"Klima der Angst" unter Wissenschaftlern
Nach dem gescheiterten Putsch in der Türkei geht eine "Säuberungswelle" durch das Land. Neben Militärs und Richtern wurden auch Tausende Lehrer und Universitäts-Rektoren entlassen. Der Wissenschaftler Ferhat Kental spricht von einem "Klima der Angst".
Wach sieht er aus. Aufmerksam guckt Ferhat Kental erstmal, wer ihn da aus dem fernen Deutschland besuchen kommt. Kental ist Professor für Soziologie an der Sehir Universität in Istanbul. Es ist derzeit nicht frei von Risiko, als türkischer Wissenschaftler mit einem ausländischen Journalisten zu sprechen. Selbst, wenn man wie Kental auch schon Vorlesungen für die Jugend-Kader der AKP gehalten hat:
"Ehrlich gesagt passe ich gerade sehr, sehr auf was ich für Worte verwende. Ich passe sehr auf, dass ich keine Analysen schreibe, die missverständlich klingen könnten. Die der hier gängigen Meinung über den Verlauf des Putsches entgegenlaufen könnten. Ich verstecke mich nicht, ich ziehe mich nicht zurück, ich halte mit meiner Meinung nicht hinter dem Berg, aber ich bin sehr vorsichtig."
Die Sorgen Kentals sind mehr als ernst zu nehmen. Die offizielle Haltung im Land ist klar: Die Gülen-Bewegung trägt die Verantwortung für den Putsch. Diejenigen, die im Verdacht stehen, mit den Putschisten paktiert zu haben, werden suspendiert, verfolgt, eingesperrt. In türkischen Medien zirkulieren großformatige Bilder von stark malträtierten, gedemütigten Putschisten und Menschen, die mit dem Putschversuch in Verbindung gebracht werden. Ecevit Kilic hat als investigativer Journalist und regierungskritische Medien gearbeitet. Für ihn verfolgt die Regierung damit eine klare Strategie:
"Die Tatsache, dass die Medien diese Bilder ganz offen zeigen dürfen, macht eines deutlich. Die Regierung will allen klarmachen, dass es kein Pardon für Verräter gibt. Dass Verräter mit dem Schlimmsten zu rechnen haben, wenn sie ins Gefängnis kommen. Das kreiert ein Klima der Angst. Wir wissen überhaupt nicht, was passiert ist, wie die Leute untergebracht sind."
Rhetorik der Gewalt von Erdogan
Die Putschisten gelten in der Türkei als "Vaterlandsverräter", als "Terroristen". Immer wieder verweist der türkische Präsident darauf, dass "das Volk" die Einführung der Todesstrafe fordere. Diese Rhetorik der Gewalt. Ferhat Kental sieht darin ein gesamtgesellschaftliches Problem.
"Der Grundtenor dieser Gesellschaft beruht immer noch auf dem Glauben an eine durch und durch durch militarisierte Gesellschaft. Wir reproduzieren diesen Gedanken immer und immer wieder. Dieser Glaube an die totale Macht ist in dieser Gesellschaft allgegenwärtig. Die türkische Gesellschaft ist in ihrem Innersten eine sehr schwache, eine sehr fragile Gesellschaft. Deswegen tragen wir alle diese Fixierung auf eine charismatische Führerfigur, in eine starke Instanz wie die Armee in unseren Herzen. Wir müssen anfangen, an uns zu glauben. Jeder einzelne Bürger dieses Landes sollte anfangen, an sich zu glauben – anstatt sich immer nur an diese Führergestalten anzulehnen."
Noch scheint die türkische Gesellschaft weit weg von diesem frommen Wunsch. Rund 16.000 Menschen sind bis jetzt seit dem Putschversuch festgenommen worden. Dass die Säuberungsaktionen jetzt so schnell verlaufen. Dass die Säuberungen so schnell, so umfassend und brutal um sich greifen. Ecevit Kilic überrascht das überhaupt nicht.
"Sie müssen wissen, die AKP-Regierung, der Präsidentenpalast in Ankara, sie kennen die Gülen Bewegung sehr gut. Tayyip Erdogan wäre ohne Fetullah Gülen nicht dort, wo er heute ist. Die haben jahrelang zusammengearbeitet. Die haben sich gegenseitig unterstützt, die haben alles zusammen gemacht. 2013 ist es zum Bruch gekommen. Und das, was jetzt passiert, das ist jetzt einfach eine neue Stufe der Eskalation der Gewalt. Der Krieg zwischen denen ist jetzt nur noch heftiger geworden. Die Pläne für diese Säuberungsaktionen, die gab es schon lange. Die lagen schon lange in den Schubladen. Aber jetzt hat die Regierung die Nase voll gehabt. Haben gesagt, jetzt ist es an der Zeit, aufzuräumen."
Sorgenvoller Blick in die Zukunft
In der Türkei ist der Ausnahmezustand verhängt worden. Formell für drei Monate. Es scheint ungewiss, ob sich die Situation tatsächlich in drei Monaten aufgelöst hat. Für Ferhat Kental ist freie Wissenschaft unter solchen Bedingungen nicht vorstellbar. Der Soziologe blickt der Zukunft für die Wissenschaft, blickt der Zukunft seines Landes sorgenvoll entgegen.
"Meine Befürchtung ist, dass diese Säuberungen nicht bei den Gülen-Leuten aufhören werden. Aus meiner Sicht versuchen die gerade, die Gunst der Stunde zu nutzen. Tief drinnen fühlt sich die Regierung, fühlt sich die Regierung sehr schwach. Und diese starke Gegenreaktion zeigt, dass sie sich eine sehr starke Machtbasis schaffen wollen. Mit diesen Säuberungsaktionen wollen sie einen Schutzwall für die Zukunft um sich errichten."