Miese Maschen
Alle großen internationalen Modeketten lassen in der Türkei fertigen. Die unrühmlichen Kennzeichen der Textilindustrie des Landes sind: zu geringe Löhne, Betrug bei Sozialabgaben und Zwang zu übermäßigen Überstunden.
Seit Tagen regnet es in Strömen in der türkischen Kleinstadt Düzce, etwa zwei Stunden östlich von Istanbul. Doch davon lassen sich die Leute von der Textilarbeiter-Gewerkschaft Teksif nicht abschrecken. Ihr Bus parkt vor dem Werkstor der Bekleidungsproduzenten Örma- und Burcu-Tekstil. Die beiden Fabriken liegen an einer Landstraße außerhalb der Stadt. Rund 600 Arbeiter stellen hier T-Shirts für Esprit, H&M und den französischen Sport-bekleidungshersteller Decathlon her. Mehr als 80 Prozent von ihnen sind Frauen.
Aus großen Hifi-Boxen im Heck des Gewerkschaftsbusses wummert türkische Volksmusik. Fünf Arbeiterinnen in Capes von Teksif tanzen vor dem Tor im Kreis. Oben auf dem Wagen stehen der Gewerkschaftschef Asalettin Arslanoğlu und sein Kollege aus Düzce und recken die Fäuste in die Luft. Der Anfang 50-jährige Arslanoğlu, betont leger gekleidet in Jeans, Sportschuhen, richtet sich per Lautsprecher an die Arbeiter, die hinter dem Werkstor Mittagspause machen.
Die Gewerkschafter protestieren gegen die Arbeitsbedingungen bei Örma und Burcu Tekstil, und weil Arbeiter entlassen wurden, nur weil sie bei Teksif eingetreten sind. Arslanoğlu ist bereits heiser von all den Ansprachen:
"Das Hauptproblem sind die Überstunden. Die Arbeit beginnt um acht Uhr morgens, aber es wird fast nie pünktlich Feierabend gemacht. Manchmal arbeiten die Leute bis zwölf, ein Uhr nachts. In der Türkei dürfen Arbeiter nur maximal elf Stunden am Stück eingesetzt werden und maximal 270 Überstunden im Jahr machen. Firmen wie Esprit, H&M, Decathlon: Alle wissen davon, aber sie haben nichts getan."
Deutschland ist größter Absatzmarkt
Alle großen internationalen Modeketten lassen in der Türkei fertigen. Die Exporte der Bekleidungsindustrie machten im letzten Jahr mehr als 10 Prozent aller Ausfuhren aus. Deutschland ist mit mehr als 2,2 Milliarden Euro Umsatz der größte Absatzmarkt. Nach Angaben des türkischen Arbeitsministeriums sind mehr als 500.000 Menschen in mehr als 40.000 Bekleidungsfabriken beschäftigt. Die Kampagne für saubere Kleidung, die sich international für faire Arbeitsbedingungen in der Branche einsetzt, geht jedoch von insgesamt rund zwei Millionen Beschäftigten aus. Denn sehr viele arbeiten schwarz in kleineren Werkstätten von Subunternehmern oder Sub-Subunternehmern. Sie verdienen meist nicht einmal den gesetzlichen Mindestlohn von rund 250 Euro netto und arbeiten ohne soziale Absicherung. Zu geringe Löhne, Betrug bei den Sozialabgaben und Zwang zu übermäßigen Überstunden zählen zu den Hauptproblemen, ebenso wie die allgemein verbreitete Gewerkschaftsfeindlichkeit der Arbeitgeber. Sie betrifft nicht nur die Textilindustrie, sondern alle Branchen.
Bei Burcu und Örma Tekstil in Düzce ist zudem noch ein Kampf der Gewerkschaften untereinander entbrannt. Neben Teksif hat auch die Gewerkschaft Öz-Iplikiş zwei Wagen mit Transparenten und Lautsprechern vor dem Werkstor geparkt. Zwischen den beiden verfeindeten Gewerkschaften haben sich ein Dutzend Polizisten mit Schutzwesten und Schlagstöcken postiert. Öz-Iplikiş gilt als sehr arbeitgeberfreundlich und steht der konservativen und wirtschaftsliberalen AKP-Regierung nahe. Teksif hingegen ist dem gemäßigt linken Spektrum zuzuordnen.
Der Chef von Öz-Iplikiş, ein großer, beleibter Mann mit weißen Haaren und Schnauzbart ist sichtlich aufgebracht:
"Wir haben auf ganz demokratischem Wege Mitglieder gewonnen. Nächste Woche wird das Arbeitsministerium entscheiden, ob wir die Arbeiter hier vertreten dürfen. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen."
Massiver Druck des Managements
Eine 26-jährige Arbeiterin mit weißem Kopftuch, wie es in der Fabrik vorgeschrieben ist, klagt über massiven Druck des Managements von Örma und Burcu. Um die unliebsame, weil kritische Gewerkschaft Teksif loszuwerden, würden die Arbeiter gedrängt, bei Öz-Iplikiş einzutreten.
Die zierliche Frau macht einen sehr resoluten Eindruck, aber aus Angst um ihren Job möchte sie ihren Namen nicht nennen:
"Der Produktionsleiter hat mir gedroht: Wenn ich nicht die Gewerkschaft wechsle, werde ich entlassen und er wird meinen Namen allen Fabriken in Düzce mitteilen. Dann werde ich hier nirgendwo mehr Arbeit bekommen, hat er gesagt."
Das türkische Arbeitsrecht enthält viele Hürden für Gewerkschaften. Beispielsweise gelten Tarifverträge jeweils nur für einen Betrieb und nicht für eine ganze Branche. Gewerkschaften müssen zudem mehr als die Hälfte der Belegschaft als Mitglieder gewonnen haben, um einen Tarifvertrag auszuhandeln. Für Arbeitgeber ist es so ein Leichtes, sie gegeneinander auszuspielen und damit die Organisation ihrer Belegschaft hinauszuzögern.
Nach Feierabend bei Örma und Burcu treffen sich einige Gewerkschaftsmitglieder in der Zentrale von Teksif, einem unscheinbaren Bürogebäude in einer Einkaufsstraße von Düzce. Es gibt Pizza und Cola vom Lieferservice. Etwa 20 Arbeiterinnen und Arbeiter drängen sich in einem kleinen Konferenzzimmer mit aufgereihten Stühlen. Auch hier klagen viele über den psychischen Druck der Chefs. Dies führt zu dramatischen Situationen, wie eine 29-jährige erzählt. Sie war in der sechsten Woche schwanger - eine Risikoschwangerschaft, denn zuvor hatte sie schon einmal ein Kind verloren. Der Arzt hatte ihr daher eine Woche Bettruhe verordnet.
Die freundliche, rundliche Frau mit Strickjacke und langem, weitem Rock wirkt erstaunlich gefasst, obwohl alles erst ein paar Wochen zurückliegt:
"Als ich wieder zur Arbeit ging, hat der Chef gesagt, wenn ich nicht aus der Teksif-Gewerkschaft austrete, werde ich entlassen und mein Mann auch. Er fährt einen der Werksbusse. Ich habe ihn gebeten, mich in Ruhe zu lassen. Ich bin schwanger und darf mich nicht aufregen. Da ist er aufgestanden und hat gesagt: Hab ich dich etwa bedroht? Ich hatte ständig Angst, dass mein Mann und ich unsere Arbeit verlieren. Der Chef hat dauernd auf mir herumgehackt. Dann bekam ich morgens plötzlich starke Bauchschmerzen. Ich habe um Urlaub gebeten, um zum Arzt zu gehen, aber das hat der Chef abgelehnt. Als ich dann endlich ins Krankenhaus fahren durfte, (weint), konnte mein Arzt keine Herztöne bei dem Baby mehr hören. Es ist gestorben."
Zu den Problemen bei ihrem Zulieferer in Düzce teilt H&M in einer Stellungnahme mit, dass die Entlassungen mit einem Rückgang der Aufträge zusammenhingen, nicht mit der Gewerkschaftsmitgliedschaft, und dass die Arbeiter ihre Vertretung frei wählen dürfen. Man habe in der Fabrik inzwischen eine Schulung zu diesem Thema durchgeführt und sei mit den Gewerkschaften im Gespräch. Wie H&M gewährleisten will, dass die Arbeiter tatsächlich nicht unter Druck gesetzt werden, lässt die Sprecherin der Modekette aber offen. Esprit antwortet, dass man die Vorwürfe von einem unabhängigen, wissenschaftlichen Experten prüfen lassen wird. Der Unternehmenssprecher schreibt:
"Esprit setzt im Falle von Verstößen zunächst immer auf Trainings und eine intensive Zusammenarbeit mit dem Management in den betroffenen Fabriken, da nur so eine nachhaltige Verbesserung der Arbeitsbedingungen erreicht werden kann. Wenn diese Bemühungen endgültig erfolglos bleiben, beendet Esprit die Zusammenarbeit mit seinen Lieferanten."
Der Preiskampf ist das Problem
So empfiehlt es zwar auch die Kampagne für saubere Kleidung, aber der eigentliche Grund für derartige Probleme bei den Zulieferern liegt im Preiskampf: In den letzten acht, neun Jahren lassen die internationalen Modeketten vermehrt in Billiglohnländern wie Bangladesch, Indien oder Pakistan produzieren – auf Kosten des einstigen Hauptlieferanten Türkei. Wegen der starken Konkurrenz zwischen den Standorten können sie die Einkaufspreise diktieren. Sie verlangen einen fast unmöglichen Spagat aus schneller Lieferung, guter Qualität und günstigem Preis. Der Druck, unter dem die Zulieferer stehen, wird nach unten weitergegeben, am Ende sind die Arbeiter die Leidtragenden.
Auch Yunus Okçuoğlu spürt, dass das Geschäft härter geworden ist. Der 41-jährige Kölner ist Mitinhaber des deutsch-türkischen Konfektionierers BAF-Tekstil. 2001 hat der modisch gekleidete Mann in seiner Geburtsstadt Istanbul mit früheren Kollegen aus Deutschland eine eigene Firma gegründet. An den Wänden des Showrooms reihen sich Kleiderständer mit Hosen: klassisch in schwarz und weiß und in Trendfarben wie lachs, zitrone oder mintgrün. Sie werden an Warenhäuser wie Kaufhof, Karstadt oder C&A geliefert.
Okçuoğlu klagt über den Kostendruck:
"Wenn früher ne gute Hose 35 Mark gekostet hat, kostet jetzt immer noch ne gute Hose 17,18 Euro, im Einkauf. Der Preis hat sich nicht geändert. Das Problem ist aber, dass die anderen Kosten: Energie, Arbeiter, Mitarbeiternebenkosten, all das ist viel stärker angestiegen. Und die Klamotten, die wir machen, sind mittlerweile viel aufwändiger. Obwohl wir hier eigentlich ein klassisches Textilland sind, aber es funktioniert einfach nicht mehr, was den Preisdruck angeht."
Aus Kostengründen haben er und seine Partner sich nach einer Fabrik in Asien umgesehen und lassen jetzt einen Teil in Vietnam fertigen. Etwa die Hälfte ihrer Ware kommt aber noch aus der Türkei, aus der Hafenstadt Izmir.
Vierstöckiger Betonklotz am Rande von Izmir
In einem Gewerbegebiet etwa eine halbe Autostunde von der Küstenpromenade entfernt, sind zahlreiche Textilproduzenten ansässig. Von Izmirs mediterranem Flair ist hier nichts zu spüren. An einer staubigen Ausfallstraße, die einen Hügel hinaufführt, weisen Schilder den Weg zu den Fabriken. Gülen Tekstil, wo Yunus Okçuoglus Firma produzieren lässt, sitzt in einem vierstöckigen Betonblock mit Blick über die Stadt. Der Betrieb hat rund 100 Mitarbeiter.
Der Inhaber Halit Yaşar sitzt hinter einem Schreibtisch aus dunklem Massivholz. Auf einem Tisch neben der Tür liegen einige Musterhosen:
"Bisher hat noch keine Firma bessere Geschäfte gemacht, weil sie mit einer Gewerkschaft zusammenarbeitet. Sie verlangen immer Änderungen und regen sich über Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen auf, und das in einer Zeit, in der unsere Textilbranche sowieso in Schwierigkeiten steckt. Die Gewerkschaftsführer geben vor, aufseiten der Arbeiter zu stehen, aber wenn man sich mal deren Autos und Gehälter anschaut, wird einiges klar. Es geht ihnen um sich selbst und nicht um die Arbeiter. Wegen der Krise in Europa und wegen der Konkurrenz aus Asien sind die Bestellungen zurückgegangen. Wir würden gern neue Maschinen anschaffen, aber in der jetzigen Situation trauen wir uns nicht zu investieren."
Strategie gegen die billige Konkurrenz
Viele türkische Produzenten setzen inzwischen auf komplexere und qualitativ hochwertigere Verarbeitung, um sich von der billigeren Konkurrenz aus Asien abzuheben. Selbst eine komplette Produktion nach Ökostandards ist in der Türkei möglich. Beispielsweise lässt das deutsche Ökomodelabel Hess Natur dort Jeans aus türkischer Biobaumwolle herstellen. Gebleicht werden sie per Laser, statt mit dem gesundheitsschädlichen Sandstrahlen, das in Asien noch weit verbreitet, in der Türkei aber seit 2009 verboten ist. Trotz höherer Kosten können auch die großen Bekleidungsketten nicht auf die türkischen Lieferanten verzichten. Darauf setzt auch Halit Yaşar:
"Die Zukunft? Naja, so lange die Leute nicht nackt herumlaufen, wird unsere Textilbranche wohl noch weiterexistieren. Meine Kinder werde ich allerdings von diesem Geschäft so weit fernhalten, wie ich nur kann."