Stabilität in Gefahr
Eigene Versäumnisse und Fehler will der türkische Ministerpräsident Erdogan nicht sehen, meint ARD-Korrespondent Reinhard Baumgarten. Im Syrien-Konflikt habe er sich verspekuliert. Und trotzdem halten viele Türken zu ihm. Sollte er morgen zum Präsidenten gewählt werden, stünden der Türkei schwierige Zeiten bevor.
Auf die Türkei rollt möglicherweise eine neue Flüchtlingswelle zu. Zehntausende Jesiden, Christen und Muslime aus dem Irak könnten schon bald die Grenze ins nördliche Nachbarland überschreiten – auf der Flucht vor religiösen Fanatikern. Es sind schon mehr als eine Million Flüchtlinge aus Syrien in der Türkei. Deren Lage wird immer prekärer.
Ankara tut, was möglich ist. Aber Ankara betreibt nur notdürftige Nothilfe. Immerhin! Ankara tut damit deutlich mehr als Berlin, Brüssel, Paris oder London zusammen. Ankara ist natürlich auch viel näher dran – nicht nur geographisch. Wie kein zweiter ausländischer Staatsmann hat sich Regierungschef Recep Tayyip Erdogan in den Bürgerkrieg in Syrien eingemischt. Laut und mit Nachdruck hat er den Sturz von seinem einstigen Männerfreund Bashar al-Assad gefordert. Laut und deutlich hat sich Erdoğan verspekuliert.
AKP-Regierung sucht Schuld bei anderen
Er hat mit einem schnellen Ende der Gewaltherrschaft Assads gerechnet und er hat dabei auf falsche Verbündete gesetzt. Ohne finanzielle Hilfe der arabischen Golfstaaten wären die islamischen Terrorgruppen in Syrien und Irak nicht zur monströsen Bedrohung für Millionen von Menschen geworden. Der Geist des religiösen Fanatismus in Syrien und dem Irak hat auch dank der Duldung und Förderung durch Ankara die Flasche verlassen.
Nun will es niemand gewesen sein. Die Schuld wird bei anderen gesucht. Über die eigenen Versäumnisse wird nicht weiter reflektiert. Die AKP-Regierung lässt sich nicht in ihre Politik reinreden. Sie gibt sich unfehlbar. Korruption und Vetternwirtschaft? Böswillige Verleumdung politischer Gegner. Proteste gegen die Regierungspolitik? Ausländische Verschwörung. Minenunglück? Höhere Gewalt. Der Mann, der mehr denn je in allen wichtigen politischen und gesellschaftlichen Fragen den Ton angibt, ist Ministerpräsident Erdogan.
Vielen Türken halten Erdogan für Glücksfall
Je länger der heute 60-jährige Erdogan im Rampenlicht steht, umso mehr polarisiert er, umso mehr Macht häuft er an, um so unduldsamer geht er mit Kritik um. Der zurückliegende Wahlkampf hat dafür zahlreiche Belege geliefert. Viele Türken halten Recep Tayyip Erdogan für einen Glücksfall. Er gilt ihnen als starker und entschlossener Führer, der die Türkei wirtschaftlich voranbringt und politisch stark macht.
Recep Tayyip Erdogan hat sich in seinen elf Regierungsjahren erstaunliche Verdienste erworben. Gemessen an einigen Nachbarstaatgen ist sein Land eine Insel der Stabilität. Wie lange noch? Den mörderischen Kriegen in Syrien und im Irak gingen zersetzende Prozesse der gesellschaftlichen Polarisierung und der Marginalisierung bestimmter Bevölkerungsschichten voraus. Die Türkei – daran besteht kein Zweifel – ist davon noch weit entfernt.
Präsident alle Türken?
Aber die Türkei – auch daran besteht kein Zweifel – hätte das Potential für derartige Entwicklungen. Und derjenige, der die Hand am ehesten an der verbalen Eskalationsschraube hat, ist Recep Tayyip Erdogan. Der 60-Jährige schickt sich an, Präsident zu werden. Er werde Präsident aller Türken sein, verspricht er. Wer kann das einem Mann abnehmen, der Gezi-Park-Demonstranten als Terroristen bezeichnet; der Gebildete verhöhnt, in dem er vor Claqueuren dröhnt, er spreche zwar keine vier Fremdsprachen, aber im Gegensatz zu ihnen kenne er den Text der Nationalhymne?
Sollte Recep Tayyip Erdogan den von ihm erhofften deutlichen Sieg im Rennen um die Präsidentschaft einfahren, wird er das als Bestätigung seiner Politik verstehen. Fehler, das erfahren seine nach starker Führerschaft lechzenden Anhänger täglich aufs Neue, machen in der Türkei andere, aber nicht Recep Tayyip Erdogan. Der vermeintlichen Insel der Stabilität drohen unter Präsident Erdogan stürmische Zeiten.