzogen bekommen. Es gibt Leute, die können auch nicht sagen, in der Türkei habe ich keine Zukunft, dann gehe ich ins Ausland. Auch das ist nicht möglich. Die Leute stehen einfach auf der Straße und wissen nicht, wie es weitergehen soll.
Welty: Eindrücke aus der Türkei vor dem Referendum morgen – Kristian Brakel von der Böll-Stiftung in Istanbul war das. Haben Sie herzlichen Dank für dieses Gespräch!
Brakel: Sehr gern!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.