"Großer Sieg für die türkische Demokratie"
Das hatte sich Präsident Erdogan völlig anders vorgestellt: Der eigentliche Gewinner der Wahl in der Türkei ist die prokurdische HDP. Auf das Land kommen jetzt turbulente Zeiten zu, meint der Politikwissenschaftler Burak Copur.
Burak Copur, Politikwissenschaftler und Türkei-Experte an der Universität Duisburg-Essen, sieht das Land am Bosporus nach der Wahl vom Wochenende am Scheideweg. Im Deutschlandradio Kultur sagte Copur, die Wahl habe einen großen Verlierer, und das sei Präsident Erdogan. Sie markiere den Anfang vom Ende seiner Alleinherrschaft. Seine Pläne für ein Präsidialsystem hätten die rote Karte bekommen.
Für alle Demokraten sei die Wahl deswegen ein "ganz großes Fest": Die politische Niederlage der AKP sei ein Sieg der Demokratie, sagte Copur. In der Türkei sei Geschichte geschrieben worden, das erste Mal habe eine prokurdische Partei die Zehn-Prozent-Hürde überwunden, so der Experte.
"Das ist auch ein Erfolg der Zivilgesellschaft, das darf man nicht vergessen. Der Geist der Gezi-Bewegung hat in der HDP weitergelebt", sagte Copur. Die HDP habe es geschafft, alle Entrechteten und vom Erdogan-Regime Unterdrückten unter einem Dach zu vereinen. Die Opposition dürfe jetzt die historische Chance zur Ablösung der AKP nicht verspielen, warnte Copur. Wenn sie es nicht schaffe, eine gute Alternative zu bieten und für stabile Verhältnisse zu sorgen, könne das Land im Chaos versinken.
Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Katzen, die vom Himmel auf Elektrokästen fallen, wie bei den Kommunalwahlen im vorigen Jahr in der Türkei, die angeblich Schuld daran gewesen sein sollen, dass damals in 42 Wahlkreisen der Strom ausfiel und Wahlfälschungen ermöglichte, die hat es gestern bei den Parlamentswahlen nicht gegeben. Außerdem waren auch OSZE-Wahlbeobachter unterwegs und viele von der Gezi-Bewegung. Gestern die Wahlen, die kann man gern eine Sensation nennen, denn die Erdogan-Partei AKP hat nicht die Stimmenzahl erreicht, die sie sich erhofft hat. Und die zweite und eigentliche Sensation: Die kurdische Partei HDP kommt mit knapp 13 Prozent ins Parlament.
Über die Wahlsensation will ich jetzt mit Burak Copur reden. Er ist Politikwissenschaftler und Türkei-Experte an der Universität Duisburg-Essen und jetzt am Telefon. Schönen guten Morgen!
Burak Copur: Guten Morgen!
von Billerbeck: Die kurdische Partei HDP ist drin, und zwar mit fast 13 Prozent. Was bedeutet das für die Türkei?
Die AKP-Niederlage ist ein Fest für die Demokraten in der Türkei
Copur: Zunächst ist zu sagen, dass die Demokraten in der Türkei und die Türkeistämmigen in Deutschland ein ganz großes Fest feiern, nämlich den Sieg der türkischen Demokratie und die politische Niederlage der AKP. Denn diese Wahl hat einen ganz großen Verlierer, und der heißt Recep Tayyip Erdogan. Diese Wahl markiert gleichzeitig auch den Anfang vom Ende der Alleinherrschaft von Erdogan, und die türkischen Wähler haben den Plänen zur Einführung eines autoritären Präsidialsystems von Erdogans die Rote Karte gezeigt.
von Billerbeck: Nun haben Sie gerade die türkischen Wähler in Deutschland gewählt. Die haben doch aber mehr als die türkischen Wähler in der Türkei AKP gewählt. Ich glaube, es war die Rede von 53 Prozent für die AKP.
Copur: Das ist richtig. Gefolgt von der HDP mit rund 18 Prozent. Und das zeigt, dass die Türkeistämmigen, aber auch die Türken in der Türkei am 7. Juni Geschichte geschrieben haben. Denn das erste Mal wurde in der Geschichte der Türkei die Zehnprozent-Hürde erreicht von einer Partei der Kurden. Und das ist auch ein Erfolg der Zivilgesellschaft, das darf man nicht vergessen. Der Geist der Gezi-Bewegung, Sie haben sie ja gerade angesprochen in der Anmoderation, der hat in der HDP weiter gelebt und hat sozusagen jetzt, am 7. Juni, ein Lebenszeichen von sich gegeben.
von Billerbeck: Es wurde ja schon von vielen erwähnt an diesem heutigen Morgen nach der Wahl, dass eben nicht nur die Kurden diese Partei gewählt haben, sondern dass sie es geschafft hat, zu einer Oppositionspartei zu werden in dieser Wahl. Wie hat sie das gemacht?
Die HDP vereint die Entrechteten und Unterdrückten unter ihrem Dach
Copur: Sie hat versucht, alle zu integrieren. Selahattin Demirtas, ein ganz großer Integrator und Stratege dieser Politik, der versucht hat, alle Entrechteten, Unterdrückten des Erdogan-Regimes unter dem Dach der HDP zu vereinen.
von Billerbeck: Das ist ja nun ein schwerer Rucksack, den so eine Partei mit sich herumschleppt und ihr Spitzenkandidat auch, die Hoffnungen, die auf ihr Lasten. Die muss ja jetzt alles hinkriegen. Wird sie das schaffen, diese Hoffnung auf Verbesserungen im Parlament?
Copur: Sie haben völlig Recht. Die Türkei darf diese historische politische Chance zur Ablösung der AKP nicht verspielen. Wenn die Opposition es nicht schafft, eine gute Alternative zu bieten und für politisch stabile Verhältnisse zu sorgen, kann das Land tatsächlich vom Regen in die Traufe geraten und im politischen Chaos versinken. Der Türkei stehen ab heute wirklich turbulente Zeiten bevor.
von Billerbeck: Ist es jetzt tatsächlich so, dass das ein Sieg für die Menschenrechte ist, ein Sieg für die Frauen und auch ein Sieg gegen den Islamischen Staat, weil ja Erdogans AKP immer verdächtigt wird, auch die Kämpfer des IS zu unterstützen?
Copur: Das Ergebnis ist zunächst einmal ein ganz großer Sieg für die türkische Demokratie, das würde ich so sehen, weil letztlich die türkischen Wähler den Plänen dieses autoritären Präsidialsystems eine Absage erteilt haben und die Menschen in der Türkei sind mit einem blauen Auge bei diesem Wahlergebnis davongekommen.
von Billerbeck: Trotzdem hat Erdogans AKP, auch wenn sie jetzt koalieren muss, immer noch 40 Prozent der Stimmen. Was kann denn die kurdische Partei ganz realistisch im Parlament bewirken?
Momentan ist das politische Spiel der Macht völlig offen
Copur: Na ja, sie kann beispielsweise eine Minderheitenregierung tolerieren. Im Moment ist das Spiel völlig offen. Man kann nicht abschätzen, wohin die Reise politisch geht in der Türkei. Es gibt Optionen von einer Minderheitenregierung, der Tolerierung einer Regierung, aber auch einer Koalition beziehungsweise auch einer Neuwahl, wenn die AKP es nicht schafft, einen Koalitionspartner zu finden.
von Billerbeck: Sie gehen so weit, dass sogar die Tolerierung einer Minderheitenregierung durch die HDP möglich sein kann?
Copur: Das kann möglich sein. Das muss man sehen, wie sich die Lage jetzt entwickelt. Fest steht aber am 8. Juni, dass alle Parteien im türkischen Parlament erklärt haben, mit der AKP nicht koalieren zu wollen.
von Billerbeck: Nach den Parlamentswahlen in der Türkei. Einschätzungen waren das von Burak Copur, Politikwissenschaftler und Türkei-Experte an der Uni Duisburg-Essen. Ich danke Ihnen!
Copur: Ich danke Ihnen. Schönen Gruß nach Berlin!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.