Ein Journalist geht, 155 sitzen
Ein freigelassener Journalist macht noch keinen türkischen Frühling. Die Berufskollegen von Deniz Yücel stehen weiterhin mit jeder kritischen Zeile über Erdoğans Regierung mit einem Bein im Gefängnis. Dazu kommt ökonomischer Druck. Wenige halten durch.
Es war sogar den großen türkischen Fernsehsendern eine Nachricht wert: Deniz Yücel, Korrespondent der Zeitung "Die Welt", kommt am 16. Februar 2018 frei. Das ist bemerkenswert, denn normalerweise berichten sie nicht über deutsche Gefangene.
Der Menschenrechtler Peter Steudtner und die Übersetzerin und Journalistin Mesale Tolu waren kaum Thema. Schließlich wurden Zehntausende aus dem eigenen Land seit dem Putschversuch vor anderthalb Jahren verhaftet, darunter weit über hundert Journalisten.
Die türkische Plattform für unabhängigen Journalismus "P24" zählt derzeit 155 inhaftierte Medienvertreter. Die NGO "Repoter ohne Grenzen" spricht von aktuell 36 Betroffenen, bei denen ein direkter Zusammenhang zwischen Haft und journalistischer Tätigkeit nachweisbar ist. Damit führt die Türkei diese Statistik weltweit deutlich an.
"Cumhuriyet"-Mitarbeiter unter Druck: Knast, Exil, Prozesse
Am Abend von Yücels Freilassung feiern ein paar seiner türkischen Berufskollegen in einem kleinen Club in Istanbul – bei ohrenbetäubender Musik. So als wollten sie ihren Alltag betäuben. Diese Journalistin steht mit einer Freundin vor der Tür. Klar, sagt sie, freue sie sich, dass Deniz Yücel rausgekommen ist, aber:
"Es ist kompliziert. Wir sind glücklich. Und wir sind nicht glücklich. Das da drinnen im Club sind die Leute, die jeden Tag dafür arbeiten, die Menschen über die Wahrheit zu informieren - und zwar über soziale Netzwerke. Denn klassische Medien wie Lokalzeitungen gibt es keine mehr. Das kontrolliert alles die Regierung."
Es gibt fast keine dieser unabhängigen Zeitungen mehr. Die "Cumhuriyet" hat überlebt. Sie ist eine der ältesten Tageszeitungen der Türkei. Aber sie steht massiv unter Druck. Einige Mitarbeiter sitzen im Gefängnis, gegen mehrere laufen Verfahren.
Dazu gehört auch der frühere Chefredakteur der Zeitung, Can Dündar. Er hatte einen Bericht über Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an islamistische Milizen im Syrienkrieg geschrieben. Die türkische Regierung bestreitet das. Dündar wurde angeklagt und verurteilt. Er habe Staatsgeheimnissen veröffentlicht, hieß es zur Begründung. Inzwischen lebt er im Exil in Deutschland.
Im Verlagshaus seiner ehemaligen Zeitung gab es immer wieder Razzien. Es steht in Istanbul. Der rote Schriftzug an der Fassade sticht einem nicht sofort ins Auge. Es sieht mehr aus wie auf einer Baustelle. Vor dem Eingang stehen hohe Absperrgitter – könnten Baustellenabsperrungen sein. Aber es steht "Polis" drauf – zu Deutsch: Polizei. Dazu bewaffnetes Wachpersonal und gepanzerte Fahrzeuge – zur Bewachung oder zum Schutz der "Cumhuriyet"-Mitarbeiter?
Aydin Engin wundert sich nicht mehr:
"Es ist Alltag geworden. Wenn sie nicht da sind, frage ich manchmal, so sind sie, diese Sondereinheiten? Wir haben uns daran gewöhnt."
Aydin Engin ist nicht nur Redakteur. Der 77-Jährige hat auch mehrere Aufgaben in der Führung der "Cumhuriyet" übernommen, mangels Personal. Auch Engin war schon im Gefängnis, zuletzt im vergangenen Jahr – insgesamt kommt er auf gut sechseinhalb Jahre:
"Ich habe in meinem Beruf drei Militärputsche erlebt. Jedes Mal nach dem Militärputsch war ich im Gefängnis. Nur, nur wegen meiner journalistischen Arbeit. Deshalb bin ich nicht daran gewöhnt, aber die Schmerzgrenze ist hoch."
Auch am Samstag nach Yücels Freilassung sitzt er an seinem Schreibtisch. Der steht in einer Ecke eines großen Sitzungsraums.
Alles ist in die Jahre gekommen, für neue Möbel und hohe Gehälter ist kein Geld da, sagt er. Neben einer Verhaftung droht auch immer, dass der Verlag geschlossen, beziehungsweise übernommen wird.
Türkei hat fast nur "Pinguin-Sender" oder "Poolmedien"
"Diese AKP-Leute, besonders dieser Erdoğan ist sehr klug. Nicht intelligent. Klug! Der hat keinen Journalisten gekauft, sondern alle Medien gekauft. Unsere Journalisten-Union in der Türkei hat darüber berichtet im vergangenen Jahr. Da steht, 70 Prozent der gedruckten Zeitungen sind ‚organ‘ geworden. Und bei den Fernsehkanälen sind es mehr als 72 Prozent."
In der Türkei nennt man das Poolmedien, also regierungsnahe Medien. Unter den restlichen 28 Prozent sind viele "Pinguin-Sender", sagt Aydin Engin, also Sender, die überhaupt nicht politisch berichten. Den Beinamen "Pinguin-Sender" haben sie während der Gezi-Park-Proteste bekommen, erklärt er weiter. Da haben sie nämlich lieber unverfängliche Tier-Filme über Pinguine gezeigt, statt Berichte über den Widerstand gegen Präsident Erdoğan.
Die "Cumhuriyet" hat sich in diesem Umfeld trotzdem gehalten – regierungsfern. Und dann huscht ein Ausdruck des Triumpfs über sein sonst so gütig wirkendes Gesicht. Man habe schon versucht sie zu kaufen:
"Wir sind nicht verkäuflich. Aber die Gefahr ist nicht vorbei. Erdoğan oder die AKP-Regierung hat viele Mittel gegen uns. Zum Beispiel Zwangsverwalter. Wir haben zwar sehr viel Solidarität erhalten aus Europa und fast der ganzen Welt, aber wenn wir so weiter machen, kann die Regierung versuchen, einen Zwangsverwalter einzusetzen."
Aydin Engin wird nachdenklich in seinem großen Bürosessel. Was würde dann aus den vielen mutigen Journalisten in seiner Redaktion werden?
"Einige Leute haben gekündigt nach den Verhaftungen bei uns. Die anderen sind im Bewusstsein, dass das unser Beruf ist, zu berichten, was wirklich ist. Das ist unsere Aufgabe. Wenn wir ins Gefängnis kommen, sind wir dazu bereit. Das haben mehrere junge Kollegen wortwörtlich erzählt. Das macht mich stolz."
Arbeiten ohne Chefredakteur bei "Cumhuriyet"
Nazan Özcan ist eine dieser jungen Kolleginnen. Sie ist für die Seite Eins der "Cumhuriyet" verantwortlich. Am Tag nach Yücels Freilassung war der Aufmacher klar: Das Foto, auf dem er seine Frau vor den Mauern des Hochsicherheitsgefängnisses Silivri umarmt.
Daneben sind allerdings auch die Fotos der drei türkischen Journalisten, die am selben Tag zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt wurden.
"Es sind schizophrene Zeiten für Journalismus", sagt die selbstbewusste "Cumhuriyet"-Redakteurin. Sie brütet über der Seite Eins für den nächsten Tag – eine Aufgabe mit viel Verantwortung.
"Das ist total schwer, denn unser Chefredakteur ist im Gefängnis. Wäre er da, würde ich ihn fragen: geht das so, oder nicht? Aber jetzt kann ich mich nur noch an internationalen Richtlinien orientieren, an internationalen journalistischen Richtlinien."
Murat Sabacu war der Nachfolger von Can Dündar als Chefredakteur bei der "Cumhuriyet". Er ist seit Herbst 2016 im Gefängnis. Auch ihm wird Terrorpropaganda vorgeworfen, wie so vielen in diesen Tagen. Einen Nachfolger von Sabancu als Chefredakteur gibt es nicht. Oder besser gesagt, Aydin Engin macht das auch noch irgendwie mit.
Natürlich ist das innerhalb der Zeitung zu spüren. Nazan Özcan sitzt erschöpft an ihrem Schreibtisch.
"Es ist einfach zu viel, es ist zu viel, das ist das einzige, was ich sagen kann, es ist zu viel. Denn wir sind nur Journalisten, wir machen unsren Job. Und wie können die Verfassung nicht durchs Schreiben ändern."
Die Angst durchs Schreiben ins Gefängnis zu kommen
Ihre brauen Locken fallen ihr ins Gesicht. Und zwischendurch blitzen ihre Augen kurz durch die große Brille. Dann ahnt man wieviel Lust auf kritische Berichterstattung trotz allem in dieser kleinen Person steckt. Aber es ist eine Gradwanderung – jeden Tag aufs Neue – die Zeitung vor dem Aus zu bewahren und nicht selbst ins Gefängnis zu wandern. Und was wenn doch, wenn sie sie doch irgendwann abholen?
"Ich will mir diese Frage gar nicht stellen. Denn wenn ich mich das jeden Tag fragen würde, könnte ich meinen Job nicht machen. Und ich sag' mir immer, ich bin nicht so wichtig. Ich bin nur eine ganz normale Journalistin. Aber klar- das kann mir auch passieren."
Sie will durchhalten, solange es irgendwie geht:
"Es ist einfach unglaublich anstrengend und bedrückend, aber im selben Moment fühlt es sich auch gut an. Denn Du machst was sehr Wichtiges. Und eines Tages werden junge Journalisten vielleicht sagen: die bei 'Cumhuriyet' haben durchgehalten für unsre Rechte."
Sie hat sich dabei ertappt, wie sie sich selbst zensieren wollte, erzählt sie. Aber das hat sie sich verboten. Gleich geht es in die Redaktionskonferenz. Dann diskutiert sie mit ihren Kollegen, was ins Blatt kommt und wie weit sie diesmal wieder gehen werden.
Ein Deal zwischen türkischer und deutscher Regierung?
Ein Stockwerk darüber schreibt Aydin Engin noch an einer Kolumne. Man hat das Gefühl, Selbstzensur war für ihn nie ein Thema:
"In unserer Verfassung steht ein Satz: ‚Die türkische Republik ist ein Rechtsstaat.‘ Es steht aber nur auf dem Papier."
Es geht um die Entlassung von Deniz Yücel aus der Untersuchungshaft. Engin ärgert sich maßlos über die Umstände. Denn er ist sich sicher, da ist ein Deal zwischen Deutschland und der Türkei gelaufen:
"Ich kenne mein Land. Ich kenne diese Partei. Ich kenne diese Regierung. Die sind fähig zu Verhandlungen wie auf einem türkischen Basar: ‚Es kostet 100 Dollar?' 'Ich gebe zehn Dollar.' 'Nein 80.' 'Ok 40'. 'Einverstanden.' So ist das. Über die Leopard-Panzer gab es auch Verhandlungen."
Aydin Engin vermutet ein Rüstungsgeschäft. Den türkischen Journalisten, die in dem Club in der Istanbuler Innenstadt feiern, geht es ähnlich
"Das ist ja schon lustig, wenn man sich anschaut, dass unser Ministerpräsident nur einen Tag vor der Freilassung in Deutschland war. Da betont er noch, dass die Türkei ein Rechtssaat ist. Aber wir haben doch gesehen, dass Deniz eine Geisel war."
Am Nebentisch sitzen zwei Frauen im Zigarettenqualm. Die eine erzählt, der Mann ihrer Freundin war im Gefängnis, ihr eigener ist noch dort. Er ist der Herausgeber der "Cumhuriyet", Akin Atalay:
"Natürlich freuen wir uns für Deniz. Aber unter unsren Freunden sagen wir auch im Spaß, wir hier haben leider keine Frau Merkel."
"Ich hoffe, alle Journalisten im Gefängnis habe eine Oma wie Merkel."
Scherzt ein Journalist, der zugehört hat. Er lacht.
Deniz Yücel wieder als Korrespondent in die Türkei?
Deniz Yücel hadert selbst mit den Umständen seiner Freilassung. Das macht er noch am selben Abend in einer Videobotschaft deutlich - kritisch wie eh und je, als wäre nichts gewesen. Er vergisst aber auch nicht seine türkischen Kollegen:
"Es bleibt etwas Bitteres zurück. Ich habe meinen Zellennachbar, mit dem ich die letzten zwei Monate zusammen war, zurück gelassen, der nur wegen seiner journalistischen Tätigkeit in Haft sitzt, wie viele andere Journalistinnen und Journalisten, die nichts anderes getan haben, als ihren Beruf auszuüben."
Die türkischen Journalisten in Freiheit feiern an diesem Abend in dem kleinen Istanbuler Club ohne Deniz Yücel. Er hat das Land verlassen. Das Gerichtsverfahren gegen ihn soll im Juni beginnen. Yücel drohen bis zu 18 Jahren Haft. Seine Berufskollegen in der Türkei haben durch seine Entlassung aus der Untersuchungshaft zwar neue Kraft erhalten. Aber die brauchen sie auch am nächsten Morgen wieder für ihre kritischen Berichte und für Forderungen:
"Wir wollen Gerechtigkeit für alle. Denn sie sind alle unschuldig. Hey, wir lieben Deniz. Und wir freuen uns wirklich riesig für ihn."
"Cumhuriyet"-Journalist Aydin Engin kannte Deniz Yücel schon, als er noch ein Kind war. Ihm imponiert, dass Yücel nicht den Mund hält:
"Er ist ein tapferer Journalist. Solche Journalisten brauchen wir. Deshalb will ich Deniz Yücel wieder in der Türkei als Korrespondent sehen. Ich weiß nicht, ob das wieder möglich ist. Irgendwann aber, wird es möglich."
Als er das sagt, ballt er immer wieder die Faust. Sie werden weiter schreiben, sagt er noch, für die Demokratie, für die Meinungsfreiheit und für die Pressefreiheit.